06. Benjamin und das Ereignis im Zeitalter seiner technischen Multiplizierbarkeit

Per Fingerdruck in die Ewigkeit

Neulich im Zoo, Abteilung für Fische, Reptilien, Amphibien und ähnliches: Menschen, die vor Aquarien und Terrarien stehen, ohne auf die Tiere selbst oder wenigstens auf die sie einsperrende Glasscheibe zu sehen, sondern beständig den Bildschirm ihres Smartphones anstarren und ein Foto nach dem anderen schießen, möglicherweise auch den einen oder anderen Kurzfilm drehen. Ich erwische mich bei einer viel zu naheliegenden kulturpessimistischen Reaktion: Warum, um Himmels willen, muss man bei einem Zoobesuch Zierfische, Stabschrecken oder Tiefseequallen fotografieren, anstatt sie einfach nur anzusehen? Was macht man zu Hause mit diesen Dutzenden von Bildern – außer löschen, um danach neue unsinnige Bilder zu knipsen?

Bevor mich die nicht mehr ganz frische Überzeugung vom Untergang des Abendlandes endgültig in ihre Krallen bekommt, fällt mir dankenswerterweise noch ein, dass ein anderer Beobachter sich hätte fragen können, warum man sich als halbwegs reflektierter Mensch in eine Institution namens „Zoologischer Garten“ begibt, um dort in naturidentischen Mikrobiotopen Tiere zu betrachten, die in diesem Gefängnis nun wirklich nichts verloren haben. Mein Verhalten gibt also nicht minder Anlass zu Stirnrunzeln und Kopfschütteln.

Um hier aber nicht in thematisch unüberschaubare Gefilde wie Mensch-Tier-Beziehungen zu geraten, bleiben wir zunächst bei den Alltags- und Alles-Fotografen. Die Existenz dieses Phänotypus ist nun alles andere als eine aufregende Beobachtung, schließlich haben entsprechende Bildgebungstechniken schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Womit wir es aber in der jüngeren Vergangenheit zu tun haben, ist das exponentielle Wachstum der fotografischen Bildproduktion durch die Unabhängigkeit vom Fotoapparat. Man muss schon seit einer kleinen Weile keine unhandliche Kamera mehr mit sich herumschleppen, man kann einfach den Apparat zücken, der früher vor allem ein Telefon war, um das gewünschte Foto zu machen. Die beständige Verfügbarkeit – lediglich gebremst durch die Akkulaufzeit – lädt ein zum Dauerknipsen. Die Frage, die mich dabei interessiert, kann man in gut Benjaminscher Manier stellen: Welche Rückwirkungen hat diese Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation auf unser Verständnis von Geschichte und ihren Ereignissen (S. 12)?

Abgesehen von der Frage, wie sehr wir uns auf ein Leben vor und durch den Bildschirm einlassen wollen, muss ich wohl neidlos anerkennen, dass all die Fotografierer und Videografierer, all die Dokumentaristen ihres eigenen Alltags ein wesentlich tiefer gehendes Verständnis von Geschichte haben als ich. Sie arbeiten nämlich mit Hochdruck am Projekt der Auto-Historisierung, der durchgehenden und umfassenden Überlieferung ihres eigenen Lebens – das höchstwahrscheinlich nichts „Historisches“ (im Sinne von „Außergewöhnliches“) aufzuweisen haben wird, außer der Überlieferung selbst. Unzählig viele Menschen sind genau in diesem Moment dabei, an ihrer eigenen Unsterblichkeit zu basteln, indem sie ihr Dasein bildlich fixieren. Auch das hat schon Walter Benjamin in seiner eigenen Gegenwart beobachtet: Man kann sich mit einem Fingerdruck in die Ewigkeit katapultieren (S. 131). Die Kamera im Mobiltelefon potenziert diese Möglichkeiten nochmals um ein Vielfaches, weil sich der Weg zwischen Objektsichtung, Aufnahme und Veröffentlichung auf ein Minimum reduziert hat.

