Die Stunde Johann Gottfried Tullas
Viele Siedlungen zu beiden Seiten des Oberrheins waren jedoch zu Nahe am Wasser gebaut. Ihre große Vertrautheit mit den Gewohnheiten des Stromes und ihre Kenntnisse im Wasserbau schützten die Rheinanwohner mit Beginn der Frühen Neuzeit nicht mehr vor dessen Naturgewalten. Im 16., 17., und 18. Jahrhundert kam es zum Untergang von ganzen Ansiedlungen durch unverhältnismäßig heftige Überschwemmungen am Oberrhein. Vor allem in der Mäanderzone zwischen Karlsruhe und Speyer bedrohte das viele Wasser zunehmend das menschliche Leben am Fluss. Aber auch weiter stromaufwärts mussten einige Dörfer und sogar Handelsstädte, wie Neuenburg am Ende des 15. und Rheinau im 16. Jahrhundert, aufgegeben werden. Zudem waren große Flächen fruchtbaren Bodens versumpft, der Verkehr mit den Rheinorten war durch die ständigen Überschwemmungen erschwert und die Bewohner litten fast überall unter Fieberkrankheiten wie Malaria, Ruhr und Typhus. Versumpfungen und Überflutungen hatten also neben wirtschaftlichen, hygienischen auch ernste gesundheitliche Folgen, ausgelöst vor allem durch „Insektenplagen“. Selbst Johann Wolfgang von Goethe soll beim Anblick dieser Schnakenschwärme in den Rheinauen an der Gütigkeit und Weisheit Gottes gezweifelt haben.
Die Menschen am Oberrhein kannten Hochwassersicherungs- und Landgewinnungsmaßnahmen schon vor dem 19. Jahrhundert. Schon seit dem hohen Mittelalter befestigten sie Dämme mit Weidenfaschinen um Rheinaltarme abzuschnüren und Rheininseln zu verbinden und legten Deiche und Gräben zur Umleitung des Wassers an. „Auf großer Fläche konnte der Wildstrom jedoch nicht gezähmt werden“. Der Fluss stellte seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine mit herkömmlichen Mitteln kaum mehr abzuwendende Bedrohung dar. Eine Hauptursache hierfür war eine „Kleine Eiszeit“ zwischen 1550 und 1850. Die Ursache hierfür ist strittig, jedenfalls erlebte Mitteleuropa kältere Winter mit mehr Schneefall sowie niederschlagsreichere Sommer. In den Jahrzehnten nach 1735 führten größere Mengen der Schneeschmelze und schwere Regenfälle zu ungewöhnlich starken Hochwassern und zu einem Anstieg des Flusswasserpegels. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts traten alle drei Jahre, zwischen 1799 und 1808 sogar jährlich, die Ufer über. Gerade während die Bevölkerungszahlen im 18. Jahrhundert rapid stiegen, mussten oftmals ganze Dörfer umgesiedelt werden.
Die großflächige Übernutzung der Auenwälder in Form zunehmenden Kahlschlags begünstigte weitere Hochwasserkatastrophen, weil die Fluten immer mehr Angriffsflächen fanden. Der Auenwald lieferte den Rheinbewohnern wichtige Bau- und Brennstoffe. Anfälliges Weide- und Ackerland verdrängte zunehmend wasserabsorbierende Waldgebiete und resistentes Unterholz. Schon Forstwissenschaftler des 18. Jahrhunderts kritisierten die planlose Waldnutzung in Deutschland, die sich in Form gravierender Abholzungen und Umforstungen bemerkbar machte. Die Situation verschärfte sich noch als die jährlichen Hochwasser zu einer Anhebung des Flussbettes führten, da Sediment und Geschiebe vom Hochrhein flussaufwärts transportiert wurde und sich am Oberrhein ablagerten. Infolgedessen verbreiterten sich die überfluteten Gebiete immer mehr. Betrachtet man alle Faktoren ist es nicht verwunderlich, dass der Fluss in diesen Jahren 300 km² Auengebiete überschwemmte.
Die Bewohner des Oberrheins versuchten dem Hochwasser zu begegnen indem sie ständig versuchten die Wälle zu erhöhen und neue Uferabschnitte einzudeichen um damit den Rhein in ein schmaleres Bett zu zwingen. Das erhöhte aber nur das Zerstörungspotenzial des Hochwassers, da das Wasser bei einem Deichbruch nicht mehr so schnell abfließen konnte. Allein in den Jahren 1801 und 1802 brachen zwischen Kehl und Philippsburg sechsundzwanzig Dämme. Von den Rheinanwohnern durchgeführte Durchstiche einzelner Flussschlingen, die den Zweck hatten den Druck an einer Stelle zu verhindern, erhöhten nur die Hochwassergefahr an einer anderen Stelle. Beispielsweise unternahm die Gemeinde Hördt Mitte des 18. Jahrhunderts einen Durchstich, der bewirkte, dass die Felder des auf der anderen Rheinseite gelegenen Dorfes Dettenheim überflutet wurden und der folglich den Niedergang Dettenheims bedeutete. Blackbourn schließt sich Tullas zeitgenössischem Standpunkt an, dass die lokalen Bemühungen um die Zähmung des Flusses planlos, wirkungslos und oft kontraproduktiv waren.
