Zur Kennzeichnungspflicht von PolizistInnen

Aus aktuellem, gleichermaßen traurigen und zornerregendem Anlass - die Wiener Polizei misshandelte letzten Samstag Personen, die gegen eine Nazidemo protestierten, woraufhin eine Schwangere ihr Kind verlor [Edit: letztere, u.a. in Printmedien veröffentlichte Information scheint unrichtig zu sein, was aber an der grundsätzlichen Problematik nichts ändert] - veröffentliche ich hier meinen zuletzt im Augustin erschienenen Artikel, aus dem hervorgeht, dass die um 1770 in Wien tätigen PolitikerInnen weiter waren als die heutige Innenministerin:

"Wer geschlagen hat, ist unklar geblieben."
Kleine Geschichte der Nummerierung von Polizist_innen und Gefangenen


Die Debatte um die Einführung einer Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen, sei es mittels Namensschilder, Kenntlichmachung der Dienstnummer oder Anbringen einer für die Dauer eines Einsatzes vergebenen temporären Nummer, ist insbesondere in manchen deutschen Bundesländern bis heute aktuell. Welche Folgen eine mangelnde Kennzeichnung haben kann, berichtete die "tageszeitung" im April 2013 von einem in Berlin abgehaltenen Gerichtsprozess: Zwei Jahre zuvor, im Zuge der alljährlichen Demonstration zum 1. Mai, hatten in der deutschen Hauptstadt uniformierte Polizisten Kollegen in Zivil verprügelt; einer der Zivilpolizisten verklagte darauf die Uniformträger, doch wurden diese freigesprochen, weil sie gemäß Einschätzung des Gerichts nicht eindeutig zu identifizieren waren. "Der Vorfall liegt zwei Jahre zurück, aber die Zivilpolizisten sind immer noch spürbar empört. Allein, für eine Verurteilung reicht es nicht. Richterin Andrea Wilms sagt, sie habe keinen Zweifel daran, dass die richtige Einheit identifiziert wurde. Aber wer geschlagen hat -der zweite, dritte, oder vierte Beamte der Reihe -, das ist unklar geblieben." (taz, 9.4.2013)

Im Falle unbilliger Beleidigung

Nur wenigen ist bekannt, dass Maßnahmen zur Verhinderung von derlei Polizeiübergriffen schon im Wien des 18. Jahrhunderts eingeführt wurden. So registrierte der Aufklärer Friedrich Nicolai, als er 1781 die habsburgische Metropole bereiste, unter anderem die circa 300 Polizisten ("Polizeisoldaten"): "Jeder hat eine andere Nummer an dem Hute, damit er, wenn er sich etwa vergehen sollte, kann erkannt und verklagt werden." Der Schriftsteller Johann Pezzl korrigierte ihn darauf ein paar Jahre später, dass nicht die Hüte der Polizeisoldaten, sondern "deren Patrontaschen numeriert sind, damit man sie bei ihrer Stelle verklagen könne, wofern man unbilligerweise von ihnen beleidigt würde." Tatsächlich war diese Nummerierung in Wien bereits per Patent vom 2. März 1776 eingeführt worden: "Die ganze Wachmannschaft [sollte] auf ihren Patrontaschen, die sie darum in Dienstverrichtungen beständig umhaben müssen, mit ausnehmbaren messingenen Nummern unterschieden" werden, was explizit darum geschah, "damit das Beschwerdeführen vielleicht dadurch, weil der Mann von der Wache dem Beleidigten unbekannt wäre, nicht erschwert, oder unmöglich gemacht werde" und "daß dergestalt genug sein wird, anzuzeigen, man sei von dem sovielten Numero beleidiget worden."

Es war kein Zufall, dass gerade im 18. Jahrhundert ein solches Mittel eingesetzt wurde, um die zur Kontrolle der Bevölkerung eingesetzten Polizisten selbst zu kontrollieren: Die Behörden und Gelehrten dieses von Ordnung und Klassifikation so faszinierten Jahrhunderts waren geradezu besessen von der Kulturtechnik der Nummerierung. So selbstverständlich erscheint uns letztere, dass oft gar nicht in den Blick kommt, dass es sich dabei um eine Technik handelt, die erst einmal angewandt und durchgesetzt werden musste. Die Nummern sollten der Identifizierung und Verwaltung der von ihnen bezeichneten Objekte und Personen dienen, Häuser, Spitalsbetten, Fiaker, Kunstgegenstände, Regimenter, Laternen und selbst Töne wurden nummeriert, wenn sich auch im letzteren Fall derlei Ziffernnotationen nicht durchsetzen konnten.

Von der Haftnummer zum Modelabel

Auch manchen Menschen wurden Nummern zu deren besseren Kontrolle verpasst, den französischen Straßenhändler_ innen genauso wie den Lastträger_innen in den Häfen, in Wien wiederum wurden spätestens ab 1773 die Postbot_innen der sogenannten "Kleinen Post" - der Stadtpost -nummeriert. Dass kurz darauf auch die Polizisten auf diese Weise identifiziert wurden, mag mit dem aufgeklärt-etatistischen Klima der "Ersten Wiener Moderne" zusammenhängen, das vor Kritik an Amtsträger_innen nicht Halt machte; dazu kam noch, dass die obendrein sehr schlecht bezahlten Angehörigen der verschiedenen Wiener Sicherheitsorgane als besonders verrufen galten und wiederholt Anlass zur Klage boten.

Als Pendant zu den Nummern der Polizist_innen können die an Gefangenen vergebenen Sträflingsnummern betrachtet werden; Victor Hugo drohte zum Beispiel 1851 im Zuge der Proteste gegen den Staatsstreich des Louis Bonaparte einem gegnerischen General, der nicht bereit war, seinen Namen preiszugeben, mit den Worten: "Gleichviel, Ihren Namen als General brauche ich nicht zu wissen, aber ich werde Ihre Nummer als Sträfling wissen."

Eine verblüffende Wandlung sollte die Gefangenennummer des jüngst verstorbenen Nelson Mandela erfahren: Dieser stellte seine auf der Gefängnisinsel Robben Island zugewiesene Sträflingsnummer 46664 der wohltätigen, unter anderem gegen die Verbreitung von Aids kämpfenden "Nelson Mandela Foundation" zur Verfügung; diese wiederum vergab eine Lizenz zu deren Verwendung an das südafrikanische Unternehmen "Seardel", das die Nummer daraufhin zur Bezeichnung einer Modelinie - 466/64 - verwendete; womit der wohl nicht allzu häufige Fall eintrat, dass eine Gefangenennummer zu einem Markennamen wurde.

Zuerst veröffentlicht im Augustin, Nr. 363, 19.3.2014, S. 14.

Der Gesetzestext von 1776 ist übrigens hier nachzulesen: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=tgb&datum=1780&page=632&size=45

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/876868336/

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Knisternde Clouds aus Papiertischdecken und debattierende Tischkarusselle


Eine Reportage über das erste WeberWorldCafé

Von Helena Kaschel und Luisa Pischtschan
Fotos: Ann-Kathrin Sass

Im Bunker-Chic des Pantheon Casinos in Bonn ist das Licht gedämpft. Gläser klirren, Namensschilder werden angebracht, Neugier liegt in der Luft. Deutsche und englische Satzfetzen dringen durch das Stimmengewirr, im Hintergrund knistern weiße Papiertischdecken. Dann ein Gong, das Zeichen für die etwa 50 Teilnehmenden, ihre Tische zu verlassen und an einen weiteren zu wechseln. Wenige Minuten später haben alle einen neuen Sitzplatz gefunden. Die nächste Runde beginnt.

Mit dem WeberWorldCafé, das eine Workshopmethode zweier US-Unternehmensberater zum Vorbild hat, führt die Max Weber Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Forum Transregionale Studien ein neues Format in die Reihe ihrer Veranstaltungen ein. Diese Form der Wissenschaftskommunikation soll laut ihren Prinzipien allen Teilnehmenden einen Gesprächsraum eröffnen und zugleich den kreativen Austausch fördern, was an den Habermas‘schen Diskursbegriff erinnert. „Es geht darum, einen hierarchiefreien Diskurs zu schaffen, in dem die Erfahrungen, Kenntnisse und Meinungen aller Beteiligten relevant sind”, sagt Gesche Schifferdecker, die das erste WeberWorldCafé organisiert hat.


Gesche Schifferdecker zum Konzept des WWC

Zweimal im Jahr soll dieses Event nun stattfinden, abwechselnd in Berlin und Bonn. Das erste WeberWorldCafé trägt den Titel „Bürger, Blogger, Botschafter: Diplomatie im 21. Jahrhundert“. Ein ambitioniertes, höchst aktuelles Thema, das binnen eines Abends diskutiert werden will. DSC_0219Hinter der Idee steckt ein straffer Zeitplan: Insgesamt debattieren neun ExpertInnen aus Wissenschaft, Politik und Medien an neun Tischen mit interessierten TeilnehmerInnen auf Augenhöhe über verschiedene Aspekte der Diplomatie im digitalen Zeitalter. In vier aufeinander folgenden Gesprächsrunden zu je 20 Minuten werden an verschiedenen Tischen Gedanken und Ergebnisse auf Tischdecken festgehalten. Besonders lohnend am Konzept des WorldCafés ist die Interaktion zwischen allen Beteiligten: Die TeilnehmerInnen sind sowohl Gäste als auch Gestalter der Veranstaltung. So entsteht ein transsektoraler Dialog, bei dem Laien von Expertenwissen der TischgastgeberInnen profitieren, und diese lernen wiederum, ihre Thesen außerhalb der Fachwelt zu kommunizieren.

Da diese Art von Wissenschaftskommunikation vielen der Beteiligten neu ist, weiß niemand so richtig, was ihn oder sie erwartet. So ist speziell in der ersten Runde zu beobachten, wie gespannte Gesichter die Kommentare des Sitznachbarn oder Gegenübers verfolgen und alle Beiträge von konzentrierten Blicken aufgenommen werden. Jeder Experte und jede Expertin gestaltet die Einleitung in das 20-minütige Gespräch anders. Matthias Uhl etwa, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau, markiert den Beginn der Diskussionen mit einer knappen Vorstellungsrunde aller Gäste an seinem Tisch. Hier sind die Papiertischdecken auch schon mit schwarzer und grüner Farbe beschrieben. „Propaganda”, steht auf der einen, „Diplomatie” auf der anderen Seite, verschiedene andere Worten werden sich im Laufe der Veranstaltung noch dazu gesellen.