Sofern sich das Problem der dauerhaften Datensicherung halbwegs in den Griff bekommen lässt – schließlich sind elektronische Speichermedien für eine längerfristige Archivierung denkbar ungeeignet –, werden zukünftige Historiker/innen in einem unüberschaubaren Ozean umfassend dokumentierter Lebensläufe baden können. Hier entsteht eine eigene Parallelüberlieferung zur offiziösen und institutionell kontrollierten Geschichtsschreibung der Mächtigen. Die Geschichte des Alltags könnte in gänzlich neue Dimensionen vorstoßen, weil die Vielen eben nicht mehr nur stumme Objekte der Historiographierung derjenigen sind, die sich (auch überlieferungstechnisch) besser organisieren können, sondern die technischen Möglichkeiten ihnen eigene Stimmen und Perspektiven verschaffen. „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.“ (S. 32) Und sei es auch nur beim Bestaunen von Zierfischen.

Nachgemachte Ereignisse

Ebenso dürften künftige Historiker/innen bei der Sichtung dieses Materials aber feststellen, dass sich in den autobiographischen Bilderstrecken von der Wiege bis zur Bahre nicht nur der widerständige Eigensinn eingenistet hat, sondern dass hier zugleich machtgesättigte Diskurse für ihre eigene Reproduktion und Multiplikation sorgten. Und da kann ich den Kulturpessimisten in mir nicht ganz zum Schweigen bringen. Denn werden nicht massenhaft diejenigen Ereignisse als Ereignisse festgehalten, die zuvor schon als Ereignisse apostrophiert und inszeniert wurden? Was sieht man denn inzwischen bei Krönungsfeierlichkeiten, Staatshäupterbegegnungen, Sportwettkämpfen oder Prominentenauftritten außer einem Wald von hochgereckten Handys? Die Zuschauerschar wird nachdrücklich auf die „historische“ Ereignishaftigkeit eines Geschehens hingewiesen, um es dann brav für den privaten Rahmen zu reproduzieren und im Netz zu multiplizieren. Was als nächstes geschehen wird, ist immer schon längst geschehen, weil in hinreichendem Maß durch eine ausgefeilte Inszenierung geplant. Ereignisse werden gemacht – und nachgemacht. Der große historische Auftritt, minutiös im Vorhinein einstudiert, wird tausendfach aus jeweils individuellen, zugleich gänzlich stromlinienförmigen Blickwinkeln festgehalten. Ereignisse werden (und sind) damit in einem kaum noch steigerbaren Maß selbstreferentiell, weil in den Medien vorkommt, was in den Medien vorkommt.

Bei Ereignissen, denen die Menschen nur noch durch ihre Handy-Kameras beiwohnen, ohne das Geschehen selbst zu betrachten, ist diese Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit der historischen Archivierung mit Händen zu greifen: Hier bestätigt sich die Bekanntheit des Bekannten, hier öffnet sich das Fenster zur öffentlichen Multiplizierbarkeit. Im Moment, in dem „es“ geschieht (was immer „es“ auch ist), sieht man „es“ schon durch die mediale und damit auch historische Bedeutsamkeit suggerierende Vermittlung des eigenen kleinen Taschenbildschirms: Mama, wir sind im Fernsehen!

Die Körnung der Ereignisse

Aber wie schon Benjamin wusste: „Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“ (S. 17) Es sind mithin nicht nur die inszenierten Ereignisse, die auf ihre Multiplikatoren wirken, sondern es sind ebenso die Multiplikatoren, die nun Ereignisse erzeugen – und nicht selten völlig ungeahnte.

Die Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation demokratisiert das historische Ereignis. Es lässt sich nicht mehr absehen und nicht mehr kontrollieren, wann ein Ereignis zu einem solchen wird. Und unerwünschte Ereignisse lassen sich inzwischen auch schwerer unterdrücken. Die Planbarkeit von Historischem entzieht sich zumindest teilweise dem Zugriff der Machthaber. Die allzeit bereiten Bildaufzeichnungsgeräte, die im Stile eines fotografierenden Revolverhelden in Sekundenschnelle gezückt werden können, sind auch überall dort, wo eigentlich nichts passieren sollte. Ereignisse lassen sich von unten machen. Das mag gänzlich Unspektakuläres betreffen, wenn private Videos via Youtube eine Aufmerksamkeit erhalten, die sie überhaupt erst zu Ereignissen machen. Das betrifft aber auch gravierendere Geschehnisse wie Demonstrationen, Proteste, Aufstände oder Kriege – man sehe sich nur die Dokumentation des arabischen Frühlings an –, wenn das Fehlen anderer Beobachter die Handy-Kamera zur dokumentarischen Macht werden lässt.

