“En Chine” aus Le Petit Journal Nr. 374 vom 16. Januar 1898 ist ein Klassiker der China-Karikaturen des 19. Jahrhunderts[1] – Symbol für das Agieren der Mächte auf dem Höhepunkt des “Scramble for concessions”, des Wettlaufs um Konzessionen (und Einfluss) in China.
Le Petit Journal Numéro 374 (16.1.1898) | gallica / BnF
Das Bild zeigt einen verweifelten Chinesen, der bei der Teilung Chinas, des “gâteau des Rois”, durch die Mächte zusieht:
- Großbritannien – verkörpert durch Königin Victoria
- das Deutsche Reich – verkörpert durch Kaiser Wilhelm II.
- Frankreich – verkörpert durch die Figur der Marianne
- Russland – verkörpert durch Zar Nikolaus II.
- Japan – verkörpert durch eine Art ‘Samurai’
Der ‘gateau des rois’ ist nicht bloß der ‘Kuchen der Könige’, sondern eine (zugegeben, ziemlich flache und eher schlichte) Galette des Rois, ein Kuchen, in dem ‘la fève’ versteckt. Der Kuchen wird traditionell geteilt; der Finder der ‘fève’ ist KönigIn für einen Tag. Der Kuchen, der hier geteilt wird, ist China – und einige Teile sind schon reserviert. China kann nur händeringend zusehen und protestieren.
Victoria scheint ein Viertel des Kuchens für sich reserviert zu haben, Wilhelm II hat das Messer in den Kuchen (und in der Hitze des Gefechts gleich in die Tischplatte) gerammt, um das Stück “Kiao-Tchéou” [Jiaozhou 膠州] herauszuschneiden. Nikolaus II. hat die Hand auf einem Stück “Port-Arthur”), Marianne hat die Hand auf seine Schulter gelegt. Nur der Samurai überlegt noch, welches Stück er herausschneiden soll. Die Konstellationen sind eindeutig: Großbritannien und das Deutsche Reich nahe nebeneinander, Frankreich unterstützt Russland, Japan sitzt mit am Tisch, ist aber isoliert.
Betrachtet man die Figuren genauer, zeigen sich zeittypische Muster mit einigen Auffälligkeiten.
- Nikolaus II. (in Uniform) und Marianne sind in der Darstellung wenig überraschend, die Gesichtszüge sind entspannt und nicht verzerrt.
- Wilhelm II. (in Uniform mit Pickelhaube) wirkt angespannt/aggressiv, die Stirn ist in Zornesfalten gelegt.
- China ist zeittypisch markiert: ‘chinesische’ Gewänder (über einem gelben Kleid ein roter, gemusterter Mantel), Kappe mit Pfauenfeder (die Feder ist eher aufgesteckt als am Rangknopf befestigt), langer, dicker Zopf, dünner Bart und lange Fingernägel an beiden Händen
- Etwas eigenartig ist die Darstellung der Victoria. Kopf und Schleier sind einschlägigen Fotografien/Karten[2] nachgebildet, die Augenbrauen sind hochgezogen. Der auffällige Schmuck und das Kleid mit tiefem Ausschnitt passen nicht so recht, denn Victoria hatte seit dem Tod ihres Ehemannes im Dezember 1861 nur Witwentracht getragen.
- Japan wird durch eine Art ‘Samurai’ verkörpert: Die Figur trägt eine weiche rote Jacke mit weißem Kragenbeleg, die weiten Ärmel sind hochgeschoben. Die Frisur erinnert an den Edo-zeitlichen chonmage 丁髷, die traditionelle Frisur der Samurai, die seit August 1871/Meiji 4 durch Haarschneide-Edikte[3] verboten war.[4]
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- Dazu trägt auch die Verwendung auf Wikipedia in zahlreichen Artikeln zu China, Imperialismus, Ungleichen Verträgen etc. bei. Die Google-Bildersuche liefert etwa 1,7 Millionen Treffer.
- Z.B. NPG x13844: “Queen Victoria” by Alexander Bassano, carbon cabinet card, 1887 (1882).
- danpatsurei 断髪令, “Cropped Hair Edict” – vgl. dazu Florian Coulmas: Die Kultur Japans: Tradition und Moderne (Beck’sche Reihe; München: C. H. Beck 2009), 215.
- Zum ambivalenten Verhältnis ‘moderner’ JapanerInnen des 19. Jahrhunderts zu traditioneller Kleidung s. das Kapitel “Embodying Japan” in: Christine Guth: Longfellow’s Tattoos: Tourism, Collecting, and Japan (University of Washington Press, 2004), pp. 121-166.