Am Tisch von Carola Richter geht es um die Rolle sozialer Medien in politischen Diskursen, insbesondere in autoritären Staaten. Die Politikwissenschaftlerin von der FU Berlin warnt davor, den Einfluss sozialer Netzwerke auf reale politische Machtstrukturen zu überschätzen. Schnell entwickelt sich ein Gespräch über die Frage, welche Risiken mit einer zunehmenden Verlagerung politischer Diskurse ins Internet verbunden sind – und wie realistisch solche Online-Aktivitäten eine komplexe Gesellschaft mit vielfältigen Meinungen abbilden. Theoretisch habe jede Person mit Internetanschluss Zugang zu sozialen Netzwerken, meint Carola Richter. Praktisch seien trotzdem nur bestimmte Teilgruppen dort vertreten, zum Beispiel junge, urbane Menschen. Am Tisch sitzt eine ukrainische Studentin, die einen Blog über die aktuellen politischen Entwicklungen in Ihrer Heimat schreibt. Das Interesse an den Erfahrungen der jungen Frau ist bei allen TeilnehmerInnen groß, auch bei Carola Richter. Plötzlich wird die Bloggerin zur Expertin und die eigentliche Expertin zur interessierten Teilnehmerin. So einen Rollentausch wird man an diesem Abend noch häufig beobachten.

 Carola Richter über ihre Ausgangsthese

Tobias Bürger startet seine erste WeberWorldCafé-Runde mit einem Brainstorming aller Beteiligten am Tisch. Der Promovent forscht derzeit für seine Dissertation zum Thema Stiftungen und soziale Netzwerke an der Northumbria University in Newcastle. Während der vier Runden an seinem Tisch steht besonders die Verselbstständigung der Öffentlichkeit im Vordergrund: Einerseits kann dadurch eine schnelle Themenfindung gewährleistet werden, zum anderen muss aber auch durch die zeitliche Komponente, die eine Herausforderung besonders für die klassische Diplomatie darstellt, eine schnellere Koordination sichergestellt werden. „Zukünftig werden wir vermutlich mehrere Ebenen der Öffentlichkeit in den diplomatischen Beziehungen haben, die bedient werden müssen. Denn neben der klassischen Diplomatie werden durch die sozialen Netzwerke viele Informationen verbreitet, die die BürgerInnen nicht veritabel einschätzen können”, so Bürger. An dieser Stelle sei es für Länder und Institutionen und ihre jeweiligen diplomatischen Akteure notwendig, konkrete Hinweise für Interpretationen zu geben – insbesondere in der digitalen Welt.

Die folgenden Gesprächsrunden motivieren zum Denken: Wenn man gerade nicht diskutiert, lehnt man sich zurück, hört zu, beobachtet und schreibt mit. Gleichzeitig hört man das Rauschen der Gespräche im Raum. Durch den Austausch der eigenen Eindrücke mit denen der Mitmenschen am Tisch wird ein konzentrierter Kommunikationsraum geschaffen. Dabei stehen während des WeberWorldCafés bisweilen auch gegenwärtige Vorgänge, etwa in der Ukraine oder der Türkei, im Vordergrund – und es wird überlegt, wie wir aus außenpolitischer oder zivilgesellschaftlicher Sicht damit umgehen können. Die verschiedenen politischen Ansichten wurden allerdings manchmal Gegenstand der Diskussionen an den Tischen, was zum Teil vom thematischen Kern des World Cafés ablenkte. Für diesen Fall wäre es überlegenswert, neben den ExpertInnen eine weitere Person für die Moderation der Tische zu engagieren, wenngleich politische Diskussionen in diesem Zusammenhang unvermeidbar und auch gewinnbringend sein können. Auch wenn keiner der TischgastgeberInnen – unter anderem aufgrund der unklaren Informations- als auch Datenlage in diesen komplexen Konflikten – eine abschließende Bewertung vornehmen möchte, fühlen sich doch die meisten Gäste umfangreich informiert. Teilnehmerin Sara Motalebi, die derzeit ein Masterstudium bei der Deutschen Welle absolviert, gefällt besonders die Dynamik der Veranstaltung. „Die face-to-face Kommunikation und die beständige Bewegung zwischen den Runden hat mir gefallen. Diplomatie beinhaltet so viel mehr als einen Staatsbesuch”, so die 31-Jährige. Für alle Fragen, die offen geblieben sind, gilt schlussendlich der von Tischgastgeber Mohamed Elshahed geprägte Satz: „Get on the Internet and get on the information!”

DSC01621Am Ende des ersten WeberWorldCafés werden die neun einzelnen Tischdecken zu einer „Deckencloud” auf der Bühne des Pantheon Casinos gemeinsam aufgehängt. Einige ExpertInnen werden in einer letzten kurzen Runde von den ModeratorInnen befragt, welche Aspekte an ihren Tischen besonders diskutiert wurden. Durch die knapp gehaltenen Statements konnte leider kein präzises Abbild über die einzelnen Diskussionsaspekte des World Cafés entstehen – die Deckencloud wäre in diesem Fall ein idealer Anschlusspunkt gewesen, um eine gemeinsame Diskussionsrunde mit einigen ExpertInnen und Teilnehmenden zu initiieren und einen Überblick über einzelne Perspektiven zu gewinnen.

Im September 2014 ist in Berlin das zweite WeberWorldCafé geplant. Es wird um transregionale Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg, Egodokumente und (europäische) Erinnerungskultur gehen. Um der beständigen Beschleunigung von Ereignissen und Informationsverbreitung, die auch im Digitalen stattfindet und die durchaus kritisch bewertet werden muss, entgegen zu wirken, eignet sich die Methode des World Cafés unserer Meinung nach besonders gut: Die Menschen agieren hier im persönlichen Dialog miteinander, profitieren vom Wissen und den Perspektiven der Anderen, woraus ein geschützter und zugleich offener Raum entsteht, in dem jede und jeder die Möglichkeit hat, an Diskursen aus Wissenschaft und politischer, kultureller sowie künstlerischer Praxis zu partizipieren.

Quelle: http://wwc.hypotheses.org/187

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Methodenworkshop: Bilder als wissenschaftliche Quelle

Erste Seite des Hochzeitsalbums einer jungen Frau aus Dakar, 2004

In vielen historischen, kultur-, medien- und politikwissenschaftlichen oder ethnologischen Forschungsprojekten besteht der Wunsch und nicht zuletzt auch die Notwendigkeit, neben schriftlichen Quellen auch Bilder als Quellen gewinnbringend in das Forschungsvorhaben einzubringen. Trotz der bereits erschienenen methodischen Hilfestellungen zeigt sich außerhalb der kunst- und bildwissenschaftlichen Praxis eine gewisse Unsicherheit.[1] Innerhalb der unterschiedlichen Forschungsvorhaben und den davon abhängigen, spezifischen Zugängen zu Bildquellen ist die Frage, welche Methoden und Analyseverfahren im Kontext der eigenen Fragestellungen eingesetzt werden können, nach wie vor präsent.

Von dieser Schwierigkeit im praktischen Umgang mit Bildern – seien es Gemälde, Grafiken, Fotografien, Comics, Logos oder Videobilder – ausgehend, entstand auf Initiative von Daniela Fleiß in Zusammenarbeit mit dem Doktorandenkolleg Locating Media im Rahmen der Nachwuchsförderung an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen die Idee eines Methodenworkshops, der sich konkret und praktisch mit Bildern als wissenschaftliche Quelle beschäftigen sollte. Ziel der eintägigen Veranstaltung, an der neben den Organisatorinnen und den eingeladenen ReferentInnen vorwiegend DoktorandInnen teilnahmen, war das Zusammentragen konkreter methodischer Lösungsansätze sowie die Reflexion bereits vorhandener Erkenntnisse im wissenschaftlichen Umgang mit Bildquellen.

In den einführenden Grußworten von ANGELA SCHWARZ (Siegen), Prodekanin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs, GABRIELE SCHABACHER (Siegen), wissenschaftliche Koordinatorin des Graduiertenkollegs, und DANIELA FLEIß (Siegen), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, wurde nochmals die Notwendigkeit einer Diskussion über die zur Verfügung stehenden Methoden und deren Anwendung und Brauchbarkeit deutlich.

Die drei Impulsreferate, die den ersten Teil des Workshops gestalteten, stellten bereits erprobte Methoden vor und zur Diskussion. In Vertretung von JENS JÄGER (Köln), der persönlich nicht anwesend sein konnte, las Angela Schwarz dessen Vortrag Kein Bild ohne Kontext. Oder: Gibt es kontextunabhängige Bedeutungen? vor, in dem fotografische Bilder im Mittelpunkt standen. Sein Ausgangspunkt war es, auf Probleme, die sich bei der Arbeit mit fotografischen Quellen ergeben können, aufmerksam zu machen und konkrete Lösungsansätze vorzustellen. So besteht nach Jäger die Schwierigkeit weniger im Umgang mit sogenannten Ikonen, zu denen die wichtigsten Informationen vorliegen, als vielmehr im Umgang mit denjenigen Fotografien, deren Entstehungskontext und Rezeptionsbedingungen nicht bekannt sind. Für die Bearbeitung solcher Bildquellen schlug Jäger vor, sie als Teil des Narrativs zu untersuchen, in welches sie eingebunden sind. Auch wenn jegliche Informationen über den Bildträger hinaus verloren gegangen sind, so existiert doch das Bildobjekt selbst, das auf seine technische Herstellung und ästhetische Erscheinung hin befragt werden kann. Insbesondere letztere folgt Konventionen, die Aufschlüsse über die Entstehungszeit oder die Funktion des Bildes eröffnen können. Bereits diese Informationen lassen eine kritische Quellenanalyse zu. Dabei, so Jäger schließlich, dürften Bildquellen nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen stets in Beziehung zu anderen Quellen – auch unterschiedlicher Art – gesetzt werden. Auf diese Weise verneinte er die eingangs gestellte Frage nach der Existenz einer kontextunabhängigen Bedeutung: Denn auch wenn über die Fotografien selbst keine konkreten Informationen vorliegen, so können über ihre Materialität und Erscheinung Rückschlüsse auf ihren Entstehungskontext gezogen werden. Auf diese Weise bleibt kaum eine Bildquelle kontextlos.