Mit Blick auf die Presse im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Benjamin davon gesprochen, dass immer mehr Lesende inzwischen zu Schreibenden werden (S. 32f.). Aufs Historische übertragen, kann man feststellen, dass immer mehr Ereignisrezipienten zu Ereignisproduzenten werden. Die fernsehbebilderten Abendnachrichten sind deutlich geprägt durch das Informationsmaterial von (nicht selten unfreiwilligen) Amateurkorrespondenten. Es vergeht kaum eine Sendung, in der nicht ein privates Foto oder ein verwackelter Videomitschnitt Verwendung finden. Naturkatastrophen, Unfälle oder Anschläge – mit anderen Worten, all die plötzlich eintretenden Dinge, die nicht schon als pünktlich terminierte Ereignisse angekündigt und vorbereitet worden waren, werden zum Tummelfeld der Knipser und Filmer. Diese Bilder in eher schlechter Auflösung und mit zu geringer Pixelzahl, diese verwackelten Videos, bei denen man zuweilen vor allem sieht, dass man nichts sieht, außer plötzlich explodierenden Farben, kombiniert mit einem wilden Stimmengewirr auf der Tonspur, können dem Geschehen wieder etwas Anarchisches zurückgeben. Auch wenn es sich zumeist um wenig erfreuliche Vorgänge handelt, um Tod und Zerstörung, so halten diese Bilder doch auch eine historische Lehre parat: Die Körnung der Bilder verweist auf die Körnung der Ereignisse. Sie zeigen uns die Unschärfe des Plötzlichen.

[Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar v. Detlev Schöttker, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2012]


Einsortiert unter:Geschichtskultur, Geschichtsmedien Tagged: Alltagsgeschichte, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Fernsehen, Film, Foto, historisches Ereignis, Walter Benjamin

Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/05/05/06-benjamin-und-das-ereignis-im-zeitalter-seiner-technischen-multiplizierbarkeit/

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Geschichte von Klöstern und Orden #OpenAccess (3)

In dieser Rubrik werden Bücher und Artikel, die sich mit der Geschichte von Klöstern und Orden beschäftigen und die nun (auch) online – und zwar Open Access – zur Verfügung stehen, aufgeführt. Das soll auch als Anreiz verstanden werden.    Lennart Bohnenkamp, Regino von Prüm und die religiöse Bedeutung der Geschichtsschreibung im Frühmittelalter, in: Concilium medii aevi 14 (2011), S. 289–317, online: http://cma.gbv.de/dr,cma,014,2011,a,13.pdf.   Caroline Bruzelius, Nuns in Space: Strict Enclosure and the Architecture of the Clarissas in the Thirteenth century, in: Ingrid Peterson (Hg.), Clare of Assisi. A [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4174

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Neuerscheinung: Astrid Kusser zum Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900

Interessante Neuerscheinung bei Transcript, die auch auf die Swings eingeht:

Kusser, Astrid: Körper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900. Bielefeld: Transcript, 2013.

Verlags-Info:
Die Geschichte schwarzer Modetänze wird bislang meist augenzwinkernd als ansteckendes Tanzfieber verhandelt. Doch nicht mysteriöse Erreger, sondern handfeste politische Konflikte um Bürgerschaft, Arbeitsteilung und Geschlechterverhältnisse waren ihre Grundlage. Die Ästhetik der schwarzen Diaspora machte diese Konflikte auf den Tanzflächen neu verhandelbar. Tanztechnik verbündete sich dabei mit Medientechniken, die ebenfalls mit Bewegung, Wahrnehmung und der Möglichkeit von Verwandlung experimentierten. Astrid Kusser geht dieser Geschichte zwischen New York, Buenos Aires, Kapstadt, Viktoria in Kamerun und Berlin nach.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/375130343/

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Neuerscheinung: Astrid Kusser zum Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900

Interessante Neuerscheinung bei Transcript, die auch auf die Swings eingeht:

Kusser, Astrid: Körper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900. Bielefeld: Transcript, 2013.

