„Die Kathedrale“ in Köln

Einem großen Paradigma der Moderne widmete sich die großangelegte Schau im Wallraf-Richartz-Museum in Köln, die am Wochenende zu Ende ging. Das Motiv der Kathedrale in der Kunst wurde von der Romantik her untersucht. Obwohl die Ausstellung den Versuch unternahm, das Thema in einen diskursiven Rahmen einzubetten, bestimmte ein grundsätzlich veralteter Forschungsstand den Tenor. Seit den 1970er Jahren ist bekannt, dass Goethes "Erlebnis" vor dem Strassburger Münster ein Sampling vorhandener Texte ist, die das Überwältigtsein des Autor suggerieren, ja simulieren. Es handelt sich bei Goethes Manifest um eine wohlkalkulierte Polemik gegen französische Architekturdiskurse, vor allem gegen Marc Antoine Laugier. Von seinen Aussagen distanziert sich der reifere Denker später zu Recht. Die in der Ausstellung vertretene Lesart ist keine Marginalie. Sie verfolgt unreflektiert jenes Schema der Genieästhetik weiter, die Goethe qua Reproduktion nachhaltig in unser Denkmuster über Kunst implementiert hat.

köln wallraf richartz-bleu

Dem entspricht der große blinde Fleck, den die Ausstellung samt Publikation produziert bzw. tradiert. Keine Erwähnung findet die Instrumentalisierung des Avantgarde-Paradigmas 'Kathedrale' im Nationalsozialismus, wobei sich Albert Speers Inszenierung des "Lichtdoms" förmlich aufdrängt. Statt dessen: Geschichtslehrstunde zum – selbstverständlich zu verurteilenden – deutschen Beschuss der Kathedrale in Reims im 2. Weltkrieg. Überhaupt war die Ausstellung auf die Darstellung des deutsch-französischen Verhältnisses hin zugespitzt. Dessen Geschichte jedoch wird in didaktisch sauber voneinander separierten Kapiteln erzählt. Man hätte sich hier mehr Interferenzen gewünscht. Das nach Regionen und Epochen sortierte Abarbeiten des Themas tat dem Konzept Abbruch. Am stärksten geriet die Schau, wahrscheinlich mehr durch Zufall, im Grafikkabinett. Hier zeigte die Konfrontation eines Schinkel mit Feininger und Taut die Möglichkeiten, die ein stärker transhistorisch orientierter Zugang geborgen hätte.

Ebenfalls gelungen ist in der Domstadt der Bezug zur lokalen Geschichte. Der Kölner Dom ragte mit seiner Realpräsenz gewissermaßen in die Ausstellung hinein. Aber auch die Kölner Neugotik hätte viel differenzierter erzählt werden können. Lückenhaft ist hierbei vor allem die Bibliografie des Kataloges, der u.a. Georg Germanns grundlegende Untersuchung "Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie" unterschlägt.

Interessant dafür, dass der stilistische Durchbruch des Impressionismus sich ausgerechnet am Motiv der Kathedrale vollzog. Monet, so macht die Ausstellung klar, antizipierte nicht nur malerische Souveränität, sondern auch das Gesetz der Serie. Die Kathedrale als Objekt serieller Reproduktion kehrt bei Warhol, Lichtenstein und Balkenhol wieder. Einen pointierten Schlusspunkt setzte die Ausstellung mit Andreas Gurskys fotografisch-digitaler Scheinarchitektur aus gotischen Maßwerkfenstern. Das Bild verstört durch seinen Baustellencharakter, dem das Kamerateam zu trotzen scheint. Die Akteure des Bildes, sie spiegeln zugleich die BesucherInnen der Monumente selbst sowie jene der Ausstellung über sie.

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/574

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Wissenschaft. Und der Rest der Welt

Naturwissenschaft – so scheint der Konsens in Deutschland zu lauten – ist gleichzusetzen mit “Wissenschaft”. Die im Englischen übliche Differenzierung von Science und Humanities scheint also vollständig in die deutsche Sprache und Wissenschaftskultur eingesickert zu sein.

In den vergangenen drei Tagen besuchte ich die Summerschool “Wissenschaft kommunizieren” im Haus der Wissenschaft in Braunschweig. Um es kurz zu machen: Als Geisteswissenschaftlerin fühlte ich mich dort völlig deplatziert — aber warum?