Daran schloss der Vortrag MARTIN KNAUERS (Münster) auch inhaltlich an, indem er exemplarisch an einem Bildtypus aufzeigte, wie der von Jäger angesprochene Kontext und dessen Erschließung rekonstruiert werden könne. Knauer spannte dabei den Bogen vom Herrscherbildnis über aktuelle politische Porträts hin zu einer besonderen Form des gegenwärtigen Selbstporträts: dem Selfie, das in jüngster Zeit über soziale Internetplattformen eine wachsende Verbreitung findet. Knauer führte vor Augen, wie sich dieses an die Darstellungskonventionen des traditionellen Bildtypus anlehnt. Als Beispiele dienten hier Herrscherbildnisse und aktuelle Pressebilder Putins, die ebenfalls durch das Zurückgreifen auf bereits bestehende Repräsentationstraditionen nicht zuletzt auch eine spezifische Rezeption auslösen. In allen drei Beispielen bestätigten sich formale Parallelen in der (Selbst-)Darstellung. Das Selfie gibt der Gattung Porträt eine neue Relevanz, die nicht zuletzt auch ein wissenschaftliches Potenzial bereithält. Doch wie kann methodisch mit diesen Bildern gearbeitet werden? Für eine erste Annäherung empfahl Knauer einen assoziativen Umgang, der schließlich um traditionelle Fragestellungen ergänzt werden müsse, um die Tradition, die Funktion und den Gebrauch dieser Bilder erschließen zu können.

Den Ausgangspunkt des dritten Vortrags von ANDREAS ZEISING (Siegen) bildete schließlich die Frage: Was macht die Kunstgeschichte mit Bildern? So verdeutlichte Zeising, dass sich die Kunstgeschichte zwar nicht nur mit Bildern beschäftige, der Umgang mit diesen jedoch eine Kernkompetenz des Fachs darstelle. Folglich würden sich auch die Methoden der bildwissenschaftlichen Anschauung aus der Kunstgeschichte heraus entwickeln, da auch Bilder außerhalb des klassischen Bereichs der Kunst auf ihre Bildlichkeit hin untersucht werden müssten. Hier lieferten die Methoden, die innerhalb der Kunstgeschichte entwickelt worden seien, ein wertvolles Instrumentarium, das von den Bildern aus denke und nach deren Funktionsweisen frage. Drei von Zeising abschließend vorgestellte Methoden – Rezeptionsästhetik, (politische) Ikonografie und Interpiktorialität – könnten sich schließlich auch für eine Bildanalyse außerhalb der kunsthistorischen Forschung eignen.

Richard Caton Woodville: Eine Warnung, in: Das Buch für alle, Jg. 33, Heft 19 (1897), S. 453.

Richard Caton Woodville, Eine Warnung, in: Das Buch für alle, Jg. 33, Heft 19 (1897), S. 453.
Aus dem Promotionsprojekt „The Gift of History: Geschichtspopularisierung transnational in britischen und deutschen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts“ (Arbeitstitel)
von Tobias Scheidt, Universität Siegen

Der zweite Teil des Workshops diente dazu, in Kleingruppen methodische Schwierigkeiten an konkreten Einzelbeispielen zu diskutieren. Im Vorfeld waren die TeilnehmerInnen dazu aufgefordert worden, Bildbeispiele mitzubringen, um so die im jeweiligen Forschungsvorhaben auftretenden methodischen Schwierigkeiten zu veranschaulichen. In der gemeinsamen Gruppendiskussion wurde schließlich an potenziellen Lösungen gearbeitet. In der Gruppe, die von Martin Knauer angeleitet wurde, fanden sich die Projekte zusammen, die sich zeitlich vor 1900 orientieren. Dabei standen Druckgrafiken und Fotografien vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert zur Diskussion. Thematisch reichte das Spektrum der zu behandelnden Bilder von Illustrationen in historischen Lehrbüchern und der illustrierten Presse bis hin zu kolonialen sowie wissenschaftlichen Fotografien und Ausstellungsaufnahmen. In der zweiten, von Andreas Zeising moderierten Gruppe, wurden Bildquellen aus dem 20. und 21. Jahrhundert präsentiert und besprochen. Diese stammen aus Forschungsprojekten zur Umweltbewegung, zur Selbstpräsentation von Militärfirmen, zu Medienpraktiken im Kontext der Migration, zum Kalten Krieg in Computerspielen, zur Fabrik als touristischer Ort um 1900 und zur Straße als Massenmedium.

Bei der Präsentation und Diskussion der Fallbeispiele kristallisierten sich trotz der Bandbreite an Themen und Quellen in beiden Gruppen ähnliche Fragen und Schwierigkeiten heraus. So wurde diskutiert, wie aus einem großen Bildkorpus eine repräsentative, aussagekräftige Auswahl an Einzelbildern getroffen werden kann, die sich für eine detaillierte Analyse eignet. Dabei wurde der Vorschlag eingebracht, den Korpus in verschiedene Kategorien, die abhängig vom jeweiligen Bildkorpus ggf. selbst generiert werden müssen, zu unterteilen, um festzustellen, wie repräsentativ ein Einzelbild für den gesamten Bildbestand ist. Schließlich könnten sowohl typische wie auch untypische Bilder zur genaueren Behandlung ausgewählt werden, um einen Gesamteindruck des Bestands zu garantieren. Dabei wurde eine Auswahl und Kombination möglichst verschiedener Bildmedien, sofern diese innerhalb eines Themas relevant sind, gutgeheißen.

Mehrfach kam darüber hinaus die Problematik zur Sprache, über nur wenige Zusatzinformationen zu den Bildern zu verfügen. Sowohl bei wissenschaftlichen Fotografien wie auch bei Kolonialaufnahmen sind Entstehungsbedingungen und Urheber der Aufnahmen häufig unbekannt. Hierbei stellten sich die Fragen, wie diese Bilder behandelt werden können und welche Informationen dennoch rekonstruierbar sind. Auch der Umgang mit filmischen Bildern sowie die Rolle und Bedeutung eines Filmstills in der Analyse der narrativen Struktur wurden diskutiert. In den einzelnen Diskussionen wurden dabei die in den Impulsreferaten vorgeschlagenen Methoden und Lösungsansätze nochmals aufgegriffen. Die von Jäger betonte Notwendigkeit, stets den Kontext mitzudenken, in dem die Bilder eingebettet sind und der sich in zeitgenössischen Bildwelten, Bildpräsenzen und Bildpraktiken äußert, wurde bekräftigt. Auch die von Zeising vorgestellten Methoden erwiesen sich als hilfreich.

Erste Seite des Hochzeitsalbums einer jungen Frau aus Dakar, 2004

Erste Seite des Hochzeitsalbums einer jungen Frau aus Dakar, 2004.
Aus dem Promotionsprojekt „Medien, Geschlecht und Generationen: translokale Vernetzungen und mediale Räume von Senegales_innen in Berlin und Dakar“ von Simone Pfeiffer, Universität Siegen

Nach der Gruppenarbeit kamen abschließend nochmals alle TeilnehmerInnen zusammen, um die Ergebnisse der Gruppendiskussionen zu präsentieren. Insgesamt stellte sich heraus, dass für die Arbeit an und mit Bildern kein Patentrezept geschrieben werden kann. Abhängig von der Fragestellung nehmen Bilder als Quelle unterschiedliche Relevanzen ein und verlangen je nach Disziplin, Quantität und Qualität individuelle Methoden. So können nicht nur bereits existierende Herangehensweisen helfen, sondern Untersuchungsmöglichkeiten müssen oftmals gänzlich neu gedacht werden. Darin liegt zum einen eine Schwierigkeit, zum anderen aber auch ein Gewinn für die historische Bildforschung.

Als Fazit wurde empfohlen, die Bilder in ihrer Materialität und historischen Dimension zu behandeln sowie stets deren Herstellungs- und Verbreitungsbedingungen zu berücksichtigen. Erst in dieser Kombination kann eine dem Bild gerechte und für das Forschungsvorhaben gewinnbringende Analyse erfolgen. Auch die Kombination mit anderen Quellen wurde nochmals betont, in deren Verbund das Bild zwar eine eigene, jedoch nicht isolierte Rolle einnehmen müsse. Abschließend wurde dazu ermutigt, ergebnisoffen an Bilder heranzutreten und nicht eine ungeprüfte These auf das Bild anzuwenden, wodurch andere Deutungsmöglichkeiten von vornherein ausgeschlossen würden.

Insgesamt kann auf einen sowohl in seinem Format, seiner Struktur wie auch seiner inhaltlichen Diskussion sehr gelungenen Workshop zurückgeblickt werden. Die große Bandbreite an fachlichen Disziplinen, unterschiedlichsten Bildtypen und Forschungsthemen bestätigte, welch hoher Stellenwert dem Bild als wissenschaftlicher Quelle zugeschrieben werden muss und dass die Etablierung eines sicheren und selbstverständlichen Umgangs mit diesen ein wichtiges Vorhaben ist.

 

[1] Zur Einführung in die historische Bildforschung siehe u.a.: Martina Heßler, Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der frühen Neuzeit, München 2006; Jens Jäger, Photographie. Bilder der Neuzeit. Einführung in die historische Bildforschung, Tübingen 2000; Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M. 2009; Gerhard Paul, BilderMACHT. Studien zur „Visual History“ des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013; Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006.

 

Siehe auch den Tagungsbericht von Tobias Scheid: Bilder als wissenschafliche Quelle. Interdisziplinärer Methodenworkshop auf H-Soz-u-Kult vom 30.6.2014.

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/05/19/methodenworkshop-bilder-als-wissenschaftliche-quelle/

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Kuriositäten aus den 1950er Jahren: Die Leugnung der Zwölftontechnik

Bei meiner Beschäftigung mit Quellen aus dem musikästhetischen Diskurs der Nachkriegszeit stoße ich immer wieder auf Texte, die mir aus heutiger Perspektive sonderbar erscheinen. Sonderbar, weil etwas angezweifelt wird, das heute als selbstverständlich gilt. So war ich überrascht zu lesen, wie Heinrich Schnippering in der Zeitschrift Melos im Jahre 1950 die These aufstellt, dass es die Zwölftontechnik gar nicht gebe und dass sie im Grunde nur die vereinfachte Notation einer chromatisch gesteigerten Musik sei, die in der Tradition der Romantik stehe. Es mag verwundern, dass diese Aussage aus dem Jahre 1950 stammt, also knapp 30 Jahre, nachdem Schönberg seine ersten zwölftönigen Stücke schrieb. Das liegt daran, dass Zwölftonkompositionen als vermeintlich „entartete Musik“ während der Nazi-Diktatur von der Bildfläche der deutschen Musikszene verschwanden und erst nach 1945 wieder zu einem aktuellen Thema wurden: Auf der Suche nach Orientierung und neuen Vorbildern nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Komponieren mit Zwölftonreihen als möglicher Anknüpfungspunkt, da es – im Gegensatz zur deutsch-österreichischen romantischen Musiktradition – als politisch unbelastet angesehen wurde.