Die Lage war Anfang des 19. Jahrhunderts jedenfalls unhaltbar geworden, viele Landschaften versumpften und Ortschaften mussten aufgegeben und verlegt werden. Besonders in den Jahrzehnten nach 1740 geriet fast jedes Dorf in der Mäanderzone mindestens einmal in große Gefahr vom Hochwasser verschluckt zu werden. Die großen Überschwemmungen und Zerstörungen 1816 und 1817 beschleunigten sodann die Umsetzung der Arbeiten nach Tullas Plänen, die mit dem ersten Durchstich bei Neupfotz 1817 begannen. Nach Meinung Tümmers war die Stunde Tullas gekommen, weil man schlicht vor der Wahl stand, ob „man entweder die Auen als Kulturlandschaft aufgab und sie wieder dem Rhein überließ, oder aber es musste eine tiefgreifende Verbesserung der Lage am Oberrhein eintreten“.
Tullas großer Plan
- Johann Gottfried Tulla
Ein 1822 formulierter Leitgedanke zeigt, wie Tulla sich den zukünftigen Wasserbau und die Gestalt der Flusslandschaften in Deutschland vorstellte: „In der Regel sollten in kultivierten Ländern die Bäche, Flüsse und Ströme Kanäle sein und die Leitung der Gewässer in der Gewalt der Bewohner sein.“ Eine ungebändigte natürliche Flusslandschaft hatte nach den Vorstellungen Tullas im fortschrittsliebenden Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts nichts mehr verloren, und die deutschen Gewässer sollten keinen Naturgewalten mehr unterworfen sein. In einem „Zwischenspiel“ in der Schweiz 1809 verstärkte er den Wunsch in großem Maßstab zudenken, und erarbeitete erstmals einen Entwurf einer durchgehenden „Rektifikation“ des ungebärdigen Rheins.
Das technische Wissen der deutschen Wasserbauingenieure war zu diesem Zeitpunkt bereits auf einem sehr hohen Stand. Schon vor Tullas großen Plänen hatte man erfolgreich Flüsse der Norddeutschen Tiefebene, die Oder und Warte sowie Teile des Niederrheins mit seinen Nebenflüssen verkürzt, umgelenkt oder durch Schleusen unterbrochen. Ab dem 19. Jahrhundert konnten deutsche Fachleute ohne Hilfe holländischer Spezialisten diese Arbeiten verrichten, was sich beispielhaft an der Regulierung der Elbe unter der Mitwirkung Reinhard Woltmanns, den Tulla in Hamburg kennen lernte, zeigte. Norddeutschland war führend auf dem Gebiet des Wasserbaus, dennoch hatte man auch schon in Baden seit Jahrhunderten Deiche gebaut, Ufer befestigt und Durchstiche an Rhein und Murg vollzogen. „Viele der Durchstiche in Tullas letztendlicher Rektifikation des Rheins waren (bereits) früher als Einzelmaßnahmen vorgeschlagen worden“. Doch mit Tulla erstarkte das Bewusstsein das weitere und weitreichende Verbesserungen nötig waren und damit eine ganzheitliche Begradigung dieses Rheinabschnitts. „Es war (also) ihr Umfang und nicht diese oder jene besondere Neuerung die Tullas Pläne zu etwas Außergewöhnlichem, ja Aufsehen erregendem machte.“
Skizze vom Plan der Rheinbegradigung im 19. Jhr.
Tulla verfasste 1812 eine Denkschrift, in der er generalsplanmäßig „die Grundsätze nach welchen die Rheinbauarbeiten künftig zu führen seyn möchten“ festlegte. Die darin enthaltenen Ziele liefen auf eine völlige Neugestaltung des Flussverlaufes hinaus. Tulla plante eine Korrektion des gesamten Oberrheins, der sich von Basel bis zur hessischen Grenze bei Worms auf 354 Kilometern erstreckt. Der Strom sollte nun in einem ungeteilten, zwischen 200 und 250 Metern gleichmäßig breiten Bett fließen. Das Flussbett würde mittels Durchstiche begradigt und durch Seitendämme derart eingeengt werden, so dass ein verkürzter und schneller fließender Strom sich selbst ein tieferes Bett graben würde. Die Tiefenerosion sollte den Grundwasserspiegel senken und somit die Oberrheinniederungen entwässern. Tullas Wunsch war es auf diese Weise die Rheinufergemeinden vor Überschwemmungen zu schützen, allgemein die Bewohnbarkeit des Rheintales zu sichern und zu verbessern und aus bisherigem Sumpfland wertvolles Kulturland zu gewinnen.
Befürchtungen und Widerstände Preußens und der Niederlande, Länder mit großen Erfahrungen im Wasserbau, verwarf Tulla ebenso wie die Bedenken badischer Abgeordneter und anderer Fachleute. Ein zeitgenössischer Kritiker sprach von einem „gewagten Plan“, der „Katastrophen herbeiführen“ werde, als er auf die Gefahr schwerer Überschwemmungen an Mittel- und Niederrhein als Folgeerscheinung der Oberrheinkorrektion hinwies.
Tulla verteidigte seine Rektifikation als „das einzige Rettungsmittel für die Rheinuferbewohner“. Seine Kritiker waren „nicht vom Fach“, hatten „beschränkte Ansichten“ und einer war darunter „welcher vom Strombau nichts versteht“. Einige Gemeinden am Rhein widersetzten sich dem Projekt in seinen Anfangsjahren, da sie befürchteten in Zeiten häufiger Missernten wertvolle Acker- und Waldflächen zu verlieren, so dass die Baumaßnahmen durch Soldaten geschützt werden mussten. Tulla warf den Verweigerern Ignoranz und engstirniges Eigeninteresse vor.
Quelle: http://jbshistoryblog.de/2012/02/wilde-flusslandschaft-oder-wertvolle-kulturlandschaft-uber-die-begradigung-des-oberrheins-ii/