Der Arbeitskreis “Digitaler Wandel und Geschichtsdidaktik” startet mit 20 Mitgliedern | Bericht von der konstituierenden Sitzung in Göttingen, 27.9.2013


GÖ
Auditorium Maximum, Universität Göttingen, By Daniel Schwen [CC-BY-SA-2.5 , via Wikimedia Commons
 

Am 27. September 2013 hat sich in Göttingen der Arbeitskreis dWGd | Digitaler Wandel und Geschichtsdidaktik während der dortigen  Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik mit insgesamt 20 Mitgliedern konstituiert.

Die Leiter des Arbeitskreises, Prof. Dr. Marko Demantowsky, Dr. Jan Hodel (beide Basel/Brugg-Windisch) und Dr. Christoph Pallaske (Köln), stellten zunächst die Hintergründe, Ziele und nächsten Schritte des neuen kgd-Arbeitskreises vor. Wichtigste Ankündigung war dabei das erste Arbeitstreffen, das im Rahmen der Tagung Geschichtsdidaktische Medienverständnisse. Geschichte – Definition – neue Herausforderungen am 25. und 26. April 2014 an der Universität zu Köln stattfinden wird.

Die anwesenden Mitglieder äußerten in einer ersten Vorstellungsrunde verschiedene Interessenschwerpunkte:

  • Veränderungen des Geschichtslernens durch digitale Medien (z.B. digitale Schulbücher oder Apps zum Mobile Learning)
  • empirische Forschungen hierzu
  • Lehr- und Lernkonzepte mit digitalen Medien im Lehramtsstudium
  • Veränderungen narrativer Strukturen und Erinnerungskultur(en) im Netz
  • verstärkte Vernetzung und Kooperationen zwischen Geschichtsdidaktik und “digitalen Praktikern”
  • Bündelung und Sichtbarmachung bisheriger und laufender Projekte und Initiativen

Die Leiter des Arbeitskreises äußerten sich sehr positiv über den regen Zuspruch. Weitere Interessenten sind herzlich eingeladen, dem Arbeitskreis als Mitglied beizutreten. Bitte senden Sie hierfür eine Mail an einen der drei Leiter des Arbeitskreises.

Quelle: http://dwgd.hypotheses.org/65

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Inwiefern dient die Spezifik der Amtssprache der Machtübertragung zwischen Verwaltung und Publikum? – Von Sarah Kaschuba

„Im Behinderungsfalle wird der Widerspruchsführer gebeten, dies der unterfertigten Dienststelle mitzuteilen.“ „Besteht an Ihrem Grundstück ein dingliches Recht?“ „Bei der Verweigerung der schriftlichen Erklärung zur Übernahme der Verpflichtung durch den Schuldner kann der Stadtrat die vorzeitige Aufhebung des Vertrages beschließen.“ … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5383

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12. Das Netz und die Autohistorisierung

baumringe1Es ist nun schon gut einen Monat her, dass ich an dieser Stelle etwas zum Besten gegeben habe. In Ordnung, außer mir wird das wohl niemand bemerkt haben. Was soll ich mich auch groß entschuldigen, ich hatte einfach Dringenderes und Wichtigeres zu tun. Will man aber den im Netz kursierenden Blogratgebern glauben, so ist es natürlich fahrlässig, die eigene (überschaubare) Gefolgschaft allzu lange auf Neues warten zu lassen – als ob dem Rest der Welt tatsächlich langweilig werden würde, wenn ich zu schreiben aufhörte. Das läuft dann möglicherweise unter dem Stichwort der digitalen Kundenbindung.

Wirklich schlimm finde ich hingegen, was ich hier gerade mache, nämlich über das eigene Bloggen zu bloggen. Eine problematische, aber offensichtlich unaufhaltsame Entwicklung, die jedes Medium immer wieder zu befallen scheint, unabhängig davon, wie neu und revolutionär es sich geriert: Es kommt immer schon in sich selber vor. Das riesige mediale Angebot verführt wahrscheinlich dazu, den einfachsten Weg der Weltbehandlung einzuschlagen und sich vornehmlich mit sich selbst zu beschäftigen. Medienonanie. Dann wird in Büchern nur noch über andere Bücher geschrieben, dann werden Fernsehsendungen gemacht, die nur aus Zusammenschnitten von Fernsehsendungen bestehen und dann ist ein wesentlicher Inhalt des Internets das Internet. Fatale Auswirkungen hat eine solche Entwicklung, wenn man sich dabei selbst auf den Leim geht und tatsächlich glaubt, die Welt sei mit dieser Selbstbezüglichkeit identisch: „Ick jehe raus und kieke. Und wer steht draußen? Icke!“

Autohistorisierung

Mein völlig subjektiver und durch keine empirische Erhebung gestützter Eindruck ist, dass die Autoreferentialität im Internet, also die Tatsache, dass im Netz Themen behandelt werden, die das Netz behandeln, besonders ausgeprägt ist. Die Welt ist das Internet ist die Welt. Ein wichtiger Bestandteil dieser Nabelschau ist die Autohistorisierung. Das ist nun nicht ausschließlich netzspezifisch, aber hier besonders profiliert und gut zu beobachten. Dieses Produzieren der eigenen Geschichte als beständig mitlaufender Vorgang kann an einem trivialen Umstand festgemacht werden: Alles, was im Netz oder generell auf Computerbasis geschieht, wird sofort und immer mit einem Datum versehen. Man muss sich nicht mehr darum kümmern, gesondert zu notieren, wann man was hoch- oder heruntergeladen, bestellt, angeklickt, verschickt oder bekommen hat. Das erledigt bereits die Maschine. Auch dass alle Beiträge dieses Blogs bei Veröffentlichung automatisch mit einem Datum versehen werden, das sich sekundengenau nachverfolgen lässt, ist nicht meiner Aufmerksamkeit, sondern dem Programm zu verdanken. (Und da komme ich prompt schon wieder in mir selber vor.)