Im Nachhinein – man ist zu diesem Zeitpunkt gemeinhin schlauer! – bin ich ziemlich blauäugig an die ganze Sache herangegangen. Ich bin Wissenschaftlerin mit hoher Web 2.0-Affinität, ich befasse mich gerne und oft mit Sprache, Kommunikation fand ich schon immer super und ich habe in der Vergangenheit schon einige PR-Projekte erfolgreich umgesetzt. Dies waren meine Kriterien, den Claim “Wissenschaft kommunizieren” als direkt als auf meine Person maßgeschneidertes Angebot wahrzunehmen.

Braunschweiger Löwe

Brüllt einsam. Braunschweiger Löwe (Kopie der Bronze aus dem späten 12. Jh.)

Diese Annahme wurde eigentlich sofort enttäuscht und es liegt weder primär an den ReferentInnen, noch an den OrganisatorInnen und nicht einmal an den TeilnehmerInnen. Nein.  Es handelt sich, wie ich denke, um ein strukturelles Problem. Die Naturwissenschaften mit ihrem nachgeordneten unmittelbaren Nutzen für verschiedene Industriezweige, angefangen von der Pharmazie bis hin zur Weltraumtechnik, die bekanntlich auch Innovationen wie Thermos-Kannen und Klettverschlüsse ins tägliche Leben bringt:  sie alle bewegen mehr Kapital. Es fließen höhere Fördersummen, weil ein Output erwartet wird, der sich langfristig quantifizierbar im Bruttosozialprodukt niederschlägt. Die Politik hat hieran ein höheres Interesse und fördert “Wissenschaftskommunikation”, wie man an den Geldgebern und Kooperationspartnern des Veranstalters , wissenschaft-im-dialog ersehen kann. Nicht zuletzt fand die Veranstaltung an einem Technologiestandort statt.

Schon, wenn ich das schreibe, komme ich mir wie ein lebendes Fossil vor. Welche Relevanz hat das, was ich tue für die Welt? Wenig bis gar keine?

Dabei wird es komplizierter: Mit meinem Weggang von Österreich bin ich nun von der Kunstgeschichte in den Fachbereich “Kunstwissenschaften und Medientheorie” gewechselt. Kunstwissenschaft lässt sich nicht ins Englische übertragen: “Science of Art” oder “Art Science” sind undenkbare Sprachkonstrukte. Einer der Pioniere, welche die Kunstgeschichte aus der Historiographie heraus näher heran an die empirisch operierenden Fächer rücken wollten, war aber Hans Sedlmayr. Sedlmayr favorisierte einen datenbasierten ahistorischen Zugang. Er scheiterte, das Verfahren ist problematisch. Valide Daten und harte Fakten, das sind Werte, die mir beispielsweise per se Wahrheit suggerieren. Auch ich würde gerne nur mit reinen Fakten operieren, aber ich werde gleich schildern, warum das nicht geht.

Daten  sind, wie ich meine allesamt – und das schließt meines Erachtens auch die Naturwissenschaften mit ein – abhängig von den Parametern, in denen sie generiert werden sowie ihrer jeweiligen Interpretation. Die Objektivität ist oft eine vermeintliche. Es ist allerdings ein philosophisches Problem zu definieren, ab wann wahre Aussagen produziert werden, darauf möchte ich mich jetzt gar nicht einlassen, weil das auch zu weit führt.

Wissenschaftskommunikation und auch Wissenschaftsjournalismus , so mein Eindruck, betrifft in der Regel naturwissenschaftliche Inhalte. Die Geisteswissenschaften finden im Feuilleton statt. Daher auch der Eindruck meiner KollegInnen (VertreterInnen der dominanten Gruppe, nämlich aus den Naturwissenschaften stammend), nur in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur würde “gerecht”, also objektiv (!) berichtet werden, während man sich nur in der “Wissenschaft” mit dieser fiesen Ökonomie der Aufmerksamkeit herumzuschlagen habe.

Ich sage es an dieser Stelle frei heraus:

Das “Wissenschaft” in der Öffentlichkeit und in der Community so derartig einseitig definiert wird, ist nicht hinnehmbar!

Hier muss man sofort ansetzen und Lobbyarbeit seitens der Dachverbände der Disziplinen starten, um zu kommunizieren, dass es uns gibt, wer wir sind und was wir warum wie machen.