In seinem Aufsatz Von der Logik der Zwölftonmusik geht Schnippering der Frage nach, ob die Zwölftonmusik mit einer Vereinfachung der Notation zusammenhängt. Hier zunächst ein kurzes Beispiel für eine solche Vereinfachung: Ein Komponist schreibt die Note c statt des von ihm gemeinten his, d.h. er nimmt eine sogenannte enharmonische Verwechslung vor, um den Notentext besser lesbar zu machen. Um nun einen Zusammenhang zwischen Zwölftonmusik und Notationsart nachzuweisen, macht sich Schnippering folgende Lesart der Musikgeschichte zunutze: Die Musik habe im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer mehr an Chromatik zugenommen – zur Intensivierung und Steigerung des Ausdrucks. Als das „Gefühl“ nachließ, ein tonales Zentrum haben zu müssen, wurde es möglich, sich einer praktischen Notationsweise zu bedienen, „ohne sich in der freizügigsten Vermischung enharmonischer Töne Beschränkungen auferlegen zu müssen.“1 Diese Freiheit, enharmonische Töne nach Belieben zu setzen, habe letztlich zur Atonalität und Zwölftonmusik geführt.

„In Wirklichkeit“, so schreibt Schnippering, „lebt auch die Zwölftonmusik von der durch die romantische Musik erzeugten Spannungschromatik. Lediglich die Notierungsweise verschleiert diese latente Spannungsintensität, die beim Hören unverkennbar in die Erscheinung tritt.“2 Denn auch die Hörerfahrung von dodekaphonen Werken zeige, „daß praktisch zwar tonale Kadenzen vermieden, gleichwohl die Klangmöglichkeiten der romantischen Musik weitgehend genutzt werden. […] Aus alledem erhellt, daß die Zwölftonmusik nur theoretisch die Zwölftonskala als Grundlage verficht, praktisch jedoch der romantischen Klangwelt verhaftet bleibt.“3 Schließlich gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass sich bei (noch ausstehender) genauerer Prüfung zeigen könnte, „dass es eine Zwölftonmusik praktisch gar nicht gibt und nicht geben kann.“4

Ist die Zwölftontechnik also lediglich eine andere Notation chromatisch gesteigerter Musik in romantischer Tradition, die – zwar ohne tonales Zentrum – letztlich noch der Dur-Moll-Tonalität verhaftet bleibt? Was hätte Arnold Schönberg auf diese Behauptung erwidert? (Nach seiner Emigration lebte er in den USA und starb 1951.) Nun, Schönberg verstand seine „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ als einen radikalen Wandel in der Kompositionstechnik. Für ihn stellt sie eine Kompositionsmethode dar, die die Tonalität ersetzt. In seinem 1950 auf Englisch veröffentlichten Aufsatz Komposition mit zwölf Tönen beschreibt er sie wie folgt: „Diese Methode besteht in erster Linie aus der ständigen und ausschließlichen Verwendung einer Reihe von zwölf verschiedenen Tönen. Das bedeutet natürlich, daß kein Ton innerhalb der Serie wiederholt wird und daß sie alle zwölf Töne der chromatischen Skala benutzt, obwohl in anderer Reihenfolge. Sie ist in keiner Weise mit der chromatischen Skala identisch.“5 Die Reihe, so Schönberg weiter, fungiere nicht nur als eine Art von Motiv, sondern sie bestimme die horizontale (Tonfolge) und vertikale Ordnung (Akkorde) der Töne. Damit löse sie die Dur-Moll-Tonalität in ihrer ordnenden und einheitsstiftenden Funktion ab.

Schönbergs Auffassung ist klar: Die Zwölftontechnik zeigt keinen Wandel der Notation an, sondern einen radikalen Bruch in der Kompositionstechnik. – Ist es denn vorstellbar, dass eine Zwölftonreihe bloß eine enharmonische Verwechslung einer chromatisch spannungs-vollen (tonalen) Tonfolge ist? An dieser Stelle schlage ich ein kleines Experiment vor: Schauen wir uns die Reihe aus Anton Weberns Symphonie op. 21 an, zunächst in Originalgestalt (Beispiel 1), dann enharmonisch verwechselt und tonal gedeutet (Beispiel 2).

Eine tonale Deutung der Reihe ist zwar möglich, aber nicht sinnvoll: Die enharmonisch verwechselte Reihe hat kaum etwas mit Weberns Symphonie op. 21 zu tun. Zentrale Eigenschaft der Reihe ist ihre symmetrische Struktur (Töne 7 – 12 enthalten die gleichen Intervallschritte wie  Töne 1 – 6 im Krebs), nicht tonal gedachte chromatische Spannung. Schnipperings Deutung der Zwölftontechnik als Zuspitzung romantischer Musik ist problematisch: Er versucht die Zwölftonmusik mit Begriffen zu fassen, die genuin zur Beschreibung der Musik der klassisch-romantischen Tradition geprägt wurden. Solchen unzeitgemäßen Zuschreibungen begegnet man häufig in Interpretationen der Musikgeschichte: etwa, wenn der berühmte Tristanakkord in Wagners gleichnamiger Oper als atonal bezeichnet wird oder ein barockes Fugenthema, das alle 12 Töne der chromatischen Skala enthält, als zwölftönig. Ob dahinter das Bedürfnis des Historikers steckt, Geschichte als einheitliche kontinuierliche Entwicklung zu begreifen?

Dennoch sind Schnipperings Ausführungen nicht völlig zu verwerfen. Seine Beobachtung, dass die Zwölftonmusik teilweise in der romantischen Klangwelt wurzelt, ist durchaus berechtigt. Schönberg hat zwar mit der Tonalität gebrochen, nicht aber mit der romantischen Expressivität und den Ideen von Genieästhetik und autonomem Kunstwerk. Dass sich in Schönbergs Musik Überreste der romantischen Ausdrucksästhetik finden, ist genau das, was ihm viele Avantgarde-Komponisten der Nachkriegszeit vorwerfen und was Pierre Boulez 1951 zu der symbolträchtigen Aussage führte: „Schönberg est mort.“

1Heinrich Schnippering, „Von der Logik der Zwölftonmusik“, in: Melos 17 (1950), S. 313.

2Ebd.

3Ebd., S. 314.

4Ebd.

5Arnold Schönberg, Stil und Gedanke, Frankfurt am Main 1995, S. 109f.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/102

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Ein Bild sagt mehr … (XXII): “The Germans to the Front” in zwei Karikaturen (1900, 1915)

Der Ausspruch “The Germans to the front” wurde im Sommer 1900 dem britischen Admiral Sir Edward Hobart Seymour (1840-1929) zugeschrieben. Seymour hatte im Juni 1900 versucht, von Tianjin aus auf Beijing vorzurücken, um die belagerten Gesandtschaften zu befreien, musste diesen Vorstoß jedoch abbrechen und nach Tianjin zurückkehren. Daraufhin soll er deutsche Soldaten vorgeschickt haben – eben mit der Aufforderung: “The Germans to the front!” Der Ausspruch wurde bald zum geflügelten Wort, Anspielungen darauf finden sich (nicht nur) in satirischen Blättern immer wieder. Zwei Beispiele sollen hier kurz vorgestellt werden.

Im Sommer 1900 dominierte in den österreichisch-ungarischen satirisch-humoristischen Blättern nur ein Thema: die Yihetuan 義和團-Bewegung (der sogenannte ‘Boxeraufstand’) und die militärische Intervention der acht Mächte zu ihrer Unterdrückung. Ein großer Teil von Figaro, Kikeriki, Floh und Humoristischen Blättern ist den Vorgängen in China und den Debatten über die Vorgänge in China in den Parlamenten Europas gewidmet. Obwohl das Deutsche Reich ungleich stärker in die Ereignisse involviert war, beschäftigen sich die großen satirisch-humoristischen Blätter wie Kladderadatsch, Simplicissimus und Der wahre Jakob doch eher verhalten mit dem Thema. Ein Beispiel ist die Titelkarikatur “Gute Freunde” im Beiblatt zum Kladderadatsch vom 12. August 1900.[1].

Kladderadatsch (Beiblatt), 12.8. 1900

Beiblatt zum Kladderadatsch, 12. August 1900 | UB Heidelberg

Das Bild zeigt eine etwas makabere Szene in einer Schlucht. In der Mitte liegen auf einer in den Fels gehauenen Treppe Totenschädel und Skelettteile. Am Kopf der Treppe sitzt ein Drache, der eine Art von Schatz (Kisten und Vasen) zu bewachen scheint.  Auf einer Klippe über der Schlucht kniet “Uncle Sam” und versucht, nach dem Schatz zu angeln. Im Vordergrund – mit dem Rücken zum Betrachter – sind zwei Figuren zu sehen: ein beleibter “John Bull”, der gerade dabei ist, sich anzuziehen – und “Michel”, ein Ritter mit gezücktem Schwert. “John Bull” spricht zum Ritter: “Vorwärts, Michel! Ich komme gleich nach.”

Im März 1915 findet sich im Kikeriki die Karikatur “Die Zukunft Chinas”

Kikeriki (7.3.1915)

Kikeriki (7.3.1915) | Quelle: ANNO

Dargestellt ist ein gefesselter Drache “China”, sein Kopf ist in einen Maulkorb gezwängt, seine Klauen sind an einen vierrdrigen Wagen genagelt, der Schwanz ist verknotet. Am Maulkorb ist mit einem Schloss eine Kette bestigt. Diese Kette hält eine durch Uniform und Gesichtszüge als japanisch markeirte Figur, die mit einer Peitsche auf den Drachen einschlägt. Im Hintergrund steht ‘Uncle Sam’ (erkennbar an Zylinder, Frack, gestreifter Hose und dem typischen Bart) und ‘John Bull’ (erkennnbar an der beleibten Gestalt im knappen Frack und am flachen Hut). Der Text zum Bild:

John Bull: Das dürfen wir uns nicht bieten lassen von Japan; da müssen unbedingt wieder Deutsche an die Front![2]

Der riesige Drache China ist gefesselt und dem kleinen Japan ausgeliefert. Auch hier ergibt sich aus dem Erscheinungsdatum der Kontext: die Verhandlungen über die Einundzwanzig Forderungen, die die japanische Regierung im Januar 1915 an China gerichtet hatte. Diese Forderungen hätten Japan de facto volle Kontrolle über die Mandschurei und über die Wirtschaft Chinas gegeben. Sohl die USA (“Uncle Sam”) als auch Großbritannien (“John Bull”) waren gegen jede Ausweitung des japanischen Einflusses in China.