Das ist zunächst einmal eine ungemein praktische Sache. Man muss sich nicht beständig selbst fragen, wann man was gemacht hat. Das Netz und die Maschine zeichnen das getreulich auf. Bedenken kann diese Totaldatierung aber nicht nur auslösen, weil man ahnt, wer alles diese Chronologie des eigenen (Netz-)Handelns mitlesen könnte. Sie ist auch bedenkenswert mit Blick auf unseren Umgang mit Vergangenheit und unsere Produktion von Geschichte.

Denn welchen Effekt Datierungen auf unser Leben und unseren Alltag haben, wird deutlich, wenn man sich für einen Moment vorstellt, wir müssten ohne sie auskommen. Dann würden wir schlicht und ergreifend unsere temporale Orientierung verlieren. Alles und alle werden mit einem Datum versehen. Jeder Tag wird datiert, jedes Produkt erhält ein Herstellungs- und/oder Verfallsdatum und jeder Mensch bekommt einen Geburtstag sowie andere kulturell signifikante Daten zugeordnet. Diese Form der Verzeitung aufzugeben, ist schlicht unvorstellbar, weil unsere Welt ohne sie kollabieren würde. Man muss sich nur die Panikattacken in Erinnerung rufen, die kurz vor dem Jahr 2000 ausbrachen, als die Möglichkeit diskutiert wurde, die Datierungssysteme von Computern könnten aufgrund ihrer ursprünglichen Programmierung die Umstellung auf eine 2 mit drei Nullen nicht bewältigen. Y2K ließ für ein paar Wochen die Vision aufscheinen, wie eine Welt ohne korrekte Datierung aussehen würde. Eine gänzlich geräuschlose Apokalypse. Es hat sich möglicherweise noch nicht herumgesprochen, aber Datierungssysteme von Staaten und Volkswirtschaften, wie Atomuhren oder ähnliches, könnten es seitdem auf die Liste lohnender Ziele für terroristische Anschläge geschafft haben.

Der Geburtstag des Geburtstags

Man könnte die Geschichte westlicher Kulturen auch als eine Geschichte der zunehmenden Datierung schreiben. Wenn in unserer eigenen Gegenwart keine Einkaufsquittung und keine Foto ohne automatisch hinzugefügtes Datum auskommt, dann muss man sich die Frage stellen, wann und wie uns diese Datierungswut heimgesucht hat. Obwohl: Heimsuchung ist kein guter Ausdruck, denn auch diese Zahlensuppe haben wir uns selbst eingebrockt. Anhand der Praxis, das eigene Leben zeitlich zu strukturieren, das eigene Alter und auch den eigenen Geburtstag zu kennen, kann man dieser Kulturtechnik auf die Schliche kommen. Lässt sich damit die Datierung datieren? Wohl kaum, denn einen Ursprung gibt es nicht. Man kann aber feststellen, dass es über Jahrhunderte hinweg gänzlich unbedeutend war, das Datum der eigenen Geburt oder das eigene Alter zu kennen. Das änderte sich allmählich seit dem Spätmittelalter, wenn auch zunächst in sozial höher gestellten und gebildeten Kreisen. Dort war es im 15. oder 16. Jahrhundert schon durchaus üblich, den Geburtstag mit Tag, Monat und Jahr angeben können. Allmählich diffundierte diese Praxis dann in weitere soziale Kreise, so dass man ab dem 18. Jahrhundert davon ausgehen konnte, dass ein Großteil der Menschen den eigenen Geburtstag kannte. [1]

Man muss für die Schritte zu einer zunehmenden Datierung des eigenen Lebens sowie der gesamten Welt sicherlich ganz pragmatische, rechtliche Aspekte heranziehen (zum Beispiel Kenntnis des genauen Lebensalters zur Erfüllung bestimmter rechtlicher Vorgaben). Aber dahinter steckt auch ein anderer Umgang mit Zeit und eine neue Aufmerksamkeit für Geschichte. Denn wenn ein Phänomen einer spezifischen Zeitreihung, womöglich schon einer bestimmten Epoche zugeordnet wird, wenn es also datiert werden kann, dann kann es auch out of date sein. Auf Datierungen zu verzichten, wäre dann ein Hinweis darauf, dass solche Formen der tagesgenauen Historisierung als nicht besonders bedeutsam angesehen werden. Warum soll man seinen eigenen Geburtstag kennen, wenn der eigentlich wichtige Lebensabschnitt im Jenseits stattfindet und ewig währt? Mit Datierungen zu arbeiten, bedeutet hingegen, an die Stelle der Ewigkeit die Zeitlichkeit zu setzen. Sind Dinge erst einmal mit einem Datum versehen, beginnt auch schon ihre historische Uhr zu ticken. Dann kann etwas brandneu, aktuell, veraltet, historisch oder altehrwürdig sein – und zwar einfach weil, gemessen am Datum, die Zeit vergeht. [2]

Die Zeit des Ereignisses

Zeit und Bedeutung werden damit entkoppelt – um sie im Anschluss auf neue Art wieder zusammenzuführen. In Kulturen mit nur rudimentären Datierungstechniken richtet sich die Zeit stärker nach den Ereignissen. Es ist  eher von Bedeutung, was passiert ist (der kirchliche Feiertag, die Krönungszeremonie, das Naturereignis), als genau angeben zu können, wann es passiert ist. Inzwischen hat sich dieses Verhältnis längst umgekehrt, denn nun werden die Ereignisse in die Logik des Kalenders eingepasst. Deswegen können für uns auch Daten zu Bedeutungsträgern werden, ohne dass man explizieren muss, welches Ereignis sich damit verbindet: der 9. November, das Jahr 1968 oder 9/11. [3]

Das Wort ‚Datum‘ suggeriert mit seinen lateinischen Wortwurzeln, es sei etwas Gegebenes. Und in der Tat sind diese sehr abstrakten Zahlenkombinationen, mit denen sich Tage, Monate und Jahre bezeichnen lassen, an sich bedeutungsleer. Ihnen lassen sich aber, gerade aufgrund ihrer ursprünglichen Inhaltsleere, sowohl auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene verschiedene Bedeutungen zuschreiben, so dass man beispielsweise das Datum des 30. Januar 1933 nicht mehr unbefangen verwenden kann. Aus dem (gegebenen) Datum wird ein (gemachtes) Faktum.