Ich habe drei Tage lang meine eigene Relevanz befragt und kann daher Einiges dazu sagen:

Ich versuche zu verstehen, wie die Kultur in der wir leben, funktioniert. Dafür habe ich mir als konkretes Untersuchungsobjekt eine Person ausgesucht, die einerseits die Kunstgeschichte als Disziplin mitgeprägt hat, andererseits aber auch die öffentliche Meinung über das was Kunst ist und sein kann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst hat. “Verlust der Mitte” wird von der Generation der kulturinteressierten 60-Jährigen in Deutschland gekannt. Das Buch transportiert aber nicht nur die persönliche Meinung seines Autors, sondern einen Diskurs, also eine gewisse Menge an Meinungen. Als Diskurs bezeichnen wir – mit Foucault – die Art und Weise wie Wissen produziert und tradiert wird. Diese Struktur ist nicht offensichtlich, sondern sie kann durch Analysen offengelegt werden. Foucault kann deshalb als Poststrukturalist bezeichnet werden, weil er Strukturen dekonstruiert, indem er sie offenlegt, aufzeigt, transparent macht. Ich will zeigen, wann dieser modernekritische Diskurs entstanden ist, wie er sich bei Sedlmayr manifestiert und auf welche Art und Weise er bis heute existiert. Das ist ein unbequemes Thema, weil ich zeigen kann, dass Paradigmen in der Kunstgeschichte und darüber hinaus im Kunstdiskurs herumgeistern, die längst überwunden geglaubte totalitaristische Ressentiments weiter transportieren. Ich hoffe, damit einen Beitrag zur Selbstreflexion der Gesellschaft insgesamt zu leisten. Als Einzelperson muss ich mich auf einen relativ kleinen Bereich konzentrieren – aber das ist in den meisten naturwissenschaftlichen Studien auch so.

In meiner Summerschool, in der ich zunehmend eine Verweigerungshaltung entwickelte, habe ich mir überlegt, diesen Blogartikel zu verfassen. Ich habe einige Ideen, für weitere Blogartikel in petto und ich habe mir vorgenommen, Twitter wieder stärker zu nutzen. Mir ist ein großes Defizit bewusst geworden, denn es besteht in der Wissenschaft und insbesondere in den Geisteswissenschaften eine große Kommunikationsskepsis. Selbstermächtigung – eigenes, unautorisiertes, wildes Publizieren wird nicht oder selten goutiert.

Die Chance für einen Dialog zwischen den Wissenschaftskulturen wurde in Braunschweig versäumt. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, frontal unterrichtet zu werden. Dass sich außerhalb der Kaffeepause keiner der überwiegend männlichen Referenten für die zu 90% weiblich Teilnehmerschaft und ihre Motivation, ihnen zuzuhören, interessiert, bin ich im postgradualen Feld in dieser Form nicht mehr gewöhnt. In Arbeitsgruppen eingeteilt wurde ich zuletzt … ja wann eigentlich? Im Kindergarten? Dem einschränkend ist hinzuzufügen, dass ich mit dieser Meinung eine Einzelposition vertrete, die dominante Gruppe, auf die das Ganze zugeschnitten war, übte positives Feedback. Mir persönlich bleiben aber zu wenig greifbare Facts auf viel Unbehagen. Das ist nicht schlimm, es ist oft der erste Schritt in etwas Neues.

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/558

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How to write about the Vienna School of Art History?

Ein Kommentar zu Matthew Rampleys Vortrag:[i]

“How to write about the Vienna School of Art History?” Diese Frage ist brisant. Ihre Antwort lieferte Erkenntnis daüber, was die Welt der Wiener Schule im Innersten zusammenhält.

Um es kurz zu machen, der Referent, Matthew Rampley ließ das Publikum diesbezüglich an einem der traditionellen Mittwochsvorträge in Faustischer Unwissenheit zurück. Die Formel des Vortrags „How to write about Vienna School of Art History“ hatte sich zu „Die Wiener Schule der Kunstgeschichte“ verwandelt. Ein semantischer Shift vonTragweite. Im ersten Fall hätte es nämlich darum gehen müssen, wie die Konstruktion „Wiener Schule“ funktioniert.

Für diese zeichnet maßgeblich Julius von Schlosser verantwortlich, der 1934 in einem Aufsatz zwei Dinge gemacht hat:[ii] Erstens zeichnete er eine Genealogie von österreichischen Kunstgelehrten, die diese Schule bildeten und zweitens betonte er die deutsche Identität dieses Konstrukts und richtete es somit 1934 auf den großen nördlichen Nachbarn. Schlossers Wiener Schule ist eben keine „neutrale“ Auflistung der forscherischen Leistungen, sondern inkludiert und exkludiert bestimmte Forscher. Albert Ilg und Josef Strzygowski beispielsweise spricht der Autor die Zugehörigkeit zur exklusiven Gemeinschaft weitgehend ab. Im Falle Strzygowskis hat dies tatsächlich dazu geführt, dass er schwer integrierbar in das Wiener System zu sein scheint. Solcherlei langlebige Verzerrungen zeigen dann, wie wirkmächtig Schlossers Erfindung schlussendlich ist.

