Eristik des Konsens. Zur Spezifik chinesischer Rezensionen

“Wenn man eine Publikation bewertet, sollte man deshalb nicht nur an die Schwäche einer Arbeit denken, sondern vor allem an ihren zu schätzenden Wert.” (Liang 1991: 304)

Im Rahmen einer interessanten Analyse eines nachwuchswissenschaftlichen Blogeintrages habe ich einen kleinen Ausflug in linguistische Analysen wissenschaftlicher Rezensionen gemacht. Im Zug (Köln-Siegen) habe ich gerade den sprach-/kulturvergleichenden Aufsatz von Yong Liang (1991) gelesen, der deutsche und chinesische Rezensionen untersucht und spannende Spezifika der jeweiligen sprachlichen Bewertungsmuster anhand 8 deutscher und 8 chinesischer Texte herausarbeitet.

Den für mich interessantesten Punkt habe ich im obigen Zitat herausgestellt. In Liangs (1991) Untersuchung zeigt sich nämlich eine diametral entgegengesetzte Gewichtung positiver und negativer Bewertungshandlungen. Während nämlich die deutschsprachigen Rezensionen davon geprägt sind, dass kritische Auseinandersetzungen mit dem rezensierten Werk innerhalb der Besprechung einen gewichtigen Teil ausmachen und mit Bezugnahmen auf den Forschungsstand begründet werden, sind chinesische Rezensionen davon geprägt, das rezensierte Werk in seinen Leistungen zu würdigen. Daraufhin wird auch die Einordnung in den Forschungsstand funktionalisiert, die dazu dient, daran ‘das Neue und Wertvolle’ zu kennzeichnen und zu charakterisieren.

Auch in den abschließenden Resümees zeigte sich diese Gewichtungsasymmetrie. Während deutschsprachige Rezensionen vorwiegend abschließend positive Bewertungen vornehmen und diese sich pauschal und recht unbegründet auf das Gesamtwerk beziehen, nutzen chinesische Rezensenten das Resümee, um vereinzelte negative, zu kritisierende Aspekte anzusprechen, ohne diese oft allgemeinen Aspekte aber zu begründen.

“Im Chinesischen zeichnet sich die Stärke wissenschaftlichen Rezensierens vor allem dadurch aus, das Positive im Rahmen des Gültigen zu entdecken und hervorzuheben. Deshalb ist dort die Würdigung der Objektpublikation weitgehend dominant. Die Meinungsverschiedenheit spielt nur eine untergeordnete und stark eingeschränkte Rolle und kann nur dann repräsentiert werden, wenn die Harmonie dadurch nicht beeinträchtigt wird [...]. In deutschen Rezensionstexten spielt hingegen die Meinungsverschiedenheit eine dominierende Rolle.” (Liang 1991: 309)

Liang (1991: 304) begründet diese Spezifik chinesischer Rezensionen einerseits mit der traditionell auch alltäglich äußerst wichtigen “Höflichkeitsmaxime” und andererseits mit dem “Respekt vor der vertikalen akademischen Pyramide, also vor der Autorität”. So würden “kategorisch negative Bewertungen [...] das Ansehen des Rezensenten bei Fachkollegen [sogar] eher schwächen als stärken”.

Dies wirft interessante Fragen zur chinesischen Wissenschaftskultur auf. Während die europäische Wissenschaftstradition am Dissens interessiert ist, um sich der Wahrheit zu nähern, scheint das – wie Liangs (1991) Arbeit ahnen lässt – in der chinesischen Tradition ganz anders auszusehen und sich in den sprachlichen Verfahren der Erkenntnisdarstellung und -besprechung niederzuschlagen. Von dort aus ist es nicht weit, um zu ahnen, dass das auch die Erkenntnisproduktion betrifft. Ich stecke da zu wenig drin, um genaueres herauszustellen. Ich werde in nächster Zeit aber nach Überblickswerken ausschau halten, die mir die Zusammenhänge und (historischen) Hintergründe dieser Wissenschaftstradition durchsichtiger werden lassen. Für Hinweise bin ich immer offen!

Für einen zentralen Begriff meiner Dissertation, für den Begriff der Eristik nämlich, und für die Frage, wie dieser zu Konzeptualisieren ist, bin ich aber abermals in der Idee bestärkt, dass er nicht nur auf streitende, d.h. kritische Sprechhandlungen bezüglich der Geltung wissenschaftlichen Wissens beschränkt werden kann, sondern ebenso affirmative Bezugnahmen auf bestehendes Wissens umfassen muss. Es geht also nicht nur um die sprachliche Verhandlung von Dissens, sondern auch um die sprachliche Verhandlung von Konsens. Damit wird es dann möglich, ‘eristische Strukturen’ (Ehlich) nicht nur als Menge sprachlicher Mittel zu betrachten, sondern ihm einen wissenschaftsspezifischen Zweck zuzuordnen, der in der Modellierung einer forschenden Position im verfügbaren wissenschaftlichen Wissen bestünde. Liangs (1991) Arbeit zeigt eindrücklich, in welcher Weise dieser Zweck neuzeitlicher Wissenschaftskommunikation kulturvariant bearbeitet werden kann.

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Liang, Yong (1991): Zu soziokulturellen und textstrukturellen Besonderheiten wissenschaftlicher Rezensionen. In: Deutsche Sprache 19, S. 289-311.

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/694

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