Möglicherweise verbindet sich mit der Dauerdatierung nicht nur, aber auch im Internet der Wunsch und Wille, die Geschichte bereits vorproduzieren, die irgendwann über uns geschrieben wird. Dass es sich dabei allerdings um eine Illusion handelt, ist nicht die einzige Lehre, welche die Beschäftigung mit der Geschichte für uns parat hält.

[1] Jean-Claude Schmitt: L’invention de l’anniversaire. Paris 2010

[2] Lothar Müller: „Hier kam ich am 30. September 1659 an Land.“ Nachrichten aus der Einsamkeit: Über Robinson Crusoe und den Jahrestag seiner Ankunft auf der Insel, der zugleich sein Geburtstag war. In: Süddeutsche Zeitung 30.09.2009, 14

[3] Thomas Macho: Der 9. November. Kalender als Chiffren der Macht. In: Merkur 54 (2000) 231-242


Einsortiert unter:Geschichtsmedien Tagged: Autohistorisierung, Autoreferentialität, Datierung, Geburtstag, Internet; Datum

Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/09/28/12-das-netz-und-die-autohistorisierung/

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aventinus antiqua Nr. 22 [27.09.2013]: Die Entwicklung des römischen Klientelstaatensystems im 1. Jh. n. Chr. Das Königreich der Kommagene – ein Opfer der flavischen Sicherungspolitik?

Es gab im Osten des römischen Imperiums auf beiden Seiten der Euphratgrenze ein Geflecht aus Staaten, die entweder den Römern oder den Parthern Loyalität schuldeten. In Forschung hat sich für diesen Herrschaftsstatus die Bezeichnung „Klientelstaat“ durchgesetzt. http://bit.ly/19JXbpC

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/09/4706/

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Joseph Claude Anne Le Gras de Bercagny, 1


AN Paris, BB11 67, Autorisations à des Français d’entrer ou de rester au service des puissances étrangères: Demandes d’autorisations pour entrer ou rester au service des puissances étrangères (décret du 26.8.1811), Royaume de Westphalie, liasse Colinet-Acloque

„Joseph, Claude, Anne, Le Gras de Bercagny, né à Tours, département d’Indre et Loire, le 23 mai 1763.

Éléve de l’école Royale militaire, en 1770. officier au Régiment de Béarn, infanterie, depuis 1778, jusques en 1789.

Controleur général des services militaires, à l’armée d’Italie, en l’an 7.

Secrétaire général de la Préfecture de la Dyle, au mois de frimaire, an 8.

est entré au service de S.M. le Roi de Westphalie avec l’autorisation de S.E. le Ministre de la Police générale, le 20 juillet 1808, en qualité de secrétaire du Cabinet du Roi ; puis Directeur général de la haute Police du Royaume, Préfet de Police, actuellement Préfet du Palais de S.M. et surintendant de ses spectacles ; nommé le 11 de ce mois Préfet du département de l’Elbe ;

n’a de biens en France qu’à St. Domingue et à l’isle de la Réunion.

Certifié véritable.

Le Gras de Bercagny”.


Zur Quelle:

Ein französisch-kaiserliches Dekret vom 26. August 1811 machte es für die französischen Auswanderer, die im Ausland Anstellung gefunden hatten, notwendig, beim französischen Justizminister um die Erlaubnis zu bitten, weiterhin im Ausland dienen zu dürfen. Die westfälischen Staatsdiener französischer Herkunft wurden verpflichtet, einen kaiserlichen Patentbrief für die Anstellung im Königreich Westphalen unter Beibehaltung ihrer französischen Staatsbürgerschaft zu beantragen oder sich für die Naturalisation als westphälische Staatsbürger zu entscheiden. Patent- beziehungsweise Naturalisationsbriefe, die diese Erlaubnis gewährten, wurden ihnen daraufhin in den meisten Fällen erteilt. Die Mehrzahl beantragte Patentbriefe.

Die vorliegende biographische Notiz gehört zum Antrag auf einen Patentbrief von Joseph Claude Anne Le Gras de Bercagny, der als Generaldirektor der Hohen Polizei im Königreich Westfalen von September 1808 bis Oktober 1809 tätig war. Die politische Polizei im Königreich Westfalen zeichnete sich damit aus, dass die politische Überwachung vornehmlich nach innen gerichtet war, gegen die eigene Bevölkerung. „Diese gegen ‚Volksaufwiegler’ im Innern gerichteten Sicherheitsmaßnahmen zeigen den Wandel an von der traditionellen, gegen den äußeren, auszukundschaftenden Feind gerichteten ‚hohen geheimen Polizei’ hin zur ‚modernen’, im 19. Jahrhundert sich ausprägenden politischen Polizei” (Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung”, S. 49). Diese Ausrichtung nach innen, die andere Polizeien erst später erfuhren, war bereits 1808 bei der Errichtung einer spezifischen Generaldirektion der Hohen Polizei im Königreich Westfalen grundsätzlich. Wenn auch für die politische Polizei keine vergleichbaren Vorläufer in der deutschen Staatenwelt genannt werden können, so war nach 1813 Geheimpolizei zu einem geläufigen staatssichernden Instrument gegen staatsgefährdende Untertanen geworden. Diese stark kritisierte Übernahme des französischen Konzepts durch die Obrigkeiten deutscher Territorien nach 1813 geschah auf breiter Basis. Die westfälische Hohe Polizei nahm in mehrfacher Hinsicht Einfluß auf die Entwicklung in den deutschen Landen: Zum einen spielte sie bei den erwähnten Anfängen der politischen Polizei eine wichtige Rolle, zum anderen entwickelte sich infolge ihrer Erscheinung eine kritische Öffentlichkeit gegenüber der Institution Geheimpolizei. Durch die öffentliche Debatte um Polizei und politische Polizei, die sie auslöste und die lange nach 1813 fortgesetzt wurde, initiierte sie unbeabsichtigt eine Entlarvungs- und kritische Rezensionskultur gegenüber politischer Polizei.