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Dass es viele Einzelstudien zu Akteuren der Wiener Schule gibt, denen wenige zur Wiener Schule als solcher entgegenstehen, damit eröffnete Rampley die Erörterung. Der erste Versuch, die Wiener Kunstgeschichte in ihrer Methodik insgesamt zu erfassen, stammt von Vincenc Kramář.[iii]

Im Zentrum der in der rezenten wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung steht die „Riegl-Renaissance“, seit den 1970er Jahren.[iv] Hier wurde Riegl nachträglich zu einem der Antipoden der Visual Culture. Dabei wies Rampley auf die wichtige Tatsache hin, dass Riegls Multikulturalismus durchaus imperialistisch zu lesen ist und in der habsburgischen Staatsideologie als Vielvölkerreich gründet. In dieser herrschte eine – wenn man so will – deutsche Leitkultur, die zwangsläufig mit nationalistischen Bestrebungen der Kronländer in Konflikt geriet. Um die Berufung des Tschechen Max Dvořak auf die Wiener Lehrkanzel entzündete sich dann auch ein heftiger Streit.

Die Wechselwirkungen zwischen ihm, Riegl und der tschechisch-sprachigen Kunstforschung konnte Rampley überzeugend am El Greco-Vortrag Dvořaks nachweisen. So fußt der Vortrag auf einem Aufsatz des kubistischen tschechischen Malers Emil Filla, dessen theoretische Basis wiederum Riegls Kunstwollen bildet. Diese Reziprozität ist ein bisher unbearbeitetes Terrain, angesichts der Sprachbarrieren und territorialen Barrieren in Zeiten des Kalten Kriegs aber längst überfällig. Die spezifische Wiener Situation offenbart sich am Gegensatz von Zentrum und Peripherie innerhalb der Donaumonarchie, sie ist als solche atypisch im deutschsprachigen Raum. Innerhalb dieses kulturrelativistischen Systems kommt es sowohl zur kulturellen Mimikry als auch zum Widerstand. Kunstgeschichte diente als Instrument des Widerstandes, als Manifest spezifischer kultureller Identität.

Denkt man Rampley weiter und fragt danach, wie eine Geschichte der Wiener Schule zu schreiben wäre, so hätte man eine Phase 1, die von 1849-1918 reicht und deren Amalgam der Liberalismus und die Habsburger Monarchie mit Fokus auf dem Deutsch-Österreichertum bilden. Einen Sonderstatus nimmt dabei einzig Strzygowski ein, der mit seinem vergleichenden bildwissenschaftlichen globalen Ansatz die Debatte nach der Frage um die gesamte europäische Identität insgesamt anstößt. Dieses progressive Denken wird allerdings vom „Nordstandpunkt“ seines völkischen Spätwerks fast vollständig verdeckt. Auch erklärt sie nicht dieses Paradoxon. Die Komplexität der politischen Haltungen nimmt in den 1920er und 1930er Jahre zu – vorausgesetzt man betrachtet alle Akteure, die am Institut in dieser Zeit lehren und nicht nur die Ordinarii. Eine Auseinandersetzung mit der Frage des Österreichischen in der Kunst liefert beispielsweise Sedlmayr mit seinem “Österreichischen Barock”.

Man ist geneigt, zu sagen: Lieber Julius von Schlosser, danke für Ihren gelungenen PR-Gag, jetzt wenden wir uns wieder wichtigeren Dingen zu. Aber solche Setzungen sind keine belanglosen Erscheinungen. Sie verschaffen Akteuren einen Zuschreibungsrahmen in ein spezifisches, exklusives elitäres Wissenschaftsdispositiv, denn nicht jede/r AbsolventIn repräsentiert(e) automatisch die Institution. Daher muss die Frage lauten: Wie wurde die Geschichte der Wiener Schule geschrieben? Oder: Wie ist die Geschichte der Wiener Schule zu schreiben. Ob sich diese Zauberformel, des Pudels Kern gewissermaßen jemals offenbaren wird, darüber bin ich sehr gespannt.

