Der Feuerlöschdienst – ein Problem der Suburbanisierung

Eine Dorfgesellschaft, das ist bekannt, basierte auf klaren sozialen Unterschieden. Auch die Pflichten im Dorf wurden nicht gleichverteilt, sondern unterschiedlichen Besitzklassen und sozialen Gruppen unterschiedlich zugeteilt. Klassischer Fall: die Aufgaben im Feuerlöschdienst.

Noch im November 1902 legte die Gemeindevertretung des brandenburgischen Ortes Mahlow noch mal fest: Auch bei Feuerlöschproben, nicht nur im Alarmfalle, waren es die Büdner, die reihum für das Löschen des Feuers zuständig waren, also die Kleinstellenbesitzer, die kaum genug Grund zur Selbstversorgung besaßen und zur Unterschicht des Bauerndorfs gehörten bzw. sie stellten.

Diese Festlegung erfolgte, als Mahlow bereits begonnen hatte, sich zu verändern. Die Bevölkerung war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von gut hundert Bewohnern auf mehr als vierhundert angewachsen, und langsam fand der Zuwachs vor allem jenseits des eigentlichen Dorfkerns statt.

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Quelle: https://uegg.hypotheses.org/355

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Gesundheit als Argument. Der Gemeindevorsteher auf dem Dorf

Im Jahr 1896 schrieb Dr. Heribert Rau an den brandenburgischen Regierungspräsidenten Robert Graf Hue de Grais. Er bat ihn darum, ein gutes Wort für ihn einzulegen bei diversen Landräten in Brandenburg, denn Rau war auf der Suche nach einer „Stellung als Amts- oder Gemeinde Vorsteher in einer Wald- und Wasserreichen [sic] Gegend“. Dr. Heribert Rau war aber nicht nur einfach auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit. Die wald- und wasserreiche Gegend war ihm besonders wichtig, wie auch aus seinem Lebenslauf hervorgeht. Er war zunächst als Volkswirt und Jurist im Banken- und Versicherungssektor tätig gewesen. Doch dieser Karriereweg hatte sich ihm jäh verschlossen – in dem Moment, als ein modernes Phänomen in sein Leben trat: „Infolge schädlicher Einwirkung des bei den Banken eingeführten grellen elektrischen Lichtes mußte Rau auf ärztlichen Rath seine Stellung aufgeben, und auf dem Lande Wohnung nehmen.“

Elektrizität im Allgemeinen und das elektrische Licht im Besonderen wurden als Symbole des Neuen und der sauberen Moderne interpretiert.

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Quelle: https://uegg.hypotheses.org/327

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Tannbach, die neue große (Dorf-)Erzählung?

Vor rund dreißig Jahren – 1984 – wurde der erste Teil von Edgar Reitz‘ Heimat-Trilogie1 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt – und wurde ein Überraschungserfolg. Reitz, der bislang nicht gerade als Macher von Straßenfegern bekannt war, erzählte in langen Fernsehfilmen2 die Geschichte der Familie Simon im kleinen Hunsrück-Dorf Schabbach. Obwohl die Filme keine leichte Unterhaltung sind, haben sie doch die Darstellung von Dorf und Heimat seit den 1980er Jahren maßgeblich geprägt.

Das Jahr 2015 begann (für das ZDF) mit einem großen Epos: „Tannbach – Schicksal eines Dorfes“ (offizielle Seite des ZDF) erzählt die Geschichte eines Dorfes zwischen Kriegsende und der Schließung der innerdeutschen Grenze 1952. Das Dorf Mödlareuth, auf der Grenze zwischen Bayern und Thüringen gelegen, wurde im Kalten Krieg als „Little Berlin“ bezeichnet, denn die Grenze zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone verlief mitten durchs Dorf und schnitt es in zwei Teile. Nun ist es das historische Vorbild für das halbfiktive Tannbach, in dem das ZDF die deutsch-deutsche Nachkriegs- und Teilungsgeschichte im Mikrokosmos wiedererstehen lässt. Der Dreiteiler wurde im Vorfeld in der Süddeutschen hoch gelobt, er sei „im besten Sinne Geschichtsunterricht“, urteilte Renate Meinhof am 4. Januar.3 Für mich ein Grund, mich vor die Glotze zu setzen. Historienschinken mit Zeitgeschichtsbezug schaffen das in der Regel nicht, aber wenn es doch ums Dorf geht…