Verlags-Info:
Die Geschichte schwarzer Modetänze wird bislang meist augenzwinkernd als ansteckendes Tanzfieber verhandelt. Doch nicht mysteriöse Erreger, sondern handfeste politische Konflikte um Bürgerschaft, Arbeitsteilung und Geschlechterverhältnisse waren ihre Grundlage. Die Ästhetik der schwarzen Diaspora machte diese Konflikte auf den Tanzflächen neu verhandelbar. Tanztechnik verbündete sich dabei mit Medientechniken, die ebenfalls mit Bewegung, Wahrnehmung und der Möglichkeit von Verwandlung experimentierten. Astrid Kusser geht dieser Geschichte zwischen New York, Buenos Aires, Kapstadt, Viktoria in Kamerun und Berlin nach.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/375130343/

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»einsichten« in “Planet Clio. Geschichtswissenschaftliche Blogs auf einen Blick”

http://planet-clio.org »einsichten« ist mittlerweile bei planet-clio.org, dem Digest für deutschsprachige geschichtswissenschaftliche Blogs aufgenommen. Es befindet sich damit in einer Reihe mit etablierten Blogs wie Arbeitskreis Policey/Polizei im vormodernen Europa, DHd-Blog, Digitale Regionalgeschichte, Frühneuzeit-Blog der RWTH, Kritische Geschichte oder weblog.histnet.ch.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/05/4205/

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Social Media Learning (oder: die Vielfalt der heutigen Medien), Präsentation v. Martin Ebner u. Sandra Schön

Die Präsentation des Grazer Universitätsdozenten Martin Ebner gibt einen Überblick über die verschiedenen Facetten des Web 2.0 (Wikis, Blogs, Podcasts, Microblogging etc.) sowie ihrer Einsatzmöglichkeiten im Unterricht.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/05/4196/

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Twitternde Dozenten werden von Studenten als glaubwürdiger erachtet

http://dx.doi.org/10.1080/17439884.2010.534798 In ihrem 2011 in “Learning Media and Technology” publizierten Beitrag skizziert Kirsten A. Johnson, Assistant Professor in the Department of Communications at Elizabethtown College in the USA die Möglichkeiten einer Verwendung des Kurznachrichtendienstes Twitter, um durch gezieltes Freigeben persönlicher Informationen eine Vertrauensbasis zwischen den Studenten und dem Dozenten zu schaffen. Via Basedow1764 [03.05.2013], http://basedow1764.wordpress.com/2013/05/03/twitternde-professoren-sind-glaubwurdiger

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2013/05/4193/

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Israel als prekärer Sozialisationsraum – Eine Kurzdarstellung des Pilotprojektes Adoleszenz in interkultureller Konfliktlage von Marie Fromme und Boris Zizek

Das Forschungsprojekt Adoleszenz in interkultureller Konfliktlage – Israel als prekärer Sozialisationsraum fokussiert den Prozess der Adoleszenz in einer besonderen, sozial, politisch und kulturell prekären Situation. Unter Adoleszenz verstehen wir die auf die Jugend folgende, den Übergang zum Erwachsenenalter im Sinne … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/4780

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Israel als prekärer Sozialisationsraum – Eine Kurzdarstellung des Pilotprojektes Adoleszenz in interkultureller Konfliktlage von Marie Fromme und Boris Zizek

Idee und Fragestellung des Projekts Das Forschungsprojekt Adoleszenz in interkultureller Konfliktlage – Israel als prekärer Sozialisationsraum fokussiert den Prozess der Adoleszenz in einer besonderen, sozial, politisch und kulturell prekären Situation. Unter Adoleszenz verstehen wir die auf die Jugend folgende, den … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/4780

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Ein Bild sagt mehr … (V): Confucius Sinarum Philosophus