 

[i] Matthew Rampleys Vortrag, “Die Wiener Schule der Kunstgeschichte” fand am 23. Oktober 2013 im Rahmen der Mittwochsvorträge der Kunsthistorischen Gesellschaft statt. Rampley hält eine Professur für Kunstgeschichte an der University of Birmingham. Seine Monographie, The Vienna School of Art History. Scholarship and the Politics of Empire, 1847-1918 (University Park, 2013) ist derzeit in Vorbereitung.

[ii] Julius von Schlosser, Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich.” Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung Erg. Bd. 13 (1934).

[iii] Vincenc Kramář, “Videňská Škola Dějin Umění,” in: Volné Směry (1910).

[iv] Georg Vasold, Alois Riegl und die Kunstgeschichte als Kulturgeschichte. Überlegungen zum Frühwerk des Gelehrten,  Freiburg i. Br. 2005, S. 6.

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/530

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Warten auf Tacita Dean

Am Sonntag endet die dOCUMENTA (13). Ihre ursprüngliche Intention war es, 1955 das vormals isolierte Deutschland kulturell wieder mit der Welt kurzzuschließen.

So stand sie in ihrer ersten Ausgabe im Zeichen der verfemten deutschen Avantgarde. Reiht man die Ausstellungen seither aneinander, so bilden sie das Rückgrat der künstlerischen Entwicklung der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

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d (13) by Mizzi Schnyder

1955, im Jahr der ersten Kasseler Weltkunstausstellung, gab Hans Sedlmayr seinen öffentlichen publizistischen Widerstand gegen die Moderne auf.

Inwieweit er damals überblicken konnte, dass der gesellschaftliche Konsens so ziemlich das Gegenteil seiner Position repräsentieren würde, kann derzeit nicht beantwortet werden.

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d (13) Geoffrey Farmer by Mizzi Schnyder

Dennoch soll das Anlass genug sein, einige Gedanken zur diesjährigen Ausgabe zu notieren, um von hier aus später in eine Rückschau einzutreten. Die retrospektive Haltung war zugleich eines der Leitthemen der documenta.

Gewagt wurde diese in fiktiven Rückblicken aus einer imaginären Zukunft in unser Heute, wie in den Arbeiten von Adrián Villar Rojas und MOON Kyongwon & JEON Joonho. Ersterer hatte auf der seit dem Mittelalter bestehenden terassenförmig angelegten Weinberganlage Artefakte einer fiktiven Ausgrabung inszeniert.[1]

d (13) Adrián Villar Rojas by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Adrián Villar Rojas by Mizzi Schnyder

Der koreanische Beitrag zeigte seine Retrospektive aus der Zukunft in multimedialer Form.[2] Ein Film in Doppelprojektion erzählt die Geschichte zweier Protagonisten. Eines zeitgenössischen, der mit Gegenständen hantiert und einer zukünftigen weiblichen Figur, die diese Relikte auswertet und archiviert. Das Buch beschreibt gegenwärtige Kulturformen. Kombiniert wird dies mit einer Sammlung von Lifestyle-Produkten, die in der postapokalyptischen Welt benötigt werden. Angeregt ist die Arbeit von dem gleichnamigen Buch ‚News from Nowhere’ (1890) von Wiliam Morris, dem Begründer des Arts and Crafts Movement.

Anachronistisch erscheint Michael Rakowitz’ Archiv nachgemeißelter Bücher, bestehend aus den bibliophilen Verlusten, die das Friedericianum im 2. Weltkrieg zu beklagen hatte.[3] Im Rahmen eines Steinmetz-Seminars in Bamiyan, das dazu diente, die handwerklichen Fähigkeiten wiederzubeleben, gerät hier ein anderer Ort in den Fokus, der rezenter Schauplatz grausamer Handlungen ist.