Auffallend ist, dass im Kladderadatsch die Nationalallegorien “Uncle Sam”, “John Bull” und “Michel” durch Inserts benannt sind. Im Kikeriki ist zwar der Drache mit “China” bezeichnet, “Uncle Sam”/USA, “John Bull”/Großbritannien und Japan sind nur durch Kleidung, Körperform, Gesichtszüge, Haar- und Barttracht markiert. Beide Karikaturen ist eines gemeinsam: Sie funktionieren nur, wenn dem Betrachter der Ausspruch “The Germans to the front!” vertraut ist – im Sommer 1900 ebenso wie im März 1915.

 

 

  1. Beiblatt zum Kladderadatsch Nr. 32 (12. August 1900) [1].
  2. Kikeriki, Nr. 10 (7.3.1915), [8] – Online: ANNO.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1485

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Krise und Systemwandel im Alten Ägypten – von Elisa Priglinger

Klimawandel. Die Mehrheit der Klimaforscher_innen ist sich einig, dass sich das Klima in den kommenden Jahrzehnten drastisch verändern wird. Diese Problematik ist mittlerweile in das Bewusstsein der Menschen eingedrungen und fordert nach Maßnahmen. Dass dies nicht nur geografische, sondern auch … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/6714

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“Ich interessiere mich für Geschichte, suche aber etwas praxisbezogenes, deshalb möchte ich Archäologie studieren”

Wenn ich Studieninteressierte berate, frage ich sie gerne einmal nach Ihrer Motivation, warum Sie Archäologie studieren möchten. Oft erhalte ich sinngemäß eine Antwort wie diese: “Ich interessiere mich für Geschichte. Ich wollte aber nicht so was theorielastiges wie Geschichtswissenschaft studieren, sondern mehr was praxisbezogeneres, wie Archäologie.”

Leider kommen viele Studierende mit dieser Vorannahme zur Studienberatung. Doch dies ist nicht der Unterschied zwischen Geschichtswissenschaft und Archäologie. Beides sind Disziplinen, die die Vergangenheit des bzw. der Menschen erforschen – mit den ihnen eigenen Quellen und Methoden. Die Quellen der Geschichtswissenschaft sind schriftliche Zeugnisse, die Quellen der Archäologie materielle Kultur. Um diese Quellen auswerten und interpretieren zu können, benötigen beide Wissenschaften Theorien und Methoden – ein Archäologiestudium ist daher nicht mehr und nicht weniger “theorielastig” als ein Geschichtsstudium.

Vielleicht ist das Archäologiestudium gerade in den ersten Semestern sogar noch theorielastiger als das Geschichtsstudium: Geschichte ist eine Disziplin, die zum Fächerkanon der schulischen Bildung zählt; Geschichtsstudierende können daher auf ein wenig Vorwissen zurückgreifen, wenn sie das Studium beginnen. Archäologie kennen die meisten StudienanfängerInnen nur aus den Medien, aus Büchern, Zeitschriften, Film und Fernsehen, und auch aus dem Web 2.0 – aber die wenigsten StudienanfängerInnen in den Archäologien haben tatsächlich schon einmal in diesem Fach gearbeitet. Von daher müssen zu Beginn des Studiums die gängigen Theorien und Methoden des bzw. der gewählten archäologischen Schwerpunkte bewältigt werden, zu denen in der Regel bei den Studierenden keinerlei Vorwissen vorhanden ist. Das macht ein Archäologiestudium gerade in den ersten Semesterwochen zu einem sehr arbeitsaufwändigen und einem sehr trockenen Studium.

Der Umgang mit den Quellen selbst – also das, was von Seiten der Studieninteressierten gerne als “praxisbezogen” empfunden wird – sollte aber auch in beiden Disziplinen ab einem gewissen Punkt im Studium vorhanden sein. Antike Papyri, mittelalterliche Folianten oder neuzeitliche Tagebücher als Schriftzeugnisse und damit Quellen der Geschichtswissenschaft können dabei jedoch ebenso faszinieren wie jungsteinzeitliche Keramikscherben, bronzezeitliche Stabdolche oder eisenzeitliche Fibeln als Zeugnisse materieller Kultur und damit als Quellen der Archäologie.

Quelle: http://archiskop.hypotheses.org/33

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Nachruf auf die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano

Wie gewonnen, so zerronnen. Vorgestern konnte ich feststellen, dass die in Privatbesitz befindliche zweite handschriftliche Überlieferung des Registrum coquine (um 1430?) des Johannes Bockenheim (Hofkoch von Papst Martin V.) einem in der Zwischenkriegszeit verkauften verschollenen Sammelband aus der Bibliothek des Salzburger Benediktinerklosters St. Peter entstammte. Als Aufbewahrungsort der 12 Blätter wurde von Robert Maier die Bibliothèque Internationale de Gastronomie in Lugano angegeben, der sich dabei auf die im März 2013 eingesehene Website (Version von 2011 im Internet Archive) der Bibliothek stützte. Zuvor hatte der Textzeuge sich in der Sammlung Segal in London befunden. Bruno Laurioux hat das Werk nach dieser Handschrift 1988 ediert.

Leider existiert die wertvolle Bibliothek in Lugano inzwischen nicht mehr. Sie wurde kürzlich verkauft, und ihr weiteres Schicksal ist ganz unklar. Die in Liechtenstein ansässige Stiftung Fondation B.IN.G, der Bibliotheksträger, wurde im Herbst 2013 liquidiert (als Stiftungspräsidentin fungierte die Witwe des Gründers). Man weiß nicht einmal, ob eine Institution die Bestände erworben hat. Man wird abwarten müssen, ob die kostbaren Stücke im Handel auftauchen oder ein Privatsammler sich als neuer Eigentümer zu erkennen gibt.

Was bleibt (vorerst) von der Bibliothek, die auf der Website von Lugano nach wie vor als ” la piu grande raccolta al mondo di testi antichi di gastronomia” gerühmt wird? Mit 17 mittelalterlichen Handschriften war sie von codices.ch unter die “größeren” Schweizer Handschriftensammlungen eingereiht worden.

- Ein feudaler dreibändiger Katalog, in dem 1994 der Eigentümer der 1992 in Sorengo bei Lugano gegründeten Bibliothek die 2073 Drucke und 77 Handschriften in italienischer und lateinischer Sprache beschreiben ließ (Besprechung; einige Bilder). Es war der italienische Unternehmer und Krimiautor Orazio Bagnasco (1927-1999).

- Ein Aufsatz der langjährigen Kuratorin Marta Lenzi Repetto – Marta Lenzi:  La fondation B.IN.G.: une collection de gastronomie.  In: Passion(s) et collections: actes du colloque (Chambéry, 21 et 22 octobre 1998), Paris 1999, S. 38-51.

- Reste einer Website, aufrufbar im Internet Archive, zu der anscheinend auch ein verschwundenes Handschriftendigitalisat gehörte, und einige Nennungen im Internet, darunter der unten wiedergegebene Artikel von Gerhard Lob 2005, der nach den Nutzungsbedingungen von swissinfo.ch hier ganz wiedergegeben werden darf.

Für die Historiker, die sich mit Essen und Trinken befassen, und die bibliothekarische Infrastruktur dieses Forschungsgebiets ist die Auflösung der Bibliothek ein herber Verlust. Noch so herausragende und für die Forschung bedeutsame Privatsammlungen werden immer wieder aufgelöst oder dezimiert, obwohl das nicht im  Interesse der Wissenschaft sein kann.

Einige Beispiele, auf die ich im Lauf der Zeit gestoßen bin:

- 2012 wurden aus der norwegischen Schoyen Collection, der laut Wikipedia größten privaten Handschriftensammlung der Welt, Handschriftenfragmente bei Sotheby’s versteigert.

- 2010 wurde mir eine Petition bekannt, die sich gegen die Auflösung der privaten Ritman Library Bibliotheca Philosophica Hermetica in Amsterdam richtete, der bedeutendsten Sammelstätte für hermetisches Schrifttum. Einen Kernbestand sicherte die KB Den Haag. 2011 konnte die Bibliothek wiedereröffnet werden, doch zahlreiche wertvolle Werke, darunter auch deutschsprachige mittelalterliche Handschriften, hatten verkauft werden müssen (Berichterstattung in Archivalia).

- 2006 wurde gegen den Verkauf einiger Papyri der von Martin Bodmer begründeten Fondation Bodmer in Genf-Coligny protestiert. Es war nicht der erste Verkauf, der die Sammlungsbestände schmälerte.

- “Die Bibliotheca Tiliana war eine von dem Unternehmer und Jagdwissenschaftler Kurt Lindner zusammengetragene Buchsammlung mit annähernd 13.000 jagdlichen und forstlicher Schriften. Nach seinem Tode (1989) konnte sie trotz Bemühungen des Landes Bayern und des DJV nicht geschlossen übernommen werden. 2001 erwarb ein privater Sammler die Bibliothek für 2,7 Millionen DM, entnahm ihr einige Bände und ließ den Rest 2003 beim Buch- und Kunstauktionshaus F. Zisska & R. Kistner, München und 2004 bei E + R Kistner Buch- und Kunstantiquariat Nürnberg in Einzelteilen versteigern” (deutsches-jagd-lexikon.de, zu Jagdbuchsammlungen siehe auch die VÖB-Mitteilungen 2006, zur Tiliana erschienen in ihnen zuvor drei wichtige Beiträge von Gerald Kohl und Rolf Rosen: 2003, 2004, 2005).

