Kulturgeschichte Chinas im Netz (IV): Vier Jahre “Bibliotheca Sinica 2.0″

In loser Folge werden Webseiten präsentiert und rezensiert, die sich mit der Kulturgeschichte Chinas im weitesten Sinne beschäftigen. Vgl.  “Kulturgeschichte Chinas im Netz (I)” , “Kulturgeschichte Chinas im Netz (II)”, “Kulturgeschichte Chinas im Netz (III)”.

Bei der Lektüre und Durchsicht “westlicher” Darstellungen zur Kulturgeschichte Chinas drängt sich der Gedanke auf, den historischen Wurzeln dieser Fremdwahrnehmung, das heißt: der Darstellung der chinesischen Kultur in “westlichen” Publikationen nachzuspüren[1]

Für ältere Publikationen (bis zum Erscheinungsjahr 1939) liefert die “Bibliotheca Sinica 2.0″ – im Dezember 2009 in der derzeitigen Form begonnen und nunmehr mit bisher rund publizierten 2700 Artikeln – dafür die ideale Grundlage. Durch die Sammlung entsprechender Links erleichtert sie den Zugriff auf Digitalisate der “westlichsprachigen” China-Literatur.[2].

Die “alte” Weisheit, dass Digitalisierungsprojekte nur dann wirklich sinnvoll und “nachhaltig” sind, wenn die digitalisierten Bücher anschließend auch gelesen beziehungsweise von der Forschung rezipiert und ausgewertet werden, zeigte sich auch schon bei der Arbeit an “De rebus sinicis”.

Als Beispiel dafür können die dem Beitrag “Das Opfergelände des Himmels und der konfuzianische Staatskult” zu Grunde liegenden Recherchen dienen. Der Gedanke, für die Darstellung der für den konfuzianischen Staatskult dienenden Opfergelände – die vielfach auch als “Altäre” bezeichnet werden – auf J. J. M. de Groot: Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik, des Staatswesens und der Wissenschaften Chinas (1918) – kam mir erst bei der Lektüre einschlägiger Sekundärliteratur.[3].

Eine Fülle weiterer Titel aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mögen in ähnlicher Weise auch und gerade im Zusammenhang mit der Kulturgeschichte Chinas herangezogen werden. Spiegeln die Publikationen jener Zeit (und – von einigen Ausnahmen abgesehen – nicht zuletzt auch die Arbeiten der damaligen Sinologen) zwar das damals vorherrschende sehr negative allgemeine China-Bild wieder, so enthalten Sie dennoch zahlreiche Informationen über die Kultur des zu Ende gehenden beziehungsweise bereits untergegangenen Kaiserreichs wieder. In diesem Sinne wird “De rebus sinicis” auch künftig auf diese Werke zurückgreifen. Das Motto dazu  könnte “Digital verfügbar und daher neu gelesen” lauten!

  1. Zahlreiche Beispiele für ein solches “Nachspüren” bietet Monika Lehner in ihrem Blog “Mind the gap(s)”.
  2. Zu Hintergrund und Geschichte der Bibliotheca Sinica 2.0″ vgl. “Mind the gap(s)”: “Bibliotheca Sinica 2.0.” vom 31.5.2013, publiziert anlässlich der Veröffentlichung des 2500. Artikels.
  3. Im konkreten Fall ein entsprechender Hinweis zum “Altar” des Ackerbaues bzw. zum “Altar des Ersten Landmanns” (Xiannongtan 先農墰): Peter Greiner: “Das Hofzeremoniell der Mandschu-Dynastie.” Palastmuseum Peking. Schätze aus der Verbotenen Stadt  (Frankfurt a.M. 1985) 69 Anm. 6.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/927

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Wie alt ist das “alte” China?

Vermutlich begünstigt durch den Umstand, dass es für China – abgesehen von der chinesischen Praxis der Einteilung der Geschichte in Dynastien – “keine konsensuell gefestigte Periodisierung” [1] gibt, tendieren vor allem (aber keineswegs ausschließlich) populärwissenschaftliche “westliche” Darstellungen dazu, die Geschichte und Kultur Chinas bis zum Ende des Kaiserreiches (1911/12) unter dem Begriff des “alten” China zu subsumieren (analog dazu im Englischen “ancient China”, im Französischen “la Chine ancienne” und im Niederländischen “het oude China”).