Die Zerstörung von Kulturgut scheint zum Mechanismus moderner Kriegsführung zu gehören. Prominente Beispiele sind die unter Unterbeschussnahme der afghanischen Buddhastatuen, die Zerstörung des Weltkulturerbes in Timbuktu, aber auch die alliierte Bombardierung mitteldeutscher Städte. Der Wissenspeicher Buch als Steinskulptur bildet zwar das Objekt in seinen Dimensionen und Eigenschaften nach, nie wieder jedoch wird man die Seiten umblättern können.

d (13) Michael Rakowitz by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Michael Rakowitz by Mizzi Schnyder

Ich fragte mich, inwieweit fiktive Rückblicke zwischen 1933 und 1945 ein Innehalten bewirken hätten können. Kann die Kunst heute in der Welt Einhalt gebieten? Kann sie die Welt verändern, oder wird sie dann selbst totalitäre Haltung?

d (13) Theaster Gates by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Theaster Gates by Mizzi Schnyder

Komplementär zur Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit markierte jene mit der realen regionalen nationalsozialistischen Vergangenheit das Herzstück der documenta. Emotional bewegend und zugleich unfassbar ist die Geschichte des Klosters Breitenau. Carolyn Christov-Bakargiev hatte zur künstlerischen Auseinandersetzung mit diesem Ort unweit von Kassel eingeladen. Im 12. Jahrhundert gegründet, bildet eine imposante romanische Basilika das Zentrum der Anlage.[4]

Nach der Reformation und der Auflösung des Klosters wurde in das Langhaus eine „Korrektions- und Landarmenanstalt“ eingebaut. Der Gemeinde dienten währenddessen Chor und Querhaus als Kirche. In dieser räumlichen Konstellation wurde die Basilika während des NS als Konzentrationslager und als Arbeitserziehungslager genutzt.

So setzt sich eine unrühmliche Vergangenheit in einer ungleich grausameren Geschichte nahtlos fort. Ihre Fortsetzung erfuhr sie in Form eines Mädchenerziehungsheimes, das als Resultat der Heimkampagne in den 1970er Jahren aufgelöst wurde. Das Wissen um die nationalsozialistische Geschichte allerdings war bis 1981 restlos aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt.

Breitenau scheint ein paradigmatisches Beispiel zu sein. Die Verdrängung fand hier simultan statt. Durch eine Art segmentierte Wahrnehmung – so lässt sich allenfalls mutmaßen – konnte der Ort gleichzeitig zur religiösen Erbauung wie auch zur Disziplinierung benutzt werden. Diachronisch manifestierte sich das Verdrängen anschließend nicht nur im Verschweigen der Verbrechen, sondern in deren gezielter Auslöschung. So wurde Breitenau nach 1945 wieder zum Kulturgut von allerhöchstem kunsthistorischen Rang.

d (13) Haris Epaminonda und Daniel Gustav Cramer by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Haris Epaminonda und Daniel Gustav Cramer by Mizzi Schnyder

Eine artistic research von 1981, durchgeführt von Studierenden der Gesamthochschule Kassel, deckte diese Vergangenheit auf.[5] Inzwischen selbst historisch wertvoll, dokumentiert die vertonte Diashow die damals angestellten Recherchen zur Vergangenheit Breitenaus. Inzwischen wurde im Kloster eine Gedenkstätte eröffnet und steht der Forschung offen.

Die Arbeit von Gunnar Richter wurde in einem der Pavillons in der Karlsaue gezeigt. Gewissermaßen entschleunigt bewegte sich der Besucher durch das riesige Parkgelände auf verschlungenen Wegen. Und überhaupt verhielt sich das Ausstellungskonzept diesmal widerständig gegen den allgemeinen Kunstkonsum. Kleine separierte architektonische Einheiten provozierten lange Wegzeiten und Warteschlangen, diese wiederum zahlreiche soziale Interaktionen der sonst anonymisierten Masse von Ausstellungsbesuchern.

Warten auf Tacita Dean I by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
Warten auf Tacita Dean I by Mizzi Schnyder

Können Begriffe wie „Arbeitslager“ oder „Konzentrationslage“ dem Geschehenen gar gerecht werden, sondern bleiben sie Worte, so gibt es Momente, in denen sie sich plötzlich mit erschreckender Bedeutung füllen. Meist sind es Einzelschicksale, die klar machen, dass diese „Worte“ in den meisten Fällen den sicheren Tod bedeuteten. Persönlich erlebte ich einen solchen Moment der Gewissheit mit Charlotte Salomons ‚Leben? Oder Theater?’.[6] Eben noch fabuliert die Anfang Zwanzigjährige über die Liebe, bis das Außen durch Verfolgung, Deportation und Angst die zarten Themen machtvoll verdrängt.

d (13) Charlotte Salomon by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Charlotte Salomon by Mizzi Schnyder

„Wie gehst du mit deinen Erinnerungen um?“, fragt mich Janet Cardiff in dem Videowalk im Kulturbahnhof.[7]