Nun, über die Filme als solche mag ich hier gar nicht schreiben, schon gar nicht etwa über historische Authentizität oder gar über die Komposition der Filme selbst. Was ich hier thematisieren möchte, ist die Darstellung des Dorfes bzw. von Dörflichkeit/Ländlichkeit in diesen Spielfilmen.

Ich gehe, wie oben angedeutet, davon aus, dass die „Heimat“-Trilogie von Reitz dieses Thema ausführlich ausbuchstabiert hat, den Provinzialismus des Hunsrück-Dorfes Schabbach explizit in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt hat. Nun haben diverse Kritiker Reitz vorgeworfen, er perpetuiere alte Darstellungsformen des Dörflichen aus dem 19. Jahrhundert.4 Andere verweisen auf die starke Abgeschlossenheit des von Reitz konstruierten Heimatraums, der in dem Moment, da er beschrieben wird, schon verloren zu sein scheint.5 So eindeutig nostalgisch überhöht wird Schabbach in meinen Augen (in meiner Seh-Erfahrung) aber gar nicht dargestellt; im Gegenteil: nicht nur im letzten Film, der „anderen Heimat“, sondern auch schon in der ersten Heimat-Reihe aus den 1980ern wird Heimat gleichzeitig als der Fixpunkt (und damit gewiss auch nostalgisch) und als beengend und einengend dargestellt. Heimat und Fernweh stehen in einem explizit thematisierten Spannungsverhältnis. Darüber hinaus geht es immer wieder darum, wie einerseits die „große Welt“ ins Dorf hineinspielt, wie sie aber in Schabbach, in der Familie Simon, anverwandelt wird, wie eben gerade nicht das Dorf die Welt „da draußen“ widerspiegelt, sondern ein ganz spezieller Ausschnitt ist.

Genug des Vorspanns: Wie wird Tannbach denn nun dargestellt? Wie wird Dörflichkeit/Ländlichkeit im Dreiteiler thematisiert? Man könnte – wohl etwas überzogen, ich gebe es zu – behaupten: überhaupt nicht. Tannbach ist kein Dorf, Tannbach ist ein Spiegel der deutschen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier kann man, in einem begrenzten Setting und mit einem begrenzten Kreis an Charakteren die Spannungen einfangen, die mit dem Kriegsende und der Gründung der beiden deutschen Staaten verknüpft werden. Aber spezifische Ländlichkeit?

Klar, vor allem im zweiten Teil des Dreiteilers geht es um die Bodenreform in der Sowjetisch Besetzten Zone, der Gutsbesitz und die großen Höfe werden aufgeteilt, die bisherigen Großgrundbesitzer werden enteignet und umgesiedelt. Der Protagonist, der Berliner Flüchtling Friedrich Erler, wird zum begeisterten sozialistischen Jungbauern. Und in vielen Szenen sieht man Feldarbeit. Und natürlich die Kulissen – die Handlung spielt auf Dorfstraßen oder Bauernhöfen. Aber das bleibt, so meine Wahrnehmung, Hintergrund, eben Kulisse. Manche Charaktere, zum Beispiel der frühere Ortsbauernführer, der Schober-Bauer, wird schon ziemlich klischeehaft als bauernschlauer Wendehals dargestellt.

