Es begab sich relativ zufällig, dass ich an das Kindle-Reader-Programm geraten bin. Auf dem Weg in die Weihnachtsferien stellte sich natürlich die Frage, welche Bücher mir die langen Zug- und Autofahrten in die Heimat und den Urlaub versüßen sollten; und wie immer stellt man nach ein paar Seiten und stolpernd über den ein oder anderen Literaturhinweis fest, dass man doch noch ein weiteres Buch aus dem Regal hätte mitnehmen können oder sollen. In meinem Fall handelte es sich um Hegels Phänomenologie des Geistes. Nun gut, es gibt auch genügend gute Gründe Hegel nicht mit in die Weihnachtsferien zu nehmen; die dicke des Buches wäre schon mal einer von ihnen. Wie dem auch sei; ich hätte ihn jetzt gern zur Hand gehabt. Ideal ist aber, dass Hegel schon ausreichend lange tot ist, um seine großen Schriften – kostenlos – als Kindle-E-Book herunterladen zu können. Und das sogar ohne Kindle-E-Book-Reader, denn den gibt es auch als Programm für PCs bzw. Notebooks. Um Hegel soll es hier aber gar nicht gehen.
Als ich nämlich die Phänomenologie des Geistes und – weil es ja kostenlos ist – beide Bände der Wissenschaft der Logik heruntergeladen und den ersten Ärger über die schlechte Orientierbarkeit in so einem E-Book überwunden hatte, fielen mir beim Reinlesen Markierungen im Text auf. Unter Sätze wie bspw.
„Die Philosophie aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen./Noch weniger muß diese Genügsamkeit, die auf die Wissenschaft Verzicht tut, darauf Anspruch machen, daß solche Begeisterung und Trübheit etwas höheres sei, als die Wissenschaft.“ (Hegel: Phänomenologie des Geistes, Position 108; ja, E-Books haben keine Seitenzahlen)
ist da eine dünne, gestrichelte Linie gezogen, an deren Beginn der Vermerk steht: „4 Textmarker“. Ohne es bisher überprüft haben zu können (ich bin ja im glücklicherweise webstinenten Ostsee-Urlaub; sitze aber soeben mit meinem Laptop auf dem Schoß auf der Rückbank eines VW-Busses), nehme ich an, dass es sich bei diesen Markierungen um getrackte Quantifizierungen von Lese- oder besser Markierungshandeln von Lesern handelt.1 Mehr oder weniger subtil wird einem damit also vermittelt, dass – wie im obigen schöngeistigen Beispielsatz – 4 andere Leser der E-Book-Ausgabe von Hegels Phänomenologie des Geistes diese Stelle als zumindest markierenswert erachtet haben. Es ist ein bisschen so, als würde man in ein antiquarisch erstandenem Klassiker die Lesespuren des oder der Vorbesitzer/s entdecken; eine Angelegenheit, die ich aufgrund ihrer Individualität immer als äußerst spannend empfunden habe. Hier nun aber ist diesen Spuren aufgrund ihrer Quantifizierung jegliche Individualität und Situiertheit genommen.
Über das Potenzial dieser Quantifizierung von Markierungshandeln kam mir nun ein kleiner Gedanke, den ich im Folgenden kurz ausführen möchte. Vollkommen unkommentiert bleibt dabei die Frage, welchen ökonomischen Mehrwert eine solche Quantifizierung für Kindle (also Amazon) hat. Vermutlich ist es eine weitere Quelle, äußerst individuelle Profile ihrer Käuferschaft zu modellieren.2
Aber übertragen aus meinen Selbstbeobachtungen, wie ich mit Texten umgehe, die von anderen bereits gelesen, markiert und kommentiert wurden, habe ich mich gefragt, was für ein Potenzial die quantifizierte Sichtbarkeit solchen Markierungshandelns für die Rezeption haben kann. Immerhin handelt es sich bei Markierungen – mögen sie nun auf einer Papierseite, in einer PDF-Datei oder in einem Kindle-E-Book gemacht sein – minimal immer um eine Zuschreibung einer gewissen Wichtigkeit. Der Individualität dieser Zuschreibung wird nun mit der Quantifizierung versucht zu begegnen und vermittels des Quantors (im obigen Beispiel ganze 4!) für den Leser einschätzbar zu machen: Wie viele Leser erachteten betreffende Stelle als wichtig? Der Schwellenwert jedoch für die Sichtbarmachung dieser Zuschreibung scheint dabei offenbar nicht sehr hoch zu sein. Das obige Beispiel scheint deswegen vielleicht nicht das idealste zu sein. Aber allein in der Vorrede gibt es auch eine Stelle, die z. B. 41 Mal identisch oder zumindest ähnlich3 markiert wurden. Andere Werke mögen andere Zahlenwerte erreichen. Und auch erst über größere Zahlenwerte können solche Quantifizierungen wohl wirkliche Wirkungspotenziale entfalten. Man müsste sich mal anschauen, welche Zahlenwerte bspw. zeitgenössische Werke erreichen und ob dort signifikante Unterschiede zu verzeichnen sind.
Welcher Art könnte dieses Wirkpotenzial nun sein? Liest man ein – z. B. wissenschaftliches oder philosophisches – E-Book und bekommt kontinuierlich die Stellen angezeigt, die eine gewisse Menge anderer, anonymer Leser mit einer unbestimmten Wichtigkeit versehen haben, zeigt sich schon im Buch selbst also eine Art ausgemittelter Common-Sense über die wichtigsten Sätze oder besser Propositionen, die nicht der Autor selbst also solche erachtete, sondern die gesammelte also quantifizierte Leserschaft. Es wird also die Nachgeschichte eines Werkes, der Diskurs über das Werk, verschränkt mit dem Werk selbst. Auf äußerst rudimentäre, reduzierte, ja verdinglichte Weise wird also die herrschende Meinung über die Un-/Wichtigkeit einzelner Passagen zur Darstellung gebracht.
Im Unterschied zum einzelnen antiquarisch gekauften Buch, das vielleicht die Spuren von ein, zwei oder drei Lesern versammeln kann, bevor es vollkommen unlesbar wird, kann sich im E-Book – auf oben beschriebene Weise und d.h. ausschließlich quantitativ – der gesamte Diskurs abbilden. Und mögen Markierungen in einzelnen Büchern nur von Wichtigkeit sein, wenn man bspw. Foucaults Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft in die Hände kriegt (und man gleichzeitig Foucault-Exeget ist), so ermöglicht die Quantifizierung den koinzidierenden Unterstreichungen die beschriebene abbildende Qualität und somit eine ganz andere wirkmächtige Wichtigkeit zukommen zu lassen.
Schon bei der individuellen Lektüre gebrauchter Bücher mit individuellen Unterstreichungen und Kommentaren habe ich immer wieder bemerkt, wie solch unscheinbare Marginalien die mentale Verarbeitung des Gelesenen beeinflussen:
Vormaliger Leser fand diese Stelle wichtig. Vormaliger Leser fand offenbar diese Stelle wichtig? Vormaliger Leser fand ausgerechnet diese Stelle wichtig!? Warum das denn? Ach so, ja leuchtet ein. Oder? Nein, was für ein Quatsch!
Die Spanne der möglichen Reaktionen auf solcherart Markierungen ist denkbar breit, was offensichtlich mit ihrer umfangreichen Individualität, Situiertheit und – in ihrer Spurqualität für den Anderen – folglich unglaublichen Vagheit zu begründen ist, die ein Verstehen bis aufs Äußerste erschweren. Die Hoffnung der Quantifizierung oder besser: die Hoffnung der Quantifizierer ist nun, dass sich all diese Idiosynchrasien verrechneten und somit eine Form von Eindeutigkeit sich ergäbe, die ein Verstehen von etwas ermöglichte. Wie bewusst sich die Quantifizierer darüber sind, wie äußerst Begrenzt das zu Verstehende durch die Verrechnung nur noch ist, ist eine Frage, die sicherlich von den offenen und verdeckten Zielen und Zwecken der Verrechnung her gedacht und problematisiert werden müsste. Hier interessiert ja aber erst einmal die Wirkung auf den durchschnittlichen Leser, der mit solcherart Verrechnung konfrontiert wird. Ich bin ja Hermeneut.
Ermöglicht die Verrechnung und Kennzeichnung dem Leser einen einfacheren Einstieg in den Diskurs, indem er weiß oder zu wissen glaubt, was die wichtigen Stellen sind, die zu beachten und zu besprechen wären; und welche unwichtigen Stellen nur überflogen, ja vielleicht sogar übersprungen werden können, um sich mit nur wenig Aufwand im Diskurs zurecht zu finden, eine Meinung zu haben und mitsprechen zu können? Das wäre die eine Seite, die gewissermaßen die Common-Sense-Lesart solcher Markierungen ist. Sie birgt die offensichtliche Gefahr oberflächlicher Lektüre, die einen Mehrwert, eine innovative Lesart geradezu verhindert.
Es gibt aber auch eine andere Seite, eine Möglichkeit, die die Dialektik solcherart Markierungen entbirgt. Diese Möglichkeit besteht darin, auf die Lücken zwischen den quantifizierten Markierungen acht zu geben. Die herrschende Zuschreibung von Wichtigkeit zu hinterfragen und ein E-Book auf die scheinbar unwichtigen Stellen hin zu lesen und sie in Relation zu den vermeintlich tragenden Passagen wechselseitig zu perspektivieren. Damit wird nicht nur eine tiefere Lektüre und begründetere Argumentation, sondern auch die innovative Kraft abweichender Lesarten und (mithin) die Erhellung blinder Flecken im Diskurs, ja in ganzen Paradigmen ermöglicht.4
Die devolutionierende Tendenz dieser Markierungen wird also aufgehoben durch die innovationierende Lesart derselben. Beides wiederum ist aufgehoben im Potenzial des Umgangs mit solchen Quantifizierungen von Wichtigkeitszuschreibungen.
- Dazu Amazon: "Neben Ihren eigenen Markierungen können Sie in manchen Kindle eBooks auch Beliebte Markierungen aufrufen. Beliebte Markierungen zeigen Ihnen, welche Textstellen in einem eBook am häufigsten von anderen Kindle-Lesern markiert wurden."
- Zum "gläsernen Leser" und möglichen Folgen siehe Pleimling (02.10.2012) in diesem bpb-Artikel.
- Die Frage, wie groß die Abweichung oder wie klein die Übereinstimmung einzelner Markierungen sein muss, um als „identische“ Markierung gezählt zu werden, ist eine weitere Frage, die interessant wäre zu klären. Bestimmt sie doch den Grad der für die Quantifizierung nötigen Desituierung der einzelnen Markierungen.
- Beide Aspekte für den Deutschunterricht zu nutzen, bespricht dieser Artikel.