Confucius sinarum philosophus, sive, Scientia sinensis latine exposit (1687) ist eine annotierte Übersetzung von drei der Vier Bücher (sishu 四書) ins Lateinische. Der Band fasst die Arbeiten zahlreicher europäischer China-Missionare zusammen, die zum Teil in separaten Ausgaben erschienen waren; das Vorwort ist von Philippe Couplet (1623-1693) unterschrieben, stammt allerdings zumindest teilweise aus der Hand von Prospero Intorcetta (1626–1696), die Übersetzungen sind unter anderem von Christian Wolfgang Herdtrich (1625–1684) und François de Rougemont (1624-1676). [1]

Der Band enthält

Confucius Sinarum Philosophus

Confucius sinarum philosophus, sive, Scientia sinensis latine exposita (1687)
Internet Archive

  • eine Widmung an Ludwig XIV in Briefform
  • eine Karte von China (die 15 Provinzen der Ming-Zeit)
  • eine umfangreiche Einleitung, die Angaben zur Entstehung des Werkes enthält
  • eine Vita des Kong Qiu 孔丘 (vermutlich  551-479 v. Chr.) der Meister Kong (Kongzi 孔子) genannt wurde – woraus im Westen Konfuzius/Confucius wurde
  • die Übersetzungen von drei der “Vier Bücher”
    • eine Übersetzung von Daxue 大學 (“Das große Lernen”)
    • eine Übersetzung der Lunyu 論語 (“Gespräche”)
    • eine Übersetzung von Zhongyong 中庸 (“Mitte und Maß”)[2]
  • Couplets Tabulae Chronologicae Monarchiae Sinicae, eine tabellarische Geschichte Chinas in 2 Teilen, Teil 1 von 2952 v. Chr. bis zur Zeitenwende, Teill 2 bis ins Jahr 1683.

Der Vita des Kong Qiu ist eine Illustration vorangestellt, die zum Archetyp westlicher ‘Konfuzius’-Abbildungen wurde. Die Darstellung zeigt eine überlebensgroße stehende Figur in Frontalansicht vor einer Bibliothek.

Die Figur wird durch die Legende unterhalb des Bildes als “孔伕子 CVM FU TSE” identifiziert – und für den des Chinesischen kundigen durch die Schriftzeichen an der Rückwand (s.u.). Sie ist in wallende Gewänder mit fast bis zum Boden reichenden Ärmeln gehüllt und hält in den Händen Hand ein hu 笏 (auch huban 笏板 oder shouban 手板), eine lange, schmale Bambustafel, die von Beamten bei Audienzen benutzt wurde. Die Gesichtszüge sind wenig asiatisch, besonders auffällig ist der üppige Vollbart.

Die Bibliothek entspricht der in Europa vertrauten Form, die dargestellten Bücher sind dicke, auf Bünde geheftete, in Leder gebundene Folianten, die teils in den Regalen stehen, teils liegen. Chinesische Bücher wirken auf den europäischen Betrachter weniger beeindruckend und wenig repräsentativ – es sind überwiegend kleinere Formate/Hefte in der seit dem 16. Jh. verwendeten sog. “Japanbindung” (xianzhuang 綫裝). Da die Hefte weiche Einbände haben, werden werden mehrere Hefte in einem steifen Umschlag (einfacher Wickel-Umschlag oder Schachteln – jeweils mit Knebelverschlüssen) zusammengefasst.

Auf dem Giebel wird diese Bibliothek bezeichnet – in Schriftzeichen 國學, mit Transkription ‘qúĕ hiŏ’ (guoxue) und Übersetzung “Gymnasium Imperii”. Hinter der Figur des Kong Qiu sind an einem langen Tisch Schreiber an der Arbeit. Einzelne Regalböden sind beschriftet, auf den Brettern in Transkription, über den Büchern ‘schweben’ Schriftzeichen.