Die polizeilichen Strukturen im Königreich Westfalen begannen sich erst im Herbst 1808 zu verändern, nachdem es am 4.–5.9.1808 in Braunschweig zu einem ernstzunehmenden Aufruhr nach einem Streit im Theater zwischen in Zivil gekleideten Gendarmen und Braunschweiger Bürgern. Durch ihn soll Napoleon dazu veranlaßt worden sein, am 14.9.1808 neben der Anordnung der strengen Bestrafung der „Anstifter dieser Emeute”, die französischen Gendarmen in Westfalen für „unnütz” zu erklären und nach Frankreich zurückzurufen, um sie durch ortsansässige bzw. deutschsprachige Gendarmen ersetzen zu lassen (Napoleon, zitiert nach, Goecke, Das Königreich Westphalen, S. 74).
Ein von der Polizei abgefangener Brief des Freiherrn Karl vom Stein an den Fürsten Wilhelm zu Sayn-Wittgenstein vom 15.8.1808, der auf eine antinapoleonische Stimmung in Westfalen schließen ließ,
hat außerdem nach Meinung einiger Historiker das königliche Dekret vom 18.9.1808 verursacht (Vgl. u.a. Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover, Bd. 2, S. 168, 170; vgl. Ders., Neue Mittheilungen zur Geschichte der hohen oder geheimen Polizei, S. 86). Nach diesem Dekret wurde eine Generaldirektion der Hohen Polizei unter der Zuständigkeit des Justiz- und Innenministeriums errichtet. Generaldirektor wurde Joseph Claude Anne Legras de Bercagny, der von Kassel aus die allgemeine Ruhe und Ordnung im Königreich Westfalen überwachen sollte. Mit dieser Maßnahme wurde der gesamte Polizeiapparat der bisherigen direkten Aufsicht des Justiz- und Innenministers Joseph Jérôme Siméon teilweise entzogen. Der Generaldirektor sollte künftig mit allen Ministern korrespondieren und obgleich er dem Justiz- und Innenminister unterstand, konnte er bald seine Eigenständigkeit behaupten. Wahrscheinlich um Bercagnys Geschäftsführung im Ressort der politischen Polizei sich ungehindert entfalten zu lassen, spaltete man am 1.1.1809 das Justizministerium vom Ressort des Innern und erreichte so, daß der als Justizminister weiterbeschäftigte Siméon bedeutende Teile seiner amtlichen Befugnisse hinsichtlich der Polizeigeschäfte einbüßte. Die Präfekten, die bis zum 18.9.1808 für die Hohe Polizei zuständig gewesen waren, wurden nicht mehr allein mit dieser Aufgabe betraut. Ihre direkte Verbindung mit dem Justizminister endete. Präfekten und Gendarmerie unterstanden nunmehr dem Generaldirektor. Am 6.12.1808 setzte man darüberhinaus besondere Polizeikommissare für die Gemeinden mit über 5000 Einwohnern ein. Hinzu kam die Bestellung von Generalkommissaren für die acht Departements im Dezember 1808 (Ernennung am 11.11.1808), die unter der Führung des Generaldirektors der Hohen Polizei standen. Schließlich wurden durch ein Dekret vom 5.1.1809 die Aufgaben der einstmaligen Polizeipräfektur mit denen der Generaldirektion der hohen Polizei vereinigt.
Tatsächlich soll erst mit dem Amtsantritt Bercagnys der Aufbau eines Stabs von Agenten und Spitzeln im Königreich angesetzt haben. Bercagnys Definition der Hohen Polizei lautete: Es sei „hauptsächlich diejenige Polizei zu verstehen, welche zum Zweck habe, den Verbrechen gegen den Staat oder die geheiligte Person des Königs vorzubeugen und den verräterischen Umtrieben solcher Personen nachzuspüren, welche die Leichtgläubigkeit des Volkes zur Erregung von Unruhen missbrauchten” (Bercagny, zitiert nach: Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover, Bd. 2, S. 170).
Mit den Aufständen des Jahres 1809 geriet die Generaldirektion unter Legitimationszwang, so dass die Überwachung verschärft wurde. Die Praktiken der Ära Bercagnys sollten schon bald zu einem für die Entwicklung der westfälischen Polizei folgenreichen Skandal führen. Der Generalsekretär der Hohen Polizei, Schalch, hatte sich Zugang zum Kabinett des Finanzministers verschafft und wurde vom Ministier selbst beim Durchstöbern seiner Papiere überführt. In der Folge forderte Bülow Genugtuung vom König. Sämtliche Minister, Siméon an ihrer Spitze, schlossen sich an. Bercagny mußte seinen kompromittierten
Generalsekretär fallenlassen, der nach kurzer Haftzeit im Kastell zu Kassel des Landes verwiesen wurde − später arbeitete er jedoch wieder für die westfälische Polizei. Die Affäre führte jedoch dazu, daß der König Bercagnys Machtmonopol einschränken musste. Er enthob ihn seines Amtes als Generaldirektor und betraute ihn mit der wiederaufgelebten Polizeipräfektur der Stadt Kassel. In allen Departements fiel am 14.10.1809 die Hohe Polizei wieder den Präfekten zu und somit erlangte Siméon wieder mehr Einfluß auf die Gestaltung der Hohen Polizei.