Deutschland sei für sie das Land der Geister erzählt sie, während in der augmented reality am Bildschirm längst entschwundene Personen und Situationen erscheinen. Das Navigieren zwischen den virtuellen und den realen Personen fordert meine ganze Aufmerksamkeit. Als es im Video schneit, ist mir kalt. Frierend stehe ich schließlich an Gleis 13 und höre mir an, wie von hier aus Menschen in den Tod fuhren und später Opfer zu Tätern wurden.

d (13) Janet Cardiff & George Bures Miller by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Janet Cardiff & George Bures Miller by Mizzi Schnyder

Als mir plötzlich eine ältere Frau in rosa Shirt die Hand auf die Schulter legt, und fragt „Nehmen Sie da auf?“ durchfährt mich ein Schreck, wie ich ihn in Zusammenhang mit Kunstwahrnehmung noch nie erlebt habe.

Eine ähnliche Szene mit Herrn in dunklem Anzug ereignet sich übrigens in einer der letzten Sequenzen des Videowalks. Sie verfehlt ihre Wirkung.

d (13) Janet Cardiff & George Bures Miller by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Janet Cardiff & George Bures Miller by Mizzi Schnyder

Ich gehe zu Gleis 11, weil ich beim Zurückgeben des ipods davon höre, dass es dort eine Arbeit gibt, die für heute das letzte Mal aufgeführt wird. Aus den Lautsprechern quillt Musik, es vermischt sich mit den Quietschen der Züge und den Durchsagen am Bahnhof.[8] 

Susan Philipsz lässt hier jede halbe Stunde eine Klanginstallation ertönen, die auf der ‘Studie für Streichorchester’ von Pavel Haas, die 1943 in Theresienstadt entstanden ist, basiert. Die Besucher hören andachtsvoll zu, liegen oder sitzen herum. Es ist 19.45 h, hat 25 Grad und das farbige Licht am Himmel lässt den Kaufunger Wald als schwarze Silhouette am Horizont erscheinen.

d (13) Susan Philipsz by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Susan Philipsz by Mizzi Schnyder

Entfernte Orte und Zeiten gewinnen für einzelne unendlich kostbare Augenblicke gegenwärtige Präsenz in dieser documenta. Sie zeigt auf eine Weise, die sich dem pädagogischen Zugang verwehrt, dass die Wunde 2. Weltkrieg noch blutet. Dass dessen posttraumatische Belastungsstörung sich noch aktiviert,[9] genauso wie die unentschärfbaren Blindgänger, die von Zeit zu Zeit in süddeutschen Großstädten hochgehen.[10]

d (13) Tacita Dean by Mizzi Schnyder (mizzischnyder) on 500px.com
d (13) Tacita Dean by Mizzi Schnyder

An diesem Abend in der Linie 4 sitzt die stupsend-sprechende documenta-Besucherin aus dem Kulturbahnhof schräg gegenüber. Ich erinnere mich an ihre Stimme und das Fünfzigerjahrerosa ihres Oberteils, drehe mich in das dunkle Fenster und der Zug rumpelt nach Westen.

 

Hier geht es zum kompletten Fotostream>>>

[1] dOCUMENTA (13). Das Begleitbuch, Ostfildern, 20012, S. 440.

[2] Ebenda, S. 190.

[3] Ebenda, S. 110.

[4] Ebenda, S. 294.

[5] Ebenda.

[6] Ebenda, S. 118.

[7] Arbeit von Janet Cardiff & George Bures Miller, siehe: ebenda, S. 334.

[8] Ebenda, S. 360.

[9] Dazu: Carolyn Christov-Bakargiev, Über die Zerstörung von Kunst – oder Konflikt und Kunst, oder Trauma und die Kunst des Heilens, in: dOCUMENTA (13), Das Buch der Bücher, Ostfildern 2012, S. 301-314.

[10] Ich beziehe mich auf die Schwabinger Sprengung vom 28.8.2012.

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/153

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Sedlmayrs Wien (Teil I)


Palmenhaus, Schönbrunn (innen) – Foto: MM

 

In wenigen Wochen wird im Palais du Louvre das Musée des Arts d’Islam eröffnet werden. Das  wellenförmige Dach wird voraussichtlich neue Maßstäbe in der materialen Ausreizung der Stahl-/Glasarchitektur setzen. Maßgeblich an der Umsetzung des Entwurfs von Mario Bellini und Rudy Ricciotti ist auch eine Wiener Firma beteiligt, die Erfahrung mit zahlreichen ähnlichen Großprojekten hat.[1] Dieses Innovationspotential wurzelt ausgerechnet im 19. Jahrhundert. Wien profilierte sich zu dieser Zeit als Metropole von Weltrang.