Der überaus unscharfe Begriff ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Diskussion um die Anfänge des “modernen China” zu sehen. Gängige Interpretationen in der westlichen China-Historiographie bezeichnen einerseits die Mitte der 1640er Jahre andererseits die Zeit um 1840 (Erster Opiumkrieg) als Beginn des modernen China [2]. China selbst sah Anfang des 20. Jahrhunderts die Übernahme des westlichen Schemas “Altertum – Mittelalter – Neuzeit”:  Der Gelehrte Liang Qichao 梁啟超 (1873-1929) setzte dabei das Altertum (“chinesisches China”) mit der Zeit vor der Reichseinigung durch den Ersten Kaiser (221 v. Chr.) gleich. Als Mittelalter (“asiatisches China”) bezeichnete Liang die rund zwei Jahrtausende von der Reichseinigung bis zum späten 18. Jahrhundert. Die Neuzeit (“China in der Welt”) begann für Liang wohl mit der britischen Gesandtschaft, die 1793 China besuchte. [3]

Die moderne chinesische Geschichtsschreibung, die sich in Manchem an “westlichen” Vorbildern orientierte, lässt die “Alte Geschichte” (gudai shi 古代史) bis zum Jahr 1840 reichen. Der Zeitraum von 1840 bis 1919 (Vierte-Mai-Bewegung) wird als “Neuere Geschichte” (jindai shi 近代史) bezeichnet. Bei den drei Jahrzehnte bis zur Gründung der Volksrepublik China (1949) spricht man von der “Gegenwartsgeschichte” (xiandai shi 現代史), alles nach 1949 wird unter “Zeitgeschichte” (dangdai shi 當代史) zusammengefasst. [4]

Könnte die Anwendung des Begriffs “altes China” für die Beschäftigung mit der Geschichte Chinas bis in die Zeit der Qin-Dynastie (221-206 v. Chr.) gerechtfertigt sein, so erscheint es jedoch ratsam, in diesem Fall – in Analogie zur “europäischen Antike” – von der “chinesischen Antike” zu sprechen. [5]

Schon ein Blick auf Bücher, die “Das alte China” im Titel führen, macht deutlich, wie problematisch dessen Verwendung im Grunde genommen ist: Darstellungen zur Kunst und Kultur Chinas bis zur Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) [6] sind ebenso darunter, wie an Artefakten aus der Zeit zwischen 221 v. Chr. und 1279 n. Chr. (“von der Gründung des Kaiserreichs [...] bis zum Verlust der Souveränität [...] und der Eingliederung in das mongolische Imperium”) festgemachte Einblicke in verschiedene Aspekte der Kulturgeschichte Chinas [7] und überblicksartige Darstellungen der Geschichte Chinas bis 1840 [8] beziehungsweise bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts [9]

Eine Begründung für die Zäsur in der Mitte des 19. Jahrhunderts findet sich in einer Besprechung der von Bodo Wiethoff vorgelegten Bände Grundzüge der älteren chinesischen Geschichte (1971) und Grundzüge der neueren chinesischen Geschichte:

“Ungeachtet der Tatsache, daß es in der älteren Geschichte Verbindungen und Berührungspunkte zwischen China und dem Abendland gab und daß China zahlreiche Impulse von außen empfing, vermochten diese niemals zu Triebkräften der chinesischen Geschichte zu werden. China schöpfte gleichsam auch sich selbst, es bezog seine Leitideen aus der eigenen Tradition. Demgegenüber ist die moderne chinesische Geschichte nicht mehr isoliert vom übrigen Weltgeschehen zu betrachten, sie ist in den weltpolitischen Rahmen einbezogen.” [10]

 

[1] Jürgen Osterhammel: “Gesellschaftsgeschichtliche Parameter chinesischer Modernität” Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 85. [nach oben]

[2] Immanuel C. Y. Hsü: The Rise of Modern China (New York, 5. Aufl. 1995) 4-7 (“When Does Modern China Begin?”) [nach oben]

[3] Achim Mittag: “Die Konstruktion der Neuzeit in China. Selbstvergewisserung und die Suche nach Anschluß an die moderne Staatengesellschaft”. In: Renate Dürr, Gisela Engel, Johannes Süßmann (Hrsg.): Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs (Historische Zeitschrift, Beiheft 35; München 2003) 148. [nach oben]

[4] Endymion Wilkinson: Chinese History. A Manual. Revised and enlarged (Cambridge, MA 2000) 6. [nach oben]

[5] Maria H. Dettenhofer: “Europäische Antike und chinesische Antike im Vergleich. Politische und gesellschaftliche Strukturen im Römischen Reich und im China der Han-Dynastie.” In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Themenheft 02/2007: Bayern und China – Bilaterale Beziehungen und Kulturtransfer. [nach oben]

[6] Eleanor Consten: Das Alte China (S.l.: Phaidon Verlag, Akademische/Athenaion, Sammlung Kilpper, [s.a., ca. 1966]).[nach oben]

[7] Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008), zum Zitat vgl. ebd., S. 10. [nach oben]

[8] Helwig Schmidt Glintzer: Das alte China (München 1995). [nach oben]

[9] Monique Nagel-Angermann: Das alte China (Stuttgart 2007). [nach oben]

[10] Brunhild Staiger (Rez.): Bodo Wiethoff: Grundzüge der älteren chinesischen Geschichte (1971), ders.: Grundzüge der neueren chinesischen Geschichte (1977). In: HZ 226 (1978) 655. [nach oben]

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/84

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