Nach einer angeblichen Verschwörung, die im Mai 1811 als erfunden aufgedeckt wurde, verloren einige Geheimagenten Bercagnys ihre Stellungen. Ihm wurde infolgedessen die Polizeipräfektur entzogen, deren Aufgaben der König dem neuen Chef der Hohen Polizei seit April 1811, Jean François Marie de Bongars, übertrug. Bercagny wurde zunächst Kammerherr und Intendant der Schauspiele, was am Hof als Zeichen der Ungnade Jérômes gewertet wurde. Im November 1811 ernannte ihn der König zum Palastpräfekten und Oberintendanten der Schauspiele. 1812 wurde Bercagny schließlich als Präfekt in Magdeburg eingesetzt.


Weiterführend:

Rudolf Goecke, Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremdherrschaft
im Herzen Deutschlands 1807–1813. Nach den Quellen dargestellt von R. Goecke. Vollendet und hg. von Theodor Ilgen, Düsseldorf 1888.

Wolfram Siemann, „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung”. Die Anfänge der politischen Polizei 1806–1866, Tübingen 1985 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 14).

Friedrich Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französisch-westfälischen Herrschaft 1806–1813, von der philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen mit dem ersten Preise der Beneke-Stiftung gekrönte Schrift, 2 Bde., Hannover, Leipzig 1893–1895.

Friedrich Thimme, Neue Mittheilungen zur Geschichte der hohen oder geheimen Polizei des Königreichs
Westfalen, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen 3 (1898), S. 81–147.

Nicola Peter Todorov, L’administration du royaume de Westphalie de 1807 à 1813. Le département de l’Elbe, Saarbrücken 2011.

Abb. Schnupftabakdose, bezeichnet „In vino veritas”, Manufaktur Stobwasser, 1. Drittel des 19. Jh. Im Hintergrund an der Wand ein Gemälde mit einem Portät Napoleons.

 

Quelle: http://naps.hypotheses.org/293

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Mein erster Wikipedia-Artikel

Ein Beitrag von Nicolas Cauet.

Mein erster Wikipedia Artikel war die französische Zusammenfassung eines englischen Buchs, das seit über 20 Jahren erschienen ist und dessen Autor auch in Frankreich bekannt ist:  Julian Barnes und seinem Werk Flaubert´s Parrot (auf Französisch „Le perroquet de Flaubert“. ) Die Relevanzkriterien  waren erfüllt: Die Übersetzung wurde in einem bekannten Verlag veröffentlicht, es gibt zahlreiche andere Bücher desselben Autors und mehrere in zuverlässigen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichte Artikel über das Buch belegen den wissenschaftliche Wert und die Bedeutung meines Artikels.

 

1) Technische Eindrücke und Probleme

Für die Gestaltung meines Artikels habe ich mich von einem Muster inspirieren lassen, das ich in einem anderen Artikel gefunden habe. Ich fand allerdings schwierig, einen ganz neuen Artikel zu schaffen, denn es wird erst am Ende einer langen Seite angeboten: Man muss schon ein bisschen recherchieren und seinen Willen, einen Artikel zu verfassen, durchsetzen, bevor man zu dieser kleinen bescheidenen Eingabe gelangt!  Man kann es auch nicht als Entwurf auf Wikipedia speichern, so dass man m.E. den Artikel eher offline verfassen müsste. Wenn der Artikel in seinem aktuellen Stand nicht die Anforderungen der Online-Enzyklopädie erfüllt, kann er gleich gelöscht werden. Ich habe es zwei Mal erfahren, als ich nur die Seite erstellen wollte. Das hat mich einerseits irritiert, andererseits beruhigt: Die Kontrollverfahren hatten gut und schnell funktioniert.

Die größte Schwierigkeit war aber bei weitem die Syntax. Ich kenne mich in HTML nicht aus und sollte in der französischen Spielwiese ein paar Stunde üben, bevor ich in der Lage war, meinen eigenen Artikel herzustellen. Die französische Version der Spielwiese  ist im Übrigen umfangreicher als die deutsche, die nicht gereicht hätte, um meinen Artikel zu verfassen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die gewöhnungsbedürftige Wikipedia-Syntax viele Nutzer davon abgebracht hat, bei der Herstellung oder Verbesserung von Artikeln mitzumachen. Ich wundere mich auch, dass die „what you see is what you get“-Version, die besonders benutzerfreundlicher sein wird, noch nicht implementiert ist (EDIT: der Artikel wurde mitte Juli verfasst, seitdem ist die neue Version in Betrieb gekommen).

Die aufwendigste Aufgabe für mich war die Erstellung von Links zu den anderen Wikipedia-Artikeln: Nicht nur muss man Links im eigenen Artikel einbauen, sondern auch in anderen, z.B. auf die WP-Seite zu Julian Barnes. Ich fand das System von Verlinkung zu den Artikeln in anderen Sprachen besonders praktisch, habe aber noch nicht begriffen, wie man auf einen Wikipedia-Artikel in einer anderen Sprache verweist und wie die Kategorien zu finden sind. Möglicherweise könnte ich dann meinen Artikel noch besser verlinken, um  mir eine noch größere Leserschaft zu verschaffen! (es ist leider in der französischen Wikipedia nicht möglich zu beobachten, wie viele Leser die Seite aufgerufen haben, aber wenn ich mich auf Statistiken der deutschen Version beziehe, dürfte ich über 100 Leser gehabt haben)

Nachdem mein fertiger Artikel gespeichert wurde, haben die Administratoren nur syntaktische Unstimmigkeiten überarbeitet und der Artikel den passenden Kategorien untergeordnet.

 

2) Inhaltliche Merkmale

Die Gliederung meines Artikels hat sich an die Richtlinien von Wikipedia für Literaturwerke orientiert: in der Einleitung ein Überblick über die Bedeutung des Werkes in seinem literarischen Umfeld und eine sehr kurze Synopsis, dann eine detaillierte Wiedergabe der Handlung, schließlich die Hauptthemen des Buches aus literaturwissenschaftlicher Sicht.

Problematisch war nur der dritte Teil. Da ich mich mit dem Buch und dessen Autor in einer Hausarbeit auseinandergesetzt hatte, verfügte ich über ein breites Spektrum möglicher Interpretationen. Ich habe den Schwerpunkt auf die Verwandtschaft mit postmodernen Romanen gelegt, womit sich auch die meisten Literaturforscher beschäftigt haben.

Ich habe hingegen absichtlich die Rezeption des Buches unbeachtet gelassen, weil ich einerseits nicht die Möglichkeit (e.g. die Zeit) hatte, genügend in den Archiven von Zeitschriften zu recherchieren, andererseits, weil es nicht viel gebracht hätte, da die meisten Rezensionen eher biographisch waren, was vorrangig für den Hauptartikel zu Barnes relevant gewesen wäre.

Die Quellen, die ich benutzt habe, waren hauptsächlich auf Englisch. Ich habe mich dazu entschlossen, keine freie Übersetzung zu benutzen, weil die Zitate viel zu lang für meinen Artikel gewesen wären. Sie hätten zudem durch die beschränkte Auswahl das Problem der vermeidlichen Subjektivität meines Artikeltextes nicht aufgehoben. Ich habe also lediglich in Fußnoten auf die Artikel verwiesen, auf die ich mich bezogen habe.

Dies soll die Überprüfbarkeit meiner Aussagen gewährleisten, zumindest für diejenigen, die sich ernst mit dem Thema auseinandersetzen wollen. Den Anderen soll dies als ausreichenden Einblick dienen.

Wer sich ohne zu viel Mühe weiter informieren will, kann auf die Links klicken, die ich hinzugefügt habe: Es gibt in der französischen Wikipedia einen sehr gut geschriebenen Artikel  über die postmoderne Literatur, den ich mehrmals verlinkt habe, da er mit meiner Interpretation übereinstimmte. Das ist auch eine sehr gute Ergänzung zu vielen Themen, die in dem Buch von brisanter Bedeutung sind.

Wer noch mehr erfahren will, kann zwei interessante Links zu meinem Thema weiterfolgen. Es handelt sich zwar um die englische Seite des Autors, aber das war die einzige Seite, die mir vertrauenswürdig erschien. Die Admins haben die Verlinkung mit der Kategorie Englische Literatur hergestellt.

 

3) Prix Médicis essai oder nicht?

Während meiner Arbeit am Artikel habe ich auf amazon.fr gelesen, dass das Buch den französischen Literaturpreis Prix Medicis essai gewonnen habe. Ähnliches stand auch im französischen Artikel über Barnes, jedoch ohne Beleg. Auf der Seite des Autors fand ich aber keine Spur von dieser Auszeichnung, was mir verdächtig schien.

Ich habe also „Prix Médicis“ gegooglet und wurde auf eine gewidmete Seite weitergeleitet. Da stand aber ein anderes Buch, was mich sehr verwirrt hat. Es gibt nämlich einen Wikipedia-Artikel, in dem alle Preisträger erfasst werden. Dieser Artikel wurde am 17. Mai 2013 hergestellt und gibt keine Quelle an.

Auf der Suche nach einer zuverlässigeren Quelle habe ich in den Archiven einer französischen Zeitung einen Artikel von 1986 gefunden, der bestätigte, dass das Buch tatsächlich den Prix Medicis essai gewonnen hatte.

Ich habe eine Nachricht an den Verfasser des WP-Eintrags zum Prix Médicis der nicht stimmenden Wikipedia-Tabelle (der im übrigens auch Admin ist) geschrieben. Dort habe ich das Problem  von falschen Informationen und Quellenmangel thematisiert. Daraufhin antwortete er, dass die zuverlässige Quelle die Seite sei, die ihre falschen Informationen aus Wikipedia übernommen habe.

Wir sind also in einem typischen Fall von Verbreitung und Selbstbestätigung einer falschen Information, deren Ursprung unklar ist und die (trotz Korrektur) einen Schatten über die Zuverlässigkeit der ganzen Tabelle wirft, obwohl ich mich für solche einfachen und unbestreitbaren Daten auf Wikipedia gern verlassen hätte.

Am Beispiel dieser kleinen Geschichte gilt also für mich ein vorsichtigerer Umgang mit Wikipedia. Artikel, die gar keine Quellenangabe liefern, sollten gar nicht in Betracht gezogen werden. Dies war vielleicht die größte Lehre, die mir das Verfassen dieses Artikels brachte.

Zum Schluss kann man sagen, dass dieses Seminar mir von Nutzen war, weil ich jetzt besser einschätzen kann, was die Stärke und die Schwäche der Online-Enzyklopädie Wikipedia sind, die ich fast täglich benutze – und weiter benutzen werde, aber vorsichtiger. Ich werde mich vielleicht an die Ergänzung weiterer Artikel beteiligen, aber erst wenn die neue Benutzeroberfläche implementiert ist.

Quelle: http://wppluslw.hypotheses.org/463

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Heilige Kümmernis

2000 Jahre Katholizismus sind doch auch immer wieder für Überraschungen gut; so konnte ich gestern im Grazer Diözesanmuseum Bekanntschaft mit der Heiligen Kümmernis machen - dass geistliche Würdenträger eine Vorliebe für als weiblich eingestufte Gewandung haben, wusste ich ja, aber dass Gender Switching auch im Christentum vorkommt, war meiner verstockten Atheistenseele bislang unbekannt.

450px-Saint_Wilgefortis_Graz_20121006
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Saint_Wilgefortis_Graz_20121006.jpg
(Wikimedia, CC-BY-SA-3.0, Fotograf Gugganij)

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/498218047/

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Obstbäume – ein Politikum?

In meinem Bericht über den Ausflug in die Obstbaukolonie Eden hatte ich erwähnt, dass es auch in Oberbayern Vereine gab, die den Obstanbau intensivieren wollten. Ich hatte mich gefragt, ob es eventuell Ähnlichkeiten, sogar direkte Einflüsse zwischen den lebensreformerischen Obstromantikern und solchen lokalen Initiativen wie dem Bernrieder Obst- und Gartenbauverein geben könnte.

Apfelausstellung

Eine Apfelausstellung im Freilichtmuseum Skansen in Stockholm – auch gegenwärtig ziehen solche Veranstaltungen Besucher an. Foto: A. Schlimm, CC-BY-SA

Nun habe ich zumindest schon einmal angefangen, dieser Frage nachzugehen – etwas nebenher, denn ganz zentral ist die Frage für meine Untersuchung nicht. Die Unterlagen im Bernrieder Gemeindearchiv geben nicht besonders viel her; der Akt im Staatsarchiv München zur Obst- und Gemüseanbauförderung im Bezirk Weilheim ist hingegen ganz schön umfangreich.

Dort werden aber ganz andere Grundlagen und Motivationen der Obstbau-Förderung als in Eden sichtbar. Wie in anderen Territorien auch (und schon deutlich früher) war es im Königreich Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Anliegen von allerhöchster Stelle, den Obstbau zu intensivieren, beispielsweise Alleen mit Obstbäumen zu bepflanzen, um so ganz nebenbei zusätzliche Lebensmittel anzubauen. Aber warum eigentlich?

Der „Obstbaum-Freund“, ein Informationsblatt zum Obstbau, herausgegeben von der allgemeinen praktischen Gartenbau-Gesellschaft zu Frauendorf in Bayern, ist in der Hinsicht nicht allzu redselig. Dort wird lediglich betont, der Obstbau sei – direkt nach dem Getreideanbau – das „edelste, schönste und nützlichste Geschäft“, das nicht nur der Bauer, sondern eigentlich jeder Landbesitzer – und wenn er nur einen Garten sein Eigen nenne – betreiben könne. Hier taucht wieder eine Argumentation auf, die uns bereits aus den lebensreformerischen Kontexten bekannt ist: Der Obstbau mache keine große Arbeit: „Alle Zweige der ländlichen Oekonomie werden sorgfältig betrieben, und gerade derjenige, der bei der wenigsten Mühe den meisten Nutzen brächte, wird so unverantwortlich vernachläßiget.“ (Plan und Zwek [sic] des Obstbaumfreundes [1828], S. 2)

Offenbar waren aber die Bemühungen der Königlichen Kammer des Innern, die gemeinsam mit der Gartenbau-Gesellschaft eifrig für den Obstbau warb, nicht von besonderem Erfolg gekrönt. Immer wieder schrieb sie an die Gerichte (vor der Aufteilung von Verwaltung und Justiz in Bayern gab es keine Bezirksämter!), dass doch bitte die Hilfe, die der Gartenbauverein anbot – mit schriftlichem Informationsmaterial, der Zusendung von Bäumen und Saatgut, sogar der praktischen Unterweisung – angenommen werden solle. Aus dem Wust an Schreiben ist wohl für mich die Schlussfolgerung zu ziehen: Gebracht hat das alles nicht besonders viel.

Nun gibt es leider für die Zeit um 1912, als in Bernried der Gartenbauverein gegründet wurde, keine Aktenüberlieferung aus dem Bezirksamt. Erst aus den 1920ern fand ich wieder Material, das darauf hindeutet, dass der Obstanbau zu einem dringlichen politischen Thema geworden war, und zwar aus volks- wie aus betriebswirtschaftlichen Gründen:

„Alljährlich fliessen ungeheuere Summen deutschen, sauer erworbenen Geldes für Obst und Südfrüchte ins Ausland. Alle ländlichen Kreise leiden unsagbar schwer unter den heutigen wirtschaftlichen Nöten! Immer lauter und eindringlicher wird der Ruf nach Erhöhung der Einnahmen! Die Einnahmen des einzelnen Landwirtes lassen sich erhöhen, die Abwanderung deutschen Geldes eindämmen durch stärkere Beachtung und namentlich besserer Pflege eines landwirtschaftlichen Erwerbszweiges, der bis jetzt gerade in Oberbayern noch zu wenig Beachtung gefunden hat: des OBSTBAUES.”

So heißt es in einem Aufruf, den der Oberbayerische Kreisverband für Obst- und Gartenbau im November 1927 an „die ländliche Bevölkerung, Landwirtschaftsstellen, Geistlichkeit, Lehrerschaft, Bezirksverwaltungsbehörden und Gemeinden Oberbayerns“ richtete, und der ebenfalls im oben angesprochenen Akt enthalten ist. Von der Romantik einer naturgemäßen Lebensweise ist hier wenig zu spüren. Es geht nicht um den Aufruf zur Umkehr in ein irdisches Paradies, sondern darum, das ungenutzte Potential im Obstbau zu nutzen und das große Geschäft mit dem Obst nicht der ausländlichen Landwirtschaft zu überlassen.

Dass aber verschiedene Akteure wie Vereine und Verbände, die Bezirksverwaltung, die Regierung von Oberbayern und schließlich (schon weniger überraschend) der Reichsnährstand sich so viel mit dem Obst- und Gemüseanbau beschäftigte, finde ich sehr interessant. Dabei wurde der Anbau von Obst zu einem politischen Thema, indem er mit den verschiedensten gesellschaftspolitischen Zielsetzungen verbunden wurde. Zwischen herrschaftlicher Landesverbesserung, lebensreformerischer Obstromantik, wirtschaftspolitischer Krisenbekämpfung und der Forcierung von Autarkie und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bis in die Spitzen der Obstbäume spannte sich ein Feld politischer Praktiken und auch Auseinandersetzungen auf. Hier kann man auch beobachten, wie sich die unterschiedlichsten Diskurse und Praktiken in verschiedenen räumlichen Kontexten – von weltwirtschaftlichen Verflechtungen bis hin zur Organisation auf dörflicher Ebene – etablierten. Und das ist es, was mich in meinem Projekt interessiert – wenn auch nicht nur am Beispiel von Obstbäumen.