-Über die berühmte Bibliothek Otto Schäfer in Schweinfurt liest man im Handbuch der historischen Buchbestände: “Aufgrund finanzieller Probleme mußte sie im Sommer 1994 geschlossen und der eigene wissenschaftliche Betrieb eingestellt werden. Im Herbst 1994 wurde zusammen mit der Stadt Schweinfurt ein neues Konzept für die Bibliothek erarbeitet. Es sah zur Schaffung von weiterem Stiftungskapital den Verkauf aller nicht im deutschen Sprachgebiet gedruckten Werke der Illustrata-Sammlung und der gesamten Collection Jean Furstenberg vor. Ausgeschlossen vom Verkauf waren nur alle Unikate und die fünf Drucke aus der Bibliothek Jean Groliers als Spitzenstücke der Einbandsammlung. In vier Auktionen bei Sotheby’s von Dezember 1994 bis Dezember 1995 wurden die entsprechenden Bestände veräußert”. Inzwischen darf man die Institution wohl als konsolidiert betrachten, hat sie doch als Leihgaben die Schweinfurter Reichsstädtische Bibliothek und 2013 auch die Kirchenbibliothek St. Johannis übertragen bekommen.

- 1983 verkaufte der Kölner Sammler Peter Ludwig seine herausragende Handschriftensammlung an das Getty-Museum (damals) in Malibu. Die 144 illuminierten Codices waren auf Kosten des Steuerzahlers im Kölner Schnütgen-Museum katalogisiert worden. Die Stadt Köln, die sich lange berechtigte Hoffnung auf die Stücke machen durfte, wurde von dem Sammler kaltschnäuzig mit dem Hinweis, es habe sich nicht um eine Zusage im juristischen Sinn gehandelt, abgespeist. Ein Stifter geht stiften, kommentierte die ZEIT. Wie viele US-Institutionen sieht sich das Getty-Museum leider nicht als dauerhaftes Archiv und hat einen Teil der Stücke in den Handel gegeben. Davon sind nur ganz wenige in öffentlichen Sammlungen gelandet (PDF von Conway/Davis S. 6  mit Nachweisen aus Katalogen, Liste der 2011 vorhandenen Handschriften in Archivalia).

Das Interesse der Wissenschaft an Kulturgütern – das sind immer wichtige Geschichtsquellen – in privater Hand lässt sich ohne weiteres beschreiben:

1. Bestandserhaltung/Ersatzdokumentation: Sammlungen sind möglichst als Ensemble zu erhalten, wenn sie als Ganzes eine bedeutende Geschichtsquelle darstellen. Ist dies nicht möglich, muss es eine öffentlich zugängliche Dokumentation geben. Die dauerhafte Aufbewahrung in einer öffentlichen Institution schont die Stücke und setzt sie keinen unnötigen Transporten aus. Das Verlustrisiko ist bei öffentlichen Sammlungen geringer. Öffentliche Sammlungen zerstückeln auch keine mittelalterlichen Codices (siehe “Auf den Spuren eines Frevlers” in diesem Blog und Breaking Bad).

2. Zugänglichkeit für Öffentlichkeit und Forschung: Wenn private Sammler ihre Schätze nicht wegschließen, sondern sie der Forschung und auch der breiten Öffentlichkeit – im Original oder digital – zugänglich machen ist gegen Kulturgüter in privater Hand nichts einzuwenden. Aber das ist leider nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme.

3. Dauerhafte Zitierbarkeit: Besitz- und Ortswechsel von Kulturgütern könnten im semantischen Netz über
Uniform Resource Identifier (analog zu Persistent Identifiern wie URN oder DOI) dokumentiert werden.

Die Interessen des Handels und der privaten Eigentümer sehen meist anders aus. Alles was die Profite schmälert und die Handlungsautonomie der Eigentümer, die sich nicht selten gegen jede Art von Kulturgut-Etikettierung wenden, einschränkt, wird als störend empfunden.

Um den Interessen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit (“Kulturgut muss frei sein!”) zu ihrem Recht zu verhelfen, müssen die jeweils betroffenen Staaten und die Bürgergesellschaft zusammenarbeiten. Auf Denkmal- oder Kulturgutschutz ist bei solchen privaten Kollektionen kaum Verlass (er versagt ja schon bei öffentlichen Sammlungen), wenngleich nicht verschwiegen sei, dass das Bundesverwaltungsgericht 1992 die Käfersammlung Frey höchstrichterlich als nationales deutsches Kulturgut anerkannt hat.

Nicht alle Sammlungen lassen sich über einen Kamm scheren, aber ein Dreischritt Inventarisierung (Dokumentation ihrer Existenz durch den Staat, Forscher oder interessierte Bürger), vertragliche Abmachungen (Vorkaufs- und Informationsrechte) und – im Krisenfall – Rettungsmaßnahmen erscheinen sinnvoll. Wir brauchen vor allem ein Netzwerk reicher Stiftungen, das bereit ist, für bedrohte Sammlungen und Sammlungsbestandteile ein Rettungsnetz aufzuspannen. Um das Detroit Institute of Art zu retten (siehe Artikel in diesem Blog), haben sich in den USA einige vermögende Stiftungen erstmals zusammengeschlossen. Voraussetzung ist, dass man überhaupt etwas von der Gefahr oder drohenden Verkäufen erfährt und dass genügend Zeit bleibt, ohne Hektik vernünftige Lösungen zu finden. Dies könnte man in den meisten Fällen durch vertragliche Abmachungen sicherstellen.

Wissenschaftlich wertvolle Sammlungen wie die jetzt verschwundene Gastronomie-Bibliothek von Lugano brauchen Lobby-Gruppen, die sich ihrer annehmen und auf dauerhaften Erhalt dringen. Selbstverständlich bietet das Web 2.0 ausgezeichnete Möglichkeiten, solche Lobby-Arbeit zu organisieren. Erinnert sei nur an unsere Facebook-Seite “Rettet die Stralsunder Archivbibliothek” mit Neuigkeiten zum Kulturgüter-Schutz.

Lugano hütet ein gastronomisches Juwel

31. Mai 2005 – 10:33

Die “Bibliothèque Internationale de Gastronomie” in Lugano beherbergt einen weltweit einzigartigen Schatz an gastronomischen Schriften. Die Sammlung ist nicht eine Anhäufung von Rezepten, sondern ein Spiegel kulinarischer und gesellschaftlicher Traditionen.

Die Villa Bagnasco thront auf einem Hügel in Sorengo, einem noblen Vorort Luganos. Hier ist die Stiftung B.IN.G zu Hause; das Kürzel steht für Bibliothéque Internationale de Gastronomie.In der Schweiz ist diese Institution weitgehend unbekannt, doch der internationalen Forschergemeinschaft ist sie durchaus ein Begriff. “Es stimmt: Wir sind im Ausland bekannter als in der Schweiz”, lacht Bibliothekarin Marta Lenzi, die über die einzigartige Sammlung mit rund 4000 Handschriften und Büchern wacht.

Dokumente in vielen Sprachen

Die Sammlung umfasst Handschriften und Drucke vom 14.Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. “Die gastronomische Literatur war die grosse Leidenschaft des Gründers Orazio Bagnasco”, sagt Lenzi.Der ins Tessin übersiedelte italienische Unternehmer, der 1999 starb, hat weltweit Manuskripte und Handschriften mit gastronomischem Charakter gesucht und erworben, vor allem solche in lateinischer und italienischer Sprache. Dies erklärt auch, weshalb der grösste Teil des Bestandes in diesen beiden Sprachen vorhanden ist. Kleiner sind die Abteilungen auf Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch.

Grosser Reichtum für Fachleute aus aller Welt

Die herausragende Rolle der gesammelten lateinischen und italienischen Schriften spiegelt sich im Katalog, der diesem Bestand gewidmet ist. Der dreibändige “Catalogo del fondo italiana e latino delle opere di Gastronomia Sec. XIV-XIX” ist ein Standardwerk der Gastro-Historie und steht als Bibliographie in allen grossen Bibliotheken.Kein Wunder, dass Fachleute aus der ganzen Welt zur Konsultation der Originale nach Lugano-Sorengo kommen. “Seit Gastronomie in den letzten Jahren noch mehr in Mode gekommen ist, häufen sich die Anfragen bei uns”, erklärt Lenzi. Der Zutritt zur Bibliothek ist allerdings nicht öffentlich. Nur Fachleute, Studenten oder Journalisten haben Zutritt. Ein kleiner, aber schmucker Lesesaal lädt zur Lektüre ein.

Juwele aus alten Zeiten

Dank der Katalogisierungsarbeit kennt Lenzi die Sammlung im Detail. Und zu fast jedem Volumen kann sie eine kleine Geschichte erzählen. Verständlicherweise gerät sie ins Schwärmen, wenn sie Schätze wie den hochmittelalterlichen Kodex “Tacuinum Sanitatis” zeigt: “Er ist ein einzigartiges Zeugnis des Lebens und der Sitten aus dieser Epoche.”

Ein Unikum ist auch das Manuskript “Libreto de tutte le cosse che se magnagno” von Giovanni Michele Savonarola aus dem Jahr 1450 zeigt (Das Buch über alle Dinge, die man isst).Auch in der deutschsprachigen Abteilung finden sich kleine Juwele, darunter “Das Buch von der rechten Kunst zu distillieren” von Hieronymus Brunschwygh aus dem Jahr 1500.

Spiegel früherer Lebensweise

Gerade diese historischen Abhandlungen zeigen auf, dass die gastronomische Kultur nicht im Sinne heutiger Kochbücher zu verstehen ist. Die Schriften bilden eher einen Spiegel medizinischer, biologischer, landwirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erkenntnisse. Das reicht von den Wirkungsweisen bestimmter Kräuter und Pflanzen über das Tranchieren eines Schweins bis zur Beschreibung eines Hochzeitsessen von Isabelle von Aragonien mit Gian Galeazzo Sforza unter dem Titel “Ordine de le imbandisone” aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. “Dieses Buch eröffnet uns die ganze Choreografie der Hochzeit”, sagt Lenzi.

Stolz ist Lenzi auch auf ein Volumen von Maestro Martino, der als Erfinder der modernen Kochkunst gilt – ein Koch aus dem Bleniotal, der Ende des 15. Jahrhunderts am Hof von Mailand Karriere machte. “Er hat die Kochkunst im weitesten Sinn unserem heutigen Geschmack angepasst”, so Lenzi.

Heutigen Bestand bewahren

Die von Bagnasco aufgebaute Sammlung, die 1992 in eine Stiftung überführt wurde, wird heute nicht mehr durch Neuankäufe erweitert. “Wir verwalten das Bestehende so gut es geht”, sagt Lenzi.Ausgebaut wird allerdings die Zusammenarbeit mit externen Interessenten, darunter Fakultäten für Gastronomie an einigen italienischen Universitäten, vor allem der neu gegründeten Universität für Gastronomische Wissenschaften in Pollenzo bei Cuneo (Piemont), wo sich auch ein Forschungszentrum für Slow Food befindet.