Dass Hans Sedlmayr in „Verlust der Mitte“ die Phänomene des modernen Lebens unter Beschuss nimmt, erscheint weniger merkwürdig, wenn man sich in Erinnerung ruft, welche Erfahrungen er in seiner Jugend gesammelt hat. Die Großstadt, die Technik, das Neue Bauen werden im Buch dämonisiert. Freilich sind die Massen, die Metropole gängige Topoi der kulturkritischen Literatur, die Sedlmayr zweifellos aktualisiert.

Aber es stellt sich doch die Frage, was den Autor zu dieser radikalen Haltung veranlasst. Diesbezüglich mögen biographische Überlegungen weiterhelfen. An deren Anfang jedenfalls steht die Idylle. Geboren und aufgewachsen ist Sedlmayr nämlich auf einem ungarischen Gut. In einer Umgebung, die er als Abenteuerspielplatz in der Weise beschreibt, dass sich jeder nachträglich eine ähnliche Kindheit wünscht.[2] 1907 zog die Familie Sedlmayr nach Wien um. Einen ungefähren Eindruck von dem Einschnitt, den dies für den Zwöljährigen bedeutet haben mag, soll der vorliegende Text vermitteln.

 

Palmenhaus, Schönbrunn, innen: Foto: MM

 

Als Sedlmayr nach Wien kam, erlebte die Hauptstadt der Donaumonarchie einen enormen Wachstumsschub. In den dreißig Jahren von 1880 bis 1910 stieg die Bevölkerungszahl um das Doppelte an und schoss über die Zwei-Millionen-Marke.[3] Es ist heute nahezu unvorstellbar, dass Wien vor 100 Jahren größenmäßig unter den Top Ten der Metropolen weltweit rangierte.

Die Schattenseite dieses rasanten Wachstums zeichneten die Väter der Sozialreportage, Max Winter und Emil Kläger, auf. Für ihre „Feldforschungen“ verkleideten sie sich als Obdachlose, um in den Elendsvierteln außerhalb des Rings und in der damals dicht besiedelten Kanalisation zu recherchieren.[4] An diesen Orten, ging die Tuberkolose, als  die gefürchtete ‘Wiener Krankheit’ um.

Man muss nur Stefan Zweigs Lebenserinnerungen zur Hand nehmen, um zu erfahren, dass die gehobenen bürgerlichen Kreise in einer anderen Welt lebten.[5] Das Wien der ‘Bettgeher’ werden sie zumindest als Bedrohung für die eigene soziale Hegemonie wahrgenommen haben. Es überrascht, dass schon ehedem Städtevergleiche bemüht wurden, etwa in den „Großstadt-Dokumenten“, von denen jeweils 10 Bände Berlin und Wien gewidmet waren.[6] War dies ein frühes Zeugnis der deutschsprachigen Metropolenforschung, so erfand Georg Simmel die Stadtsoziologie.[7]

 

Wien, Alseergrund um 1900 – Quelle: Wikimedia Commons

 

Hatte Wien Vieles seiner heutigen Gestalt durch die Stadterweiterung Mitte des 19. Jahrhunderts gewonnen, so wurde es in den nächsten 50 Jahren zur modernen Großstadt. Infrastrukturelle Maßnahmen veränderten die Hauptstadt. So fraß sich das frische historistische Wien allmählich durch die alten dörflichen Strukturen der ehemaligen Vorstädte. Ein rasterförmiges Straßennetz aus Mietskasernen entstand.

Im Zuge der Donauregulierung wuchsen fünf neue „stabile“ Brücken über den künstlich erschaffenen Fluss. Der Brückenbau ist zugleich eine technische und planerische Meisterleistung, in dem das zeitgemäße Material, Eisen, zum Einsatz kam. Nicht umsonst nannte sich 1905 in Dresden eine Künstlergruppe fortschrittsorientiert ausgerechnet „Die Brücke“. Ausdruck der Urbanität und der veränderten Bedürfnisse, die sich in Geschwindigkeit und Mobilität entäußerten, ist auch die von Otto Wagner 1894-1901 errichtete Stadtbahn.

 

Stadtbahn mit Hofpavillon – Foto: MM

 

Wagner war zugleich der innovative Kopf des progressiven Bauens in Wien. Seine Postsparkