Zum Konzept von Docupedia-Zeitgeschichte

von Dr. Jürgen Danyel, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Docupedia – eine Standortbestimmung der Zeitgeschichte als Disziplin

Die zeithistorische Forschung in Deutschland hat ihre Fragestellungen, Perspektiven und methodischen Zugriffe in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet. Die Disziplin ist inzwischen durch einen enormen inneren Differenzierungsprozess gekennzeichnet. Betrachtet man die Konjunkturen der zeithistorischen Forschung in den letzten Jahrzehnten, so überrascht, dass es bislang kaum Versuche gibt, den inzwischen erreichten Stand der Diskussion um zentrale Begriffe, forschungsleitende Konzepte und Methoden der Zeitgeschichte im Sinne einer Selbstverständigung der Disziplin über ihre eigenen Grundlagen zu dokumentieren. Die „neue Unübersichtlichkeit“ einer stark ausdifferenzierten Forschungslandschaft erfordert jedoch dringend eine solche theoretische und methodische Selbstvergewisserung, nicht zuletzt um einen Bezugsrahmen für die Flut der Spezialuntersuchungen zu schaffen.

Docupedia-Zeitgeschichte möchte einen Beitrag zur theoretischen und methodischen Standortbestimmung der Zeitgeschichte als wissenschaftlicher Disziplin leisten. Das für das Internet konzipierte Nachschlagewerk wird zentrale Begriffe, Konzepte, Forschungsrichtungen und methodische Ansätze der zeithistorischen Forschung dokumentieren. Darüber hinaus werden theoretische Ansätze aus dem Bereich der Philosophie, Soziologie, Anthropologie und anderer Nachbardisziplinen einbezogen, die in zunehmendem Maße von Zeithistorikern rezipiert und für ihre Forschungen adaptiert werden. Vorgestellt und bilanziert werden soll das deutlich erweiterte Spektrum der im Bereich der zeithistorischen Forschung genutzten Quellen und damit verbundenen methodischen Fragen sowie wichtige Debatten, von denen Impulse für die Forschung und das Selbstverständnis des Faches ausgegangen sind.

Zeithistorische Forschung im Umbruch

Nach wie vor bilden die Erforschung der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus zentrale Felder der deutschen, zum Teil auch der internationalen Forschung und innerfachlichen Debatte. Gleichzeitig hat die Disziplin nach 1989 mit der Erforschung der Geschichte der DDR und der deutschen Teilung sowie mit der Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit neue Impulse erhalten. Diese Entwicklung hatte nicht nur institutionelle Neugründungen bzw. neue Schwerpunktbildungen etablierter Forschungseinrichtungen zur Folge, sondern war durch eine Fülle von Projekten, Publikationen und Debatten gekennzeichnet. Die dabei zutage getretene „Verinselung“ und Überspezialisierung konnte inzwischen durch vergleichende Fragestellungen und eine damit verbundene Ausweitung der Perspektive auf die Geschichte der staatssozialistischen Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa aufgebrochen werden.

Die Rolle der Medien in den modernen Gesellschaften wie auch die Medialisierung zeithistorischer Themen sind zu wichtigen Forschungsfeldern der Zeitgeschichte geworden. Audiovisuelle Materialien sind zu gleichwertigen Quellen der Forschung avanciert – zumindest auf der programmatischen Ebene. Ähnlich wie von der Kulturgeschichte sind außerdem von der Visual History wichtige Impulse für die zeithistorische Forschung ausgegangen.

Öffentliche und innerfachliche Debatten haben immer wieder die Theorie- und Methodendiskussion des Faches vorangetrieben. Die Diskussionen um einen deutschen „Sonderweg“, um die Interpretation des Nationalsozialismus, den Vergleich der Diktaturen, das Verhältnis von Nationalgeschichte und Europäisierung bzw. Globalisierung sind aus der Geschichte des Faches ebenso wenig wegzudenken wie der Streit um die deutsche Verantwortung für den Beginn des Ersten Weltkriegs, die Rolle der Wehrmacht im NS-Vernichtungskrieg oder das Verhältnis von Herrschaft und Alltag in der DDR.

Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand nimmt die zeithistorische Forschung inzwischen stärker die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in den Blick, beginnend mit den Umbrüchen und Krisen der Moderne in den 1970er-Jahren über die Zäsur von 1989/90 und den mit ihr verbundenen Transformationsprozessen bis hin zur jüngsten Zeitgeschichte.

Die Dynamik des Faches

Docupedia-Zeitgeschichte will nicht nur verfestigtes Wissen abbilden, sondern die Dynamik des Faches zeigen. Die zeithistorische Forschung soll als eine Disziplin vorgestellt werden, die sich auch auf dem Feld ihrer theoretischen und methodischen Grundlagen im Wandel befindet. Neben den inzwischen allgemein akzeptierten Begriffen und Methoden sollen neue Ansätze vorgestellt werden, die sich noch in der Diskussion befinden oder Kontroversen ausgelöst haben. Neben den großen Linien soll das Augenmerk auch auf die wachsende Zahl von „Theorien mittlerer Reichweite“ gerichtet werden, die sich inzwischen auf vielen Forschungsfeldern erfolgreich etabliert haben.

Die Entwicklung der Disziplin vollzieht sich längst nicht mehr im engen Rahmen nationaler fachlicher Communities. Deshalb werden in Docupedia-Zeitgeschichte auch Beiträge aufgenommen, die transnationale Einflüsse und Wechselwirkungen im Bereich der Theorie- und Methodendiskussion der Zeitgeschichte und die Rezeption bestimmter Konzepte in anderen Forschungskontexten zeigen. Durch Parallelbeiträge sollen jeweils spezifische „Einfärbungen“ einzelner Begriffe und Konzepte etwa im angelsächsischen, französischen oder ostmitteleuropäischen Raum im Unterschied zur deutschen Forschungstradition vorgestellt werden. Neben den überwiegend deutschsprachigen Beiträgen sind deshalb auch englische Texte vorgesehen.

Docupedia – ein Medienexperiment

Als elektronische Publikation mit einem flexiblen Redaktionsmodell und der Einbindung von partizipativen Komponenten kann Docupedia-Zeitgeschichte wesentlich schneller als klassische gedruckte Nachschlagewerke auf neue Entwicklungen in der Forschung reagieren und Debatten innerhalb des Faches aufnehmen. Im Unterschied zur freien Enzyklopädie Wikipedia, deren Publikationsplattform das Projekt adaptiert und weiterentwickelt, berücksichtigt Docupedia-Zeitgeschichte die etablierten Qualitätsstandards einer Disziplin und die Verantwortung des Autors für seinen Text. Die Qualität der Beiträge wird durch die Gewinnung fachlich kompetenter Autorinnen und Autoren, ein repräsentatives Herausgebergremium und eine Fachredaktion gewährleistet.

Die bislang noch redaktionsintern entwickelte Liste der geplanten Beiträge erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Docupedia-Zeitgeschichte ist ein offenes Projekt, das laufend durch neue Beiträge ergänzt werden kann. Neben der Fachredaktion können Autoren, Herausgeber und Nutzer Vorschläge für neue Themen unterbreiten oder die Überarbeitung bereits publizierter Texte anregen und dies durch gezielte Kommentare unterstützen.

Auf die Einbeziehung von Artikeln zu Ereignissen, Personen und Prozessen aus dem Bereich der „Realgeschichte“ wird bewusst verzichtet. Letztere sind in der Wikipedia oder in speziellen zeithistorischen Informationsangeboten im Internet breit vertreten. Viele Beiträge werden jedoch Bezüge zur Realgeschichte enthalten. Eine spätere Ausweitung in diese Richtung ist grundsätzlich möglich, sollte jedoch von der Akzeptanz des Projekts abhängig gemacht werden.

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