Nicht nur langsames Essen, auch historisches Speisen in Burgen und Schlössern hat Hochkonjunktur. Lenzi ist allerdings der Ansicht, sich keine Illusionen zu machen: “Mittelalterlich zubereitetes Essen könnten wir heute beim besten Willen nicht mehr verzehren.”Die verschiedensten Gewürze, süss-sauer, alles in einem Topf: Das sei für den heutigen Geschmack unerträglich. Sie rät daher, sich allenfalls von der historischen Umgebung und einstigen Sitten inspirieren zu lassen, beim Essen aber durchaus auf Modernität zu setzen.

swissinfo, Gerhard Lob, Lugano

 

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/382

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Filmvermittlung mit Social Media – Strategie für „Das Cabinet des Dr. Caligari“

Ein Beitrag von Hannah Linnenberger

»Eine Welt voller Zitate ist eine Welt voller Geschichten.«

Götz vor dem Gentschenfelde

Mein Konzept für die Vermittlung des Films „Das Cabinet des Dr. Caligari“ mittels Social Media basiert auf der Idee, mit Zitaten zu arbeiten und dabei die Plattformen Facebook und Twitter zu nutzen.

Alle Zitate habe ich Primärquellen wie dem Drehbuch zum Film, dem zeitgenössischen Filmprogramm oder der Werbekampagne zum Film entnommen. Auf Zitate aus Kritiken habe ich verzichtet, da die Zitate nicht über den Film sprechen sollen, sondern aus dem Film selbst bzw. aus zeitgenössischen zum Film entstandenen Texten stammen sollen,

Die Zitate sollen Neugier wecken, eine Geschichte erzählen.

Facebook ARTE

Abb. 1: ARTE auf Facebook

Die Zitate sollen also einen kleinen Hinweis geben, dennoch nicht zu viel verraten. Daher stammt das erste Zitat „Die Gartenmauern der Anstalt bergen ihre Geheimnisse. (…)“ (siehe Abb. 1) auch nicht aus dem Film, sondern es ist der erste Satz aus einem Programmheft zum Film, das im Schriftgutarchiv der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen Berlin archiviert ist [Signatur: Orig. Dr. Hermann, 2. Kop. s.: HPC/DUB/Kammer]. Dieses Programmheft aus dem Jahr 1920 wird selbst Kennern des Films nicht unbedingt geläufig sein, es eignet sich daher besonders gut für einen spannenden Start, bei dem noch nichts verraten wird.

 

Um die Spannung aufrecht zu erhalten, sollte bei den ersten Zitaten noch kein Link eingebunden werden, der zu des Rätsels Lösung führt.

Erst wenn in einem Zitat zum ersten Mal von „Dr. Caligari“ die Rede ist, soll es durch einen Link zur Seite der Berlinale ergänzt werden (siehe Abb. 2).

Abb. 2:ARTE Facebook

Abb. 2: ARTE Facebook

Bis auf drei Zitate habe ich alle Zitate dem Drehbuch entnommen und sie fast durchgängig chronologisch geordnet. Durch diese Reihenfolge soll ein dem Film entsprechender Spannungsbogen aufgebaut werden. Denn so bleibt es für den Nutzer auch nach der Auflösung (durch den Link zur Berlinale-Seite) spannend.

 

 

 

 

 

Abb. 3: Tweet @ARTE.de

Abb. 3: Tweet @ARTEde

Das Zitat des Tages funktioniert also als eine Art Fortsetzungs-geschichte. Die Zitate erzählen Stück für Stück die Geschichte des Films (siehe Abb. 3 und 4). Dadurch sollen die Nutzer dazu angehalten werden, regelmäßig die Facebook/Twitter-Seite von ZDF/Arte zu besuchen. Vielleicht teilen sie den Post und machen auch ihre Freunde auf die Zitate aufmerksam. 

 

 

Bild 4

Abb. 4: Tweet @ARTEde

Daher ist es unbedingt nötig, dass die Zitate täglich, gepostet werden, am besten jeden Tag zur gleichen Uhrzeit. Nur somit kann die Idee eines Zitat des Tages funktionieren, das den Nutzer dazu auffordern soll, die Facebookseite regelmäßig zu besuchen. Und auch die Nutzer von Twitter, die ZDF/Arte folgen, können nur durch eine gewisse Regelmäßigkeit der Zitate verstehen, dass diese in einem größeren Zusammenhang zu sehen sind.

 

Allgemein ist es bei der Pflege von Social-Media-Seiten wichtig, regelmäßig Posts zu erstellen. Diese sollen für den Nutzer einen Mehrwert bieten. Im besten Fall heißt dies,dass sie Informationen bieten, die neben Hinweisen auf aktuelle Veranstaltungen, den Beginn eines Vorverkaufs oder dergleichen, über die Informationen, die beispielsweise auf der Internet-Seite eins Unternehmens zu finden sind, hinausgehen.

Im Fall von Dr. Caligari ist es daher wünschenswert, die Zitate auf der Facebook-Seite zusammen mit Fotos z.B.aus der Sammlung zum Film Caligari im Archiv der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen Berlin zu posten (siehe Abb. 1). Diese bieten den Lesern einen wunderbaren Vorgeschmack auf den Film.

 

Quellen der Zitate:

1. Zeitgenössisches Programmheft der Kammer-Lichtspiele: Signatur im Schriftgutarchiv der Deutschen Kinemathek: Orig. Dr. Hermann, 2. Kop. s.: HPC/DUB/Kammer

2. Mayer, Carl und Janowitz, Hans: Das Cabinet des Dr. Caligari : Drehbuch…zu Robert Wienes Film von 1919/20. München, 1995.

Ich danke Nina Goslar von der Stummfilmredaktion ZDF/ARTE sowie Jonas Schlatterbeck @ARTEde für die Unterstützung bei der Realisierung meines Konzepts einer Social-Media-Strategie zum Film „Das Cabinet des Dr. Caligari“ begleitend zur Welterstaufführung der digital restaurierten Fassung des Films im Rahmen der 64. Berlinale am 9. Februar 2014 sowie zur Ausstrahlung auf dem Fernsehsender ARTE am 12. Februar 2014.

Quelle: http://filmeditio.hypotheses.org/267

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Zitierpflicht für Wikipediaartikel – und wenn ja, für welche und wie?

Enzyklopädische Artikel aus Projekten wie dem Brockhaus oder der Encyclopedia Britannica können in wissenschaftlichen Arbeiten nicht zitiert werden, denn die Autoren1 der Artikel sind nur der Redaktion bekannt, nicht aber dem Leser. Dabei verfügen die ehemaligen Autoren der Brockhaus-Artikel über hohe wissenschaftliche Qualifikation, über 51 Prozent sind habilitiert, ein weiteres Drittel ist promoviert und die Verbleibenden besitzen einen universitären Abschluss.2

Ganz anders und doch vergleichbar sollte es bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia sein. Etwa sieben Prozent der angemeldeten Autoren sind promoviert3 und von vielen Autoren ist der Stand ihrer Ausbildung nicht bekannt. Den Artikeln können zwar Autoren zugeordnet werden, aber nur wenige der Autoren melden sich unter ihrem Klarnamen an. Der ganz überwiegende Teil der angemeldeten Autoren schreibt im Schutz eines Pseudonyms. Mehr noch, bei der Hälfte aller Veränderungen werden nur die Internetprotokoll-Adresse (IP) der Rechner, von denen diese Veränderungen ausgingen gespeichert. Wer der Autor ist, bleibt völlig unklar.

Unter diesen Voraussetzungen ist es kaum möglich einen Wikipedia-Artikel sauber, und wissenschaftlich korrekt zu zitieren, egal mit welcher Sorgfalt es versucht wird. Zwar ist es möglich auf sogenannte feste Versionen zu verlinken, deren Text so unveränderlich wie ein gedruckter ist, aber das Problem der fehlenden Zuordnung zu einem oder mehreren Autor/en bleibt.4 Dieser Status quo – die Wikipedianer wünschen sich zitiert zu werden, die Wissenschaft kann nicht zitieren, weil die Autorenangaben fehlen – hat sich seit Jahren kaum geändert, oder wie es aktuell formuliert wurde: „Jeder benutzt sie, keiner zitiert sie“.5

Allerdings gibt es drei Bedingungen, die, wenn sie erfüllt sind, dazu führen sollten, dass ein Artikel der Wikipedia wissenschaftlich korrekt mit Autorenangabe zitiert werden könnte. Diese Bedingungen sind zwar schwer zu erreichen, aber bei momentan 1,7 Mio. Artikeln in der deutschsprachigen Wikipedia, sollte es doch einige geben, die diese Anforderungen erfüllen. Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum, einen Weg zu suchen, alle Wikipediaartikel wissenschaftlich zitierfähig zu machen – das kann aufgrund der von einem kollaborativen Ansatz ausgehenden Gesamtkonstruktion nicht funktionieren –, sondern umgekehrt zu schauen, unter welchen Bedingungen Artikel zitiert werden könnten und dann aber auch zitiert werden müssten, da sie einem oder mehreren Autor/en klar zuordenbar sind.

Die drei Bedingungen sind folgende: (1) Klarname: Der Hauptautor muss namentlich bekannt sein, (2) quantitativer Anteil: dessen Anteil am Text muss eine bestimmte Grenze überschreiten und (3) qualitative Korrektheit: der Autor muss die Korrektheit der zitierten Artikelversion verantworten.

Nun bietet die Wikipedia-Datenbank alle Möglichkeiten, um die Erfüllung dieser Bedingungen zu überprüfen.

Denn neben den Texten der Artikel speichert die Datenbank auch alle Veränderungen und alle zugehörigen Autoren zeichengenau in der Versionsgeschichte ab. Aufgrund dieser Metadaten lässt sich exakt nachweisen, wer wann welches Zeichen geschrieben oder verändert hat. Im Durchschnitt stehen pro Artikel etwa 50 Versionen zur Verfügung. Diese Daten „von Hand“ durchzuschauen ist äußerst zeitaufwendig, seit einigen Jahren haben Programmierer aber Werkzeuge (weiter-)entwickelt, mit denen sich die Versionsgeschichte maschinell auswerten lässt. So kann leicht und schnell ermittelt werden, wie groß der quantitative Anteil eines Autors am Artikeltext ist.6 Für diese Autorenanteile wurden Durchschnittswerte ermittelt: So verfassen etwa 2,6 Nutzer mehr als fünf Prozent eines Artikeltextes. Im Schnitt schreibt ein Hauptautor etwa 70 Prozent des Textes und ein zweiter Autor trägt noch einmal 13 Prozent bei. Im Durchschnitt lassen sich also 83 Prozent eines Artikels zwei Autoren eindeutig zuordnen.7

Natürlich gibt es auch viele Artikel, an denen über 3 000 Autoren mitgeschrieben haben und an denen aufgrund der hohen Dichte verschiedener Bearbeiter kaum jemand mehr als zehn Prozent beigetragen hat.8 Bei diesen Artikeln erreicht kein Autor die Grenze der eindeutigen Zuordenbarkeit und die Artikel sind deshalb nicht zitierfähig.

Um zitierfähige und damit auch zitierpflichtige Artikel zu sein, müssen die oben genannten Bedingungen wie folgt erfüllt sein:

(1) Der Hauptautor muss sich unter seinem Klarnamen angemeldet haben. Dies betrifft momentan etwas über sieben Prozent aller angemeldeten Autoren.9 Die Möglichkeit zu den im Artikel gegebenen Informationen eine reale Person zuzuordnen, ist nur bei diesen gegeben.10

(2) Beim quantitativen Anteil sollten mindestens die Durchschnittswerte überschritten sein, der erste Hauptautor sollte also mindestens 70 Prozent und der zweite Hauptautor mindestens 13 Prozent des Artikels verfasst haben. Oder der Anteil eines einzelnen Hauptautors am Text muss über diesen 83 Prozent liegen. Je spezieller ein Thema, umso eher ist diese Bedingung erfüllt. Je allgemeiner, umso mehr Autoren fühlen sich berufen kollaborativ etwas beizutragen.

(3) Der Hauptautor muss die qualitative Korrektheit der Artikelversion garantieren. Er verantwortet, dass beispielsweise ein falsch eingefügtes „nicht“ den Sinn nicht komplett entstellt, sondern wieder entfernt wird. Dies ist am meisten gegeben bei Artikeln, die durch einen Begutachtungsprozess gelaufen sind und als Prädikat den Status „Lesenswert“ oder „Exzellent“ erhalten haben. Bei der Version, die am Ende dieser Begutachtung steht, ist vergleichsweise sicher, dass der Hauptautor alle Veränderungen aktiv beobachtet hat und diese Artikelversion korrekt ist.

Artikel für die diese drei Bedingungen erfüllt sind, Klarname des Autors bekannt, Autor ist quantitativ für mindestens 83 Prozent des Textes verantwortlich und zum Zeitpunkt einer Begutachtung steht der Autor dafür ein, dass diese Artikelversion qualitativ korrekt ist, wären zitierfähig.

Als Beispiele sollen hier zwei Artikel von Frank Schulenburg genannt werden. Der Autor ist der sogenannten Wikipedia-Community vertraut, war er doch 2005 Administrator der Wikipedia und hat in größerer Zahl Edits beigetragen. Er ist aber auch im Wissenschaftsbereich bekannt, hat an der Universität Göttingen studiert und arbeitet heute im Wikipedia-Hochschulprogramm in den Vereinigten Staaten. Da er unter seinem Klarnamen bekannt ist und auch so bei Wikipedia angemeldet, wäre damit die erste Bedingung (Klarname) erfüllt.

Am Wikipediaartikel über den französischen Autor „Claude Bourgelat“ hat Frank Schulenburg etwa 96 Prozent geschrieben. Da die Anteile aller anderen Autoren sich auf die Korrektur von Formalien und Tippfehlern beschränken, wäre auch die zweite Bedingung (quantitativer Mindestanteil) erfüllt. Zudem wurde der Artikel „Claude Bourgelat“ am 26. April 2008 nach einem von Frank Schulenburg begleiteten Begutachtungsprozess in die Liste der exzellenten Artikel aufgenommen. Der Hauptautor steht dafür, dass diese Version qualitativ korrekt ist, damit wäre auch die dritte Bedingung erfüllt. Werden nun Informationen aus diesem Artikel zitiert, müsste also korrekt angegeben werden:

Art. „Claude Bourgelat“, bearb. von Frank Schulenburg u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 7. Oktober 2013, 11:53 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Claude_Bourgelat&oldid=123217566 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

Das gleiche gilt beispielsweise für die Artikel zu „John Hunter (Chirurg)“11 oder zu „Johann Heinrich Zedler“12, bei denen Frank Schulenburg 90 und 92 Prozent verfasst hat. Oder für verschiedene Artikel des mit seinem Klarnamen angemeldeten Historikers Hans-Jürgen Hübner, wie die „Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation“13, die „Urgeschichte Italiens“14, die „Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig“15 oder der Artikel zum „Francesco Datini“16, die Anteile Hübners liegen hier bei 98 Prozent, zwei Mal 96 Prozent und 91 Prozent.

Die Zahl der solchermaßen zitierfähigen Artikel kann aufgrund der kollaborativen Arbeit nicht sehr hoch sein, aber es macht künftig eine grundsätzliche Prüfung notwendig, wenn aus der Wikipedia Informationen entnommen werden, ob damit nicht in dem Fall gegen die mögliche Zitierpflicht mit Autorenangabe verstoßen wird. Es gibt also künftig nicht mehr einfach die Ausrede „Jeder benutzt sie, keiner zitiert sie“, sondern für jede einzelne Information ist zu prüfen – und das ist der große Unterschied zu den früheren gedruckten Enzyklopädien wie Brockhaus oder Encyclopedia Britannica – ob nicht gerade dieser Artikel die Hürden für die Zitierfähigkeit überschreitet und dann zitiert werden muss.

Die Wikipedia sollte die notwendigen Werkzeuge schnell allen Benutzern der Datenbank verfügbar machen, denn die Benutzer kommen nach dem Gesagten um eine genaue Prüfung, zur Vermeidung von Verstößen gegen das Urheberrecht, nicht mehr herum. Auch der Verweis darauf, dass die Wikipediainhalte ja vermeintlich frei sind, ändert daran nichts, denn die zugrundeliegende Creativ Commons Lizenz beinhaltet explizit die „Namensnennung — Sie müssen die Urheberschaft ausreichend deutlich benennen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung des Werks besonders.“17

Künftig gilt für den Umgang mit der Wikipedia: Jeder der sie benutzt, muss prüfen, ob er sie unter bestimmten Umständen nicht sogar mit Autorenangabe zitieren muss.

1     Wenn im Folgenden überwiegend die Form „Autor“ oder „Hauptautor“ verwendet wird, hat dies allein Lesbarkeitsgründe, mitzudenken sind sowohl die Formen „Autorin“ oder „Hauptautorin“ sowie „Autoren“ oder „Hauptautoren“.

2     Vgl. Brockhaus, 17. Auflage, Band 20: Wam-ZZ, Wiesbaden 1974, S. 827–835: Bei 1445 namentlich aufgelisteten Autoren. Der Anteil der Autorinnen liegt bei nur sechs Prozent.

3     Vgl. Ruediger Glott, Philipp Schmidt, Rishab Ghosh: Wikipedia Survey – Overview of Results. 2010. Online: http://www.wikipediasurvey.org/docs/Wikipedia_Overview_15March2010-FINAL.pdf (Abgerufen: 13.12.11), S. 7.

4     Johannes Becher, Viktor Becher: Gegen ein Anti-Wikipedia-Dogma an Hochschulen. Warum Wikipedia-Zitate nicht pauschal verboten werden sollten, in: Forschung und Lehre 18 (2011), H. 2, S. 116–118; Maren Lorenz: Der Trend zum Wikipedia-Beleg. Warum Wikipedia wissenschaftlich nicht zitierfähig ist, ebd., S. 120–122.

5     Stellungnahme des Verlags C. H. Beck zu Plagiatsvorwürfen bezüglich des Buches „Große Seeschlachten. Wendepunkte der Weltgeschichte von Salamis bis Skagerrak“ (München 2013), vgl. online: http://chbeck.de/_assets/pdf/pm_grosse-seeschlachten.pdf (Abgerufen: 9. Mai 2014).

6     Vgl. online: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:APPER/WikiHistory (Abgerufen: 9. Mai 2014) und online: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:APPER/WikiHistory/Programm (Abgerufen: 11. Mai 2014).

7     Vgl. online: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:APPER/WikiHistory/Autorenbestimmung (Abgerufen: 11. Mai 2014).

8     Beispielsweise der Artikel „Deutschland“ mit 3 460 Bearbeitern, vgl. online: https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschland (Abgerufen: 9. Mai 2014).

9     Vgl. die Erhebung von Jürgen Engel im Jahr 2011 unter online: http://gemekon.de/dokumente/protokoll.pdf (Abgerufen: 11. Mai 2014), S. 2.

10    Zusätzlich zur Klarnamenanmeldung, die missbraucht werden könnte, gibt es die Möglichkeit das Benutzerkonto gegenüber dem Support-Team mit der E-Mail-Adresse einer Institution zu verifizieren.

11    Art. „John Hunter (Chirurg)“, bearb. von Frank Schulenburg u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 15. November 2013, 08:52 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=John_Hunter_(Chirurg)&oldid=124478660 (Abgerufen: 15. Mai 2014).

12    Art. „Johann Heinrich Zedler“, bearb. von Frank Schulenburg u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 25. Februar 2014, 18:38 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Johann_Heinrich_Zedler&oldid=127940244 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

13    Art. „Geschichte der Tr’ondek Hwech’in First Nation“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 2. Mai 2014, 21:01 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geschichte_der_Tr%E2%80%99ondek_Hwech%E2%80%99in_First_Nation&oldid=130047818 (Abgerufen: 15. Mai 2014).

14    Art. „Urgeschichte Italiens“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 5. Mai 2014, 13:47 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Urgeschichte_Italiens&oldid=130119732 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

15    Art. „Wirtschaftsgeschichte der Republik Venedig“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 6. Mai 2014, 06:21 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wirtschaftsgeschichte_der_Republik_Venedig&oldid=130140526 (Abgerufen: 8. Mai 2014).

16    Art. „Francesco Datini“, bearb. von Hans-Jürgen Hübner u.a., in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 28. März 2014, 09:49 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Francesco_Datini&oldid=128974223 (Abgerufen: 15. Mai 2014).

17    Vgl. online: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de (Abgerufen: 9. Mai 2014).

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Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/3721

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