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Quellen:

„Plan und Zwek [sic] des Obstbaumfreundes: Sämmtlichen hohen Regierungen ans Herz gelegt“, in: Probeblatt: Der Obstbaum-Freund, Nr. 1, 1. Jahrgang, 1. Jäner 1828, Herausgegeben von der allgemeinen praktischen Gartenbau-Gesellschaft zu Frauendorf in Bayern, S. 1-2.

Ein Sonderdruck der ersten Ausgabe liegt – offenbar als Werbemaßnahme dorthin gelangt – im angesprochenen Akt im Staatsarchiv München, Best. LRA 7067: Akt des königlichen Bezirksamtes Weilheim: Förderung des Obst- und Gemüsebaues.

Die Zeitschrift erschien 1828 bis 1843 und ist in verschiedenen Bibliotheken einsehbar [s. ZDB].

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An der TU Berlin gibt es ein Forschungsprojekt „Amtshausgärten“, das unter anderem am Beispiel der Plantage der Herrenhauser Gärten im Kurfürstentum Hannover den Zusammenhang von Verwaltungsstrukturen und Landesverbesserung zwischen 1750 und 1850 erforscht. Dabei geht es viel um die Verbreitung von Obstbau-Wissen. Der spannende Vortrag der Projektbearbeiterinnen Sylvia Butenschön und Heike Palm auf der GfA-Tagung 2013 hat mich unter anderem auf das Thema Obstbau aufmerksam gemacht.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/185

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Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, Münster, 2013

933-5Bernd Hüttner rezensiert auf der website des Magazins “prager frühling” das Buch
Gottfried Oy/Christoph Schneider: Die Schärfe der Konkretion. Reinhard Strecker, 1968 und der Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Historiografie, Münster, 2013, 252 S., 24,90 Euro
Er schreibt: “Der 1930 geborene Reinhard Strecker organisierte 1958 aus dem SDS heraus eine Petition an den Bundestag, in der eine Verfolgung der Straftaten von Richtern, Ärzten und Staatsanwälten während des Nationalsozialismus gefordert wurde. Aus den dafür mühsam zusammengetragenen Materialien erstellte er zusammen mit anderen eine Ausstellung, die erstmals – eher halböffentlich – im Mai 1959 im Rahmen einer Konferenz des SDS in Frankfurt/Main gezeigt wurde. Thema der Konferenz war der zehnte Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes.” Abschließend urteilt er: “Oy und Schneider haben mit ihrem Buch das Wirken von Strecker und anderen Einzelpersonen gewürdigt. Neben der lesenswerten Gesellschaftsdiagnose liefern sie ein eindrückliches Beispiel dafür, dass das engagierte Handeln von einzelnen Menschen sehr wohl Bedeutung und Folgen hat.” (Zum Text der Rezension)
Johannes Spohr hat es bereits Mitte Juli auf der Themenseite Geschichte der Rosa Luxemburg Stiftung besprochen. Spohr schreibt zum Ende seiner ausführlichen Besprechung: “Es ist verdienstvoll, dass die Autoren sich die Mühe machen, den aufwendigen und erkenntnisreichen Weg der Konkretion zu gehen. Sie zeigen damit, dass es Wege gibt, um sich jenseits von „68er-Bashing“ und der Reproduktion des Mythos’ der über den NS aufklärenden Generation den tatsächlichen Formen von Auseinandersetzung zu nähern.” (Zum Text der Rezension).
Deutschlandradio Kultur hat, ebenfalls im Juli, über das Buch berichtet. Winfried Sträter schreibt: “…wer genauer wissen und verstehen will, wie sich die Bundesrepublik nach der NS-Katastrophe entwickelt hat, dem sei das Buch von Gottfried Oy und Christoph Schneider ans Herz gelegt. Es ist ein aufschlussreiches Buch, das nicht mit großem Geschrei auf den Buchmarkt drängt.” Abschließend urteilt er: “Historisch interessierten Lesern ist das Buch sehr zu empfehlen. Mit der Konkretion der persönlichen Geschichte eines Aufarbeitungspioniers und der Reflexion der bundesdeutschen Entwicklung ist es klug aufgebaut, mit den Erläuterungen von Namen, Begriffen und Hintergründen ist es auch verständlich für alle, die die historischen Details nicht kennen. Was fehlt, ist – neben einem Register – Bildmaterial.” (Zum Text der Rezension)


Einsortiert unter:Biographie, Ereignis, Erfahrungen, Erinnerung, Faschismus, Geschichtspolitik, Historiker, Linke Debatte, Literatur, Vermittlung

Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2013/09/26/reinhard-strecker-1968-und-der-nationalsozialismus-in-der-bundesdeutschen-historiografie-munster-2013/

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Günter Hacks Rezension von Bleeding Edge

Günter Hack rezensiert für FM4 Bleeding Edge, den neuen Pynchon und muss konstatieren, dass die NSA uns sogar die Literatur verpfuscht und [e]s ist, als ob die Realität mit Pynchon nun endlich Schritt halten, sie ihn gar überholen könnte; der neue Roman ist also keiner der "großen" Pynchons, aber doch ein ZIP-File, das sich im Gehirn des Lesers auf tausendfache Größe dekomprimiert, eine Wunderkerze (...) im geistigen Permafrost der Dauerkrise.

Pynchon, Thomas: Bleeding Edge. New York: Penguin, 2013.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/498217696/

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