Wie aber sollte man denn überhaupt Dörflichkeit thematisieren? Was verlange ich denn überhaupt? Nun, zum ersten: Ich verlange eigentlich nichts weiter. Tannbach ist eine Fernsehproduktion, und die funktioniert nach anderen Kriterien als (wissenschaftliche) Reflektionen über Ländlichkeit. Auch verlange ich keineswegs, dass blöde Stereotypen reproduziert werden, die Hinterwäldler-Geschichte weitergesponnen wird oder gar gezeigt wird, wie verfilzt die Politik in kleinen Dörfern ist.

Mein Eindruck war aber: Im Grunde macht es gar keinen großen Unterschied, ob Tannbach nun ein Dorf oder eine Kleinstadt ist; vielleicht hätte die Geschichte ganz ähnlich auch in Berlin erzählt werden können – dann vielleicht mit einem Fabrikbesitzer statt mit einem Gutsherrn.

Denn es gibt ja Spezifika kleiner Orte, bäuerlicher Dörfer, gegenüber Städten. Aber diese wurden eben nicht in den Mittelpunkt gerückt, vielleicht, weil sie eben nicht einfach nur die „große“ Geschichte widerspiegeln.

  • Wo wurde mal thematisiert, dass möglicherweise politische Gewalt (wie im dritten Film dargestellt) anders funktioniert, wenn sich Täter und Opfer kennen, und das möglicherweise aus ganz vielen Kontexten – weil sie ihr Leben an einem Ort, in einer Schule, einer Kneipe, einer Kirche verbracht haben?
  • Wo wurde mal die Möglichkeit angetippt, dass eine Mikrogesellschaft, die in erster Linie aus wirtschaftlich Selbständigen (und gleichzeitig Subsistenzwirtschaft Treibenden) besteht, möglicherweise andere Interaktionsformen ausbildet als eine städtische Gesellschaft? Im Falle einer bäuerlichen Gesellschaft, so mein Eindruck nach einiger Zeit an meinem Projekt, spielt halt doch die wirtschaftliche Ebene eine ungleich wichtigere Rolle als in anderen sozialen Kontexten, gibt es gar nicht so viele gesellschaftliche Sphären, die nicht von wirtschaftlichen Praktiken mit durchzogen sind.
  • Außerdem: Wie geht eine kleine Gesellschaft, ein kleines Dorf, mit Fremden um? Denn die Flüchtlinge, die nach Tannbach kommen, allen voran Friedrich Erler, seine Mutter Liesbeth und sein (Nenn-)Bruder Lother, sind ja nicht nur einfach Fremde. Sie sind auch komplett anders sozialisiert als die Einheimischen. Friedrich und Lothar aber sind plötzlich mit allen gut Freund; ihre sehr spezifische Prägung im regimekritischen (Friedrich) bzw. jüdischen (Lothar) Elternhaus in Berlin scheint für ihre Position im Dorf keine Rolle zu spielen6 ; sie fügen sich in die lokale Gesellschaft ein.

Das sind nur ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind, die die Möglichkeit eröffnet hätten, Dörflichkeit einmal jenseits von Stereotypen zu erzählen. Dann hätte vielleicht auch die Erzählung von der großen Geschichte im kleinen Ort Tannbach eine Tiefe erreichen können, die dann wirklich „im besten Sinne Geschichtsunterricht“ gewesen wäre – die nämlich einerseits auf den Einfluss globaler Entwicklungen, andererseits auf die Besonderheit lokaler Bedingungen, Beziehungen und Praktiken aufmerksam macht. Diese Chance aber wurde vertan. Dafür gab’s dicke Quoten. Und eine Fortsetzung ist wohl ins Auge gefasst. Ich bin gespannt.

Auf eine neue große „Dorf“-Erzählung aber werden wir wohl noch länger warten müssen. Tannbach ist ganz sicher nicht das neue Schabbach.

 

  1. Heimat – Eine deutsche Chronik, Zyklus von elf Spielfilmen, BRD 1984.
  2. zwei weitere Fernsehfilm-Zyklen und ein Kinofilm folgten
  3. Meinhof, Renate: Die Fremden, Süddeutsche Zeitung vom 2. Januar 2015, S. 35; gleichlautender Artikel in SZonline vom 4. Januar 2015 unter dem Titel „Auf Tuchfühlung mit der großen Sprachlosigkeit“ unter: http://www.sueddeutsche.de/medien/tannbach-schicksal-eines-dorfes-im-zdf-auf-tuchfuehlung-mit-der-grossen-sprachlosigkeit-1.2287828; letzter Abruf 09.02.2015.
  4. Wild, Bettina: "Kollektive Identitätssuche im Mikrokosmos Dorf. Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten und die Heimat von Edgar Reitz", in: Reiling, Jesko (Hg.), Berthold Auerbach (1812–1882): Werk und Wirkung, Heidelberg 2012, S. 263–283.
  5. Diese Kritik referiert Moltke, Johannes von: "Heimat-Orte. Zur Konstruktion von Raum und Moderne in Heimat (1984)", in: Koebner, Thomas (Hg.), Edgar Reitz, München 2012, S. 43–63, bes. S. 48 f.
  6. Der Hintergrund der beiden dient jedoch dazu, sie als Verfolgte des Nazi-Regimes zu markieren.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/306

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Ländlicher Raum: Was mag das sein?

Rural history - ich suche immer noch nach einer Übersetzung, die den offenen Charakter des englischen Begriffs ins Deutsche überträgt. Auf Dauer werde ich mich wohl mit Hilfskonstruktionen durchs Leben schlagen, denn “ländliche Geschichte” geht gar nicht, Geschichte des Ländlichen klingt mir schon wieder zu wolkig. Warum aber nicht, wie mein Kollege Jürgen Finger vorgeschlagen hat, “Geschichte ländlicher Räume”?

Nun, das würde bedeuten, dass ich einen klaren Fokus auf die Historizität von Räumen legen würde - das tue ich aber nicht, zumindest nicht schwerpunktmäßig. Natürlich fließt das ein, aber der Fokus liegt in meinem Projekt auf dem Wandel politischer Formen und Felder, nicht auf Raumproduktion und -aneignung. Trotzdem ist die Auseinandersetzung damit, was einen ländlichen Raum ausmacht, für mich selbstverständlich eine wichtige konzeptionelle Frage. Heute ein paar erste Überlegungen dazu:

Wenn man einen Raum als “ländlich” beschreibt, setzt das die Abgrenzung von einem anderen Raum voraus - zumindest in der ersten Assoziation. Ist dieser “andere” Raum die Stadt? Handelt es sich also bei ländlichen um “nicht-städtische” Räume, und damit ist dann alles gesagt? Dann sind wir natürlich flugs in der Problematik, was eigentlich eine Stadt ist, wie sie sich konstituiert, wann wir es mit einer sehr kleinen Stadt, wann mit einem sehr großen Dorf zu tun haben: Ist es also nur ein quantitatives Problem, Städte und Dörfer, Städte und den "ländlichen Raum" voneinander abzugrenzen? Ist es das Recht, die Ökonomie (Markt statt Subsistenz) gar die Mentalität, was die Stadt zur Stadt macht? Über diese Fragen diskutiert die Stadtforschung interdisziplinär seit vielen, vielen Jahrzehnten, ohne zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen (zumindest soweit ich weiß - ich lasse mich gerne belehren!). Und es geht auch gar nicht, zu wandlungsfähig und zu kulturell geprägt sind Städte - und damit auch nicht-städtische Räume.

Wichtig scheint mir - jenseits der Abgrenzung von Städten und ländlichen Räumen - aber noch ein anderes Problem zu sein, nämlich die Relationierung ländlicher Räume. Das heißt also; in welchem (funktionellen) Verhältnis stehen sie zu anderen Räumen?

Provisorisch lassen sich drei Relationen unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Umgangsweisen mit dem ländlichen Raum und bestimmte Ausformungen der Stadt-Land-Verhältnisse in der Moderne beschreiben:

  • Komplementäre Räume: Ländliche Räume werden als komplementäre Räume, vor allem komplementär zur Stadt, konstituiert, und das vor allem (aber nicht nur) in ökonomischer Hinsicht. Sie funktionieren anders und sind damit dazu geeignet, bestimmte Defizite der Stadt auszugleichen. Das betrifft in besonderem Maße die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln und anderen Konsumgütern, die in der Agrarwirtschaft hergestellt werden. Das betrifft aber auch, in bestimmter Hinsicht, die Funktion der ländlichen Räume als Erholungsräume, die Städtern dazu dienen, sich vom hektischen Leben in der Stadt zu erholen, um dann, ausgeruht und erholt, in die Stadt zurückzukehren und dort wieder im Rahmen der städtischen Ökonomie produktiv zu sein. Umgekehrt würde der Austausch funktionieren, wenn Arbeitslose im ländlichen Raum angesiedelt werden sollen (wie in der Zwischenkriegszeit durchaus geschehen) oder Flüchtlinge Dörfern zugteilt wurden/werden, um die überlasteten Städte (z.B. nach dem Zweiten Weltkrieg) nicht noch mehr zu belasten. In diesem Fall werden also ländliche Räume als Versorger und Entlaster der Städte konzipiert.
  • Oppositionelle Räume: Ländliche Räume werden als Gegen-Räume zur Stadt oder zu Ballungsgebieten entworfen, und das seit vielen, vielen Jahrzehnten, in sehr unterschiedlichen Formen. Idealisierte Ländlichkeit ist ein Typ davon, wenn etwa Riehl das “Land” als Hort der “Kräfte der Beharrung” gegenüber den “Kräften der Bewegung” in der Stadt entwirft. Die ländlichen Räume dienen dann nicht als Versorgungsräume, sondern als Gegengewichte für problematische Entwicklungen in den Städten oder den Gesamtgesellschaften. Innere Kolonisation oder Siedlungsbewegungen wären vor allem dann aus dieser Relationierung erklärlich, wenn es um die Schaffung eines “gesunden Bauernstandes” im rassistischen Interesse ginge. Es wäre zu überlegen, ob bestimmte Formen der Stadt-Land-Wanderung durch diese räumliche Relation verständlicher werden, etwa der Zuzug von Städtern in periphere Räume, etwa die Uckermark.1 Ländlichkeit erscheint so als Gegenbild zur städtischen Welt.
  • Darüber hinaus gibt es den dritten Typus, die Entwicklungsräume: Ländliche Räume wurden in der Moderne immer auch als rückständig beschrieben, die durch bestimmte Maßnahmen modernisiert werden müssten. Auch dies ist eine räumliche Relation, vor allem im Vergleich zu städtischen Räumen, aber auch zu “allgemeinen”, d.h. Makro-Räumen. Wenn etwa in den Bildungsdebatten der 1960er Jahre das “katholische Mädchen vom Lande” als eine Chiffre für den Entwicklungsbedarf des gesamten Bildungssystems, vor allem aber als Modernitätsdefizit des ländlichen Bildungssystems verstanden wird, dann handelt es sich um die Produktion eines ländlichen Entwicklungsraums.

 

Das sind nur erste Überlegungen; die Zeit wird zeigen, inwiefern diese Gedanken dazu beitragen, ländlichen Politisierungsprozessen besser zu Leibe rücken zu können. Interessant ist auf jeden Fall, dass es offenbar auch an anderer Stelle das Bedürfnis gibt, die Begriffsverwendung und -geschichte des “ländlichen Raums” genauer zu reflektieren: Ulrich Schwarz vom Institut für Geschichte des ländlichen Raums (IGLR) in St. Pölten weist in seinem Tagungsbericht zur Veranstaltung “Ländliche Geschichte neu schreiben”, die im November in Wien stattfand, explizit darauf hin, dass dies bislang noch nicht ausreichend geschehen ist. “Ländlich”, so schreibt er, sei ein Adjektiv, das mehrfach relational verstanden werden müsse.2 In den nächsten Wochen und Monaten werde ich auf diese Überlegungen zurückkommen.

  1. Vgl. dazu das Buch der Geographin Julia Rössel: Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktionen durch Zugezogene in der Uckermark, Bielefeld: Transcript 2014.
  2. Ulrich Schwarz: Tagungsbericht: Ländliche Geschichte neu schreiben, 13.11.2014 Wien, in: H-Soz-Kult, 18.12.2014, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5739>; 19. Januar 2015.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/297

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Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften, Episode 1

Heute: Josef Moosers "Ländliche Klassengesellschaft"

Vor sehr, sehr langer Zeit (zumindest kommt es mir so vor) habe ich hier einmal über Klassiker geschrieben – und warum das Lesen von Klassikern mehr ist, als nur einem (eingebildeten oder realen) Kanon hinterher zu hecheln. Auch wenn ich den Text von damals heute in der Form sicher nicht mehr schreiben würde, bleibe ich doch dabei: Klassiker Lesen hat einen Sinn. Es öffnet den Blick auf vergangene Diskussionen und schärft damit auch die Aufmerksamkeit für gegenwärtige Probleme.

Dies ist nun also die erste Folge einer losen Serie, in der ich Klassiker der Geschichte ländlicher Gesellschaften vorstellen werde. Damit schaffe ich selbst einen „Kanon“, einen Korpus von Texten, die ich für wichtig halte, wenn man sich mit der Geschichte ländlicher Gesellschaften in der Neuzeit auseinandersetzen will.

Josef Moosers Werk über die „Ländliche Klassengesellschaft“1 ist ganz sicher ein solcher Klassiker. Das Buch wird als Grundwissen über die Sozialgeschichte ländlicher Gesellschaften zumindest in der deutschen Diskussion stillschweigend oder explizit vorausgesetzt. Stefan Brakensiek hat vor einiger Zeit einen sehr lesenswerten Artikel über Rezeption und Aktualität des Werks veröffentlicht, auf den ich verweisen kann.2 Damit bin ich entlastet und kann kurz erklären, welche Punkte für mich in dem Buch wichtig und weiterführend sind:

1. Mooser war einer der ersten, die im deutschsprachigen Raum das Konzept der „peasant society“, das aus der Sozialanthropologie stammt, verwendet haben. Zu dem Konzept selbst schreibe ich noch mal genauer was, hier soll nun das reichen: Die bäuerliche Gesellschaft wird als Teilgesellschaft verstanden, die durch eigene Werte, Regeln und Mechanismen gekennzeichnet ist; durch Herrschaftsverhältnisse („mächtige Außenseiter“ wie Staat und Grundherrschaft) ist die Teilgesellschaft in größere Zusammenhänge eingebunden. Mooser greift das Konzept als heuristisches Werkzeug auf, trotz der Kritik, die er daran grundsätzlich übt (zu stark homogenisierend, Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilgesellschaften werden systematisch unterschätzt). Denn die Idee der „peasant society“ ermöglicht es, die Eigenständigkeit ländlicher Gesellschaften zu analysieren, ohne dabei grundsätzlich von ihrer Rückständigkeit auszugehen – und da sind wir wieder bei der Problematik der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, über die ich neulich schrieb. Das Modell der „peasant society“ ist für Mooser ein Hilfsmittel, diesem Problem zu entkommen. Zwar ist meine Meinung, dass man sich damit mehr Schwierigkeiten einbrockt als vom Hals schafft, aber die Frage bleibt: Wie relationiere ich die ländliche zur „Gesamt“-Gesellschaft, die offenbar nach anderen Regeln spielte?

2. Über weite Strecken handelt es sich bei dem Buch um eine Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft in den zwei untersuchten westfälischen Gebieten (Minden-Ravensberg und Paderborn). Vor allem im letzten Kapitel kommt Mooser aber auf die vielfältigen Prozesse der Politisierung zu sprechen, die im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 eine Rolle spielten und die einen neuen Blick (also in den 1980ern) auf die Rolle der ländlichen Gesellschaften versprachen: Vor allem ist sehr einleuchtend, wie komplex das Ineinandergreifen von Konservatismus und Politisierung sich am Beispiel der untersuchten ländlichen Unterschichten darstellt. Mooser nennt die Haltung „reflektierten Traditionalismus“, um damit zu zeigen: Es handelte sich keineswegs um eine unpolitische Haltung der ländlichen Unterschichten bzw. der ländlichen Gesellschaften insgesamt, sondern im Gegenteil um eine hochpolitisierte Einstellung, die aber eben nicht demokratisch oder gar sozialistisch geprägt war, sondern konservativ-traditionalistisch, staatsnah und anti-bürgerlich. Der Traditionalismus der ländlichen Unterschichten war, so Mooser, keineswegs nur auf den Erhalt des Vorhandenen gerichtet, sondern hat auch utopische Anteile – es ging um die Neuschaffung von Institutionen, um der traditionalen moral economy (Mooser übersetzt den Begriff E.P. Thompsons mit „sittliche Ökonomie“) zum Durchbruch zu verhelfen. Dass in diesem Zusammenhang der Staat als Akteur angerufen wurde, ist auch ein Zeichen davon, dass ein rein lokaler Gesellschaftsbezug im 19. Jahrhundert nicht mehr funktionierte, weil sich gesellschaftlich etwas verändert hatte:

Mit der Aushöhlung der subsistenzorientierten Familienwirtschaft und der wachsenden Marktabhängigkeit der Einkommen entstand und erweiterte sich die politische Betroffenheit wie umgekehrt eine lebensnotwendige Angewiesenheit auf Politik. 3

Der Staat hatte also nicht nur seine Form und seine Wirkungen verändert (wie in vielen Theorien und Untersuchungen zum Staatsausbau im 19. Jahrhundert nachzulesen ist), sondern auch seine Adressierbarkeit.

Mooser weist also auf zwei bemerkenswerte Punkte hin: Erstens ist eine auf den ersten Blick „unpolitische“ oder „traditionale“ Positionierung möglicherweise hochpolitisch – es kommt darauf an, mit welchen Politikbegriffen man an die Untersuchung geht, und ob man (implizit oder explizit) Vorstellungen von „Fortschrittlichkeit“ zu Kriterien für Politisierung macht.

Zweitens: Im Anschluss an Mooser könnte man die These aufstellen: Der Wandel von Staatlichkeit hat auch etwas mit dem Wandel von Wahrnehmungen, Erwartungen und Ansprüchen nicht-staatlicher Akteure zu tun. Staatlichkeit und Politik sollten als (sich verändernde) Relationen untersucht werden.

Beide Hinweise sind – blickt man auf das Veröffentlichungsdatum des Buches – nun also keineswegs neu, aber ich sollte sie im Kopf behalten. Wir werden sehen, welche Ergebnisse ich damit für die Zeit nach 1848 zutage fördern kann.

  1. Mooser, Josef: Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984
  2. Brakensiek, Stefan: "Ländliche Klassengesellschaft. Eine Relektüre", in: Maeder, Pascal/Lüthi, Barbara/Mergel, Thomas (Hg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Moser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 27-42
  3. Mooser, Klassengesellschaft, 365

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/282

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Gern gelesen: Das Konzept der „Moderne“ – L. Raphael

„Die europäische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bietet vielfaches Anschauungsmaterial für den unerwarteten, funktionsgerechten Einbau älterer Institutionen, Gewohnheiten oder Statusgruppen in die Dynamik der Moderne. […] Gerade die Geschichtsträchtigkeit der europäischen Gesellschaften […] hat die Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit nahegelegt. Die Umcodierung dieser Sozialgebilde hat dazu geführt, dass man ein großes Repertoire nationaltypischer Anpassungen und Aggiornamentos von Institutionen und Traditionen im Europa des 20. Jahrhundert [sic] findet. Die Gesellschaften und Kulturen der europäischen Moderne sind nicht aus einem ‚Guss‘, sondern das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken.“ (Raphael, Konzept, 2014, S. 104)

Ein weiterer Aufsatz von Lutz Raphael zur historiographischen Brauchbarkeit des Begriffs der Moderne ist vor einigen Monaten in einem Sammelband erschienen. Ich habe ihn gerne gelesen, und ich könnte noch viel mehr zu diesem Text und den darin vertretenen Argumenten sagen. Denn der Begriff der Moderne, wie Raphael (und Christof Dipper) ihn für die geschichtswissenschaftliche Analysearbeit operationalisieren, ist auch für mein Projekt sehr wichtig. Hier aber nur ein paar Gedanken zu der oben zitierten Passage.

Schon die beiden Aufsätze von Achim Landwehr, die sich kritisch mit der Denkfigur der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auseinandergesetzt haben, habe ich mit großem Interesse gelesen und als sehr anregend empfunden (auch sie empfehle ich ausdrücklich zur Lektüre!). In den Texten geht es vor allem um die Vorstellungen von historischer Zeit(en), die dem Reden von Anachronismen bzw. der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zugrunde liegen, und darum, dass damit explizite und implizite Wertungen verknüpft sind, die häufig der Analyse von „Gleichzeitigkeiten“, die Landwehr ins Zentrum stellen will, eher im Wege stehen.

Raphael bezieht nun die Kritik, die auch Landwehr äußert, eher auf die Frage nach gesellschaftlicher Verfasstheit, also darauf, ob es sich um letztlich soziale/politische Pathologien handelt, wenn solche Koexistenzen vorliegen. Die Antwort ist – das kann man im obigen Textausschnitt klar erkennen – natürlich: nein, keine Pathologie, im Gegenteil. Koexistenzen unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken mit verschieden langer Geschichte sind in europäischen Gesellschaften eher die Regel als die Ausnahme. Meine Frage ist jetzt nur: Ist die Koexistenz denn tatsächlich „paradox“, wie Raphael schreibt? Oder erscheint sie nur als paradox, wenn man mit der modernisierungstheoretischen Brille auf sie blickt?

Interessant ist es also nicht so sehr sich anzusehen, wo es solche Koexistenzen gibt. Stattdessen könnte man untersuchen, wie die oben angesprochenen „Umcodierungen“ vonstattengehen. Also: Wie funktioniert diese Koexistenz? Welche Anpassungen finden statt? Wie finden sie statt? Werden sie von den ZeitgenossInnen reflektiert und bewertet? Dieser Fragenkatalog lässt sich wohl noch lange weiterführen. Für die ländlichen Übergangsgesellschaften ist der Hinweis auf die Koexistenzen wichtig und hilfreich – nicht nur, um in Gesprächssituationen wie dieser (schon häufiger vorgekommenen) klug antworten zu können:

Und, worüber forschst Du so?

Ländliche Gesellschaften um 1900.

Ach so, ja, klar: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Hach ja.

Literaturhinweise:

Dipper, Christof: Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), S. 37—62.

Landwehr, Achim: Von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, in: Historische Zeitschrift 295 (2012), S. 1—34.

Ders.: Über den Anachronismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2013), S. 5—29.

Raphael, Lutz: Das Konzept der „Moderne“. Neue Vergleichsperspektiven für die deutsch-italienische Zeitgeschichte?, in: Großbölting, Thomas/Livi, Massimiliano/Spagnolo, Carlo (Hg.), Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft, Berlin 2014, S. 97—109.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/275

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