Links von oben nach unten:

  • 書經 Xu-Kim  (Shūjīng - “Buch der Urkunden”)
  • 春秋 Chun Cieu (Chūnqiū – “Frühlings- und Herbst-Annalen)
  • 大學 ta hio (Dàxué – “Das große Lernen”)
  • 中庸 chum yum (Zhōngyóng – “Mitte und Map”)
  • 論語 Lun yu (Lùnyǔ – “Gespräche”)

Rechts von oben nach unten:

  • 禮記 Li Ki (Lǐjì – “Aufzeichnungen über die Riten”)
  • 易經 Ye Kim (Yìjīng – “Buch der Wandlungen”)
  • 繋辭  Hi Cu (Xici – “Abhandlungen zu den Urteilen”)
  • 詩經 Xi Kim (Shījīng – “Buch der Lieder”)
  • 孟子 mem cu (Mèngzǐ – “Menzius”)

Von dem erst in der Han-Zeit entstandenen Xici abgesehen, sind das die Sìshū Wŭjīng 四書五經, die “Vier Bücher und Fünf Klassiker”, vor 300 v. Chr. entstandenen Texte, die den konfuzianischen Kanon bilden.[3]

Unterhalb der Bücherregale stehen jeweils neun dreieckige Gedenktafeln (páiwèi 神位) mit den Großjährigkeitsnamen (zi 字) von einigen Schülern des Kongzi[4], die teilweise in den Schraffuren fast untergehen – zu erkennen sind u.a. links (von vorne): 子魯 Zilu (i.e. Ran Ru 冉孺), 孟子 Mengzi, 子貢 Zigong (i.e.  Duanmu Ci 端木賜) und 子遲 Zichi (i.e. Fan Xu 樊須).

An der Rückwand, die zu einem Garten geöffnet scheint, stehen große Schrifzeichen, die – zusammen gelesen – einen Hinweis auf den Dargestellten geben: 仲尼天下先師 Zhong Ni, tianxia xianshi (“Zhongni, der erste Lehrer der Welt”). Zhongni 仲尼 war der Großjährigkeitsname (zi) des Kong Qiu, xianshi 先師 “erster Lehrer” ist eine häufige Bezeichnung für ihn.[5]

Statue des Kong Qiu im Beijing Kongmiao 北京孔庙 Foto: Georg Lehner 2011

Statue des Kong Qiu im Beijing Kongmiao  北京孔庙 (2011)
Foto: © Georg Lehner

Von den Schriftzeichen abgesehen, hat die Darstellung wenig ‘Chinesisches’ – und doch ähnelt diese wohl früheste Darstellung des ‘Konfuzius’ der auch heute noch in China vertrauten Darstellung des Kong Qiu.

 

  1. Zum Entstehungskontext und zur Veröffentlichung vgl. das Kapitel “Printing Confucius in Paris” in: Nicholas Dew: Orientalism in Louis XIV’s France (Oxford: Oxford University Press 2009) 205-233. Digitalisate von Confucius Sinarum Philosophus → Bibliotheca Sinica 2.0
  2. Es fehlt somit das vierte der Vier Bücher,  Mengzi 孟子 (“Mencius”) – die Übersetzung von Mengzi erschien 1711 in den Sinensis Imperii Libri Classici Sex des François Noël. Dazu David E. Mungello: “The First Complete Translation of the Confucian Four Books in the West”. In: International Symposium on Chines e-Western Interchange in Commemoration of the 400th Anniversary of the Arrival of Matteo Ricci, S.J. in China (Taipei 515-1983), vgl. Werner Lühmann, Konfuzius in Eutin. Confucius Sinarum Philosophus – Die früheste lateinsiche Übersetzung chinesischer Klassiker in der Eutiner Landesbibliothek (=Eutiner Bibliothekshefte 7, Eutin: Eutiner Landesbibliothek 2003) 45 f.
  3. Vier Bücher: Daxue 大學 (“Das große Lernen”), Lunyu 論語 (“Gespräche”), Zhongyong 中庸 (“Mitte und Maß”),  Mengzi 孟子 (“Mencius”); Fünf Klassiker: Shijing 詩經 (“Buch der Lieder”), Shujing 書經 (“Buch der Urkunden”), Liji  禮記 (“Aufzeichnungen über die Riten), Yijing 易經 (“Buch der Wandlungen”), Chunqiu 春秋 (“Frühlings- und Herbstannalen”).
  4. Nach Sima Qian hatte Kongzi Tausende von Schülern, doch nur 77 meisterten die Lehren, einige dieser Schüler werden in den Lunyu genannt.
  5. Lühmann (2003) 35 übersetzt “Der mittlere Ni”.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/607

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