In den Jahren 2010 bis 2012 konnte man eine Diskussion verfolgen, die sich an einer Rede des Bundespräsidenten Wulff entzündete. Wulff betonte seinerzeit, der Islam gehöre heute, ebenso wie das Christentum und das Judentum, zu Deutschland.1 Widerspruch kam von den führenden CDU/CSU-Politikern Hans-Peter Friedrich und Volker Kauder. Sie erklärten, der Islam gehöre historisch nicht zu Deutschland, er präge nicht die deutsche Kultur und Identität, auch wenn Muslime heute zu Deutschland gehörten und als Staatsbürger alle Staatsbürgerrechte genießen würden. Das sicherzustellen, sei Aufgabe des Staates.2
Bezüge: Rechtsstaat vs. Nationalstaat
Gehört der Islam zu Deutschland? Diese Frage bewegt die Menschen hierzulande immer dann besonders stark, wenn entsprechende Debatten auftauchen. Einig ist man sich bislang nicht. Was aber an den Einlassungen der drei Politiker exemplarisch deutlich wird ist, dass die Beantwortung dieser Frage viel mit der Einstellung zur Geschichte zu tun hat. Einigkeit besteht offensichtlich darin, dass auf der Ebene des Staates alle Menschen zusammen gehören. Dies sicherzustellen ist die Aufgabe des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates und von daher gehören Muslime selbstverständlich als Staatsbürger in den Rechts- und Verfassungsstaat Deutschland. Für Christian Wulff gehören Christentum und Judentum historisch zu Deutschland, und der Islam jetzt auch. Weitere Unterscheidungen sind für ihn hier überflüssig. Die Argumentation der beiden anderen bezieht dezidiert eine andere Ebene mit ein: Sie sprechen von Tradition, von Kultur und von Identität und kommen zum umgekehrten Schluss: Der Islam gehört historisch nicht zu Deutschland! Er hat nämlich keine Bezüge zur deutschen Tradition, er gehört daher nicht in die deutsche Kultur und kann damit auch nicht Bestandteil einer deutschen Identität sein. Pointiert gesagt: Der Islam kann wohl auch niemals zum Bestandteil einer deutschen Identität werden, weil er zu der Zeit, als eine Identitätsbildung mit dem Ziel eines deutschen Nationalstaates begann, offenbar kulturell nicht anwesend war. Unsere “Wurzeln” sind daher “nur” als jüdisch-christlich zu bestimmen. Herauszuhören ist in den Argumentationen eine qualitative Unterscheidung zwischen Staat und Nation und diese Unterscheidung wird über die Wurzelmetapher möglich. Denkt man Geschichte von der Wurzelmetapher her, hat sie offensichtlich die Aufgabe, Menschen lebensweltlich zu verwurzeln.3 In einer Wechselbeziehung zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur bilden die Menschen Sinn über Zeiterfahrungen und entwickeln eine historische Identität. Diese ermöglicht ihnen, sich im Wandel der Zeit als kohärente Personen in einer Gemeinschaft wahrzunehmen. Wurzeln statten eine Person mit “Kraft und Authentizität”4 aus, sie legitimieren die Kultur eines Personenverbandes historisch.
Dominanzkultur historisch
Worin unterscheiden sich Staat und Nation? Auf der Ebene des freiheitlich-demokratischen Staates werden Pluralität und Heterogenität rechtlich gewährleistet und abgesichert. Allerdings findet hier aufgrund der funktionalen Differenzierung, die die heutige Gesellschaft kennzeichnet, eine Identitätsdiffusion statt: Wer gehört mit wem wie warum zusammen? Für dieses Problem kann „die Nation“ eine Lösung anbieten.5 Mit Hilfe von Geschichte ermöglicht sie dem Personenverband, der den Boden der Nation als “Vaterland” bewohnt, eine nach innen gerichtete Homogenisierung mit einer “ur-”eigenen kulturellen Identität und damit eine Vollinklusion in die Gemeinschaft der Nation. Um diese historische Identität überhaupt wahrnehmen zu können, bedarf es dann notwendigerweise der Anwesenheit von Geschichte in der Gegenwart in Form eines historischen Orientierungswissens “von der Antike an bis zur Gegenwart”6 mit dem Ziel einer “störungsfreien Kommunikation”.7 Die Ausrichtung des historischen Lernens und Denkens an einem master narrative ist die folgerichtige Konsequenz einer solchen Denkweise. Das kommunizierte historische Orientierungswissen prägt damit die Dominanzkultur innerhalb einer Gesellschaft in ihrer historischen Dimension.8
Ursprungskontinuität
Das Thematisieren einer Geschichte, deren Sinn das Herausbilden einer historischen Identität ist, hat jedoch Konsequenzen: In Kommunikationen wird demjenigen Element, dem eine größere Kontinuität zum Ursprung zuerkannt wird, der Vorrang eingeräumt; es repräsentiert das unsichtbare Allgemeine.9 Damit wird in eine Kommunikation zwischen Gleichen eine Unterscheidung eingeführt. Als Folge dieser Unterscheidung kann der unterlegene Teil in der Kommunikation physisch sichtbar gemacht werden. Da in der institutionell kommunizierten Geschichte der Dominanzkultur eine größere Kontinuität zum Ursprung zuerkannt wird, stehen deren Mitglieder für das unsichtbare Allgemeine als ein WIR. “Wir” können “die Anderen” nun auch sehen: Es sind die Menschen “ohne Geschichte” innerhalb der Dominanzkultur.
Bezugspunkt Gegenwart!
Nationalstaaten sind offensichtlich besonders dann keine Inklusionsgemeinschaften, wenn Kultur zur Basisgröße der historischen Orientierung erklärt wird.10 Wollen wir tatsächlich eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Staatsbürgern und Bürgern der Nation tradieren? Wenn wir weiter auf eine historische Identität verweisen, die soziale Bindung von kultureller Übereinstimmung abhängig macht, werden mindestens weitere 2000 Jahre vergehen müssen, bis der Islam zu Deutschland gehört – wenn es die Menschheit bis dahin überhaupt noch gibt. Wir könnten dies ändern, indem wir Geschichte anders denken und dann auch kommunizieren: Zusammen gehört, wer zusammen lebt. Und wer zusammen lebt, macht fortan gemeinsam Geschichte. Die Gegenwart sollte der Bezugspunkt eines durch Achtsamkeit geprägten Miteinanders sein – nicht eine kommunizierte Geschichte, die auf ein Orientierungswissen von der Antike an abhebt.
Literatur
- Nassehi, Armin: Differenzierungsfolgen. Beiträge zur Soziologie der Moderne, Wiesbaden 1999.
- Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, 2. Aufl., Berlin 1998.
- Völkel, Bärbel: Man sieht nur mit dem Herzen gut!? – Was hat Thilo Sarrazins Angst um Deutschland mit Geschichte zu tun? Kritische Überlegungen zur Sinnbildung über Zeiterfahrung. In: Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, Band 2: Kirchengeschichte, Hannover 2011, S. 23-37.
Externe Links
- Öffentliche Petitionsinitiative “Wir sind Deutschland”. (zuletzt am 6.2.14)
- Junges Theater Freiburg, Rechercheprojekt “Wer ist Deutschland”. (zuletzt am 6.2.14)
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Abbildungsnachweis
Mit freundlicher Genehmigung © der Berliner Senatverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen / Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration, unter Verwendung von http://www.einbuergerung-jetzt.de
Empfohlene Zitierweise
Völkel, Bärbel: Wie lange muss jemand hier leben? Migration und Identität. In: Public History Weekly 2 (2014) 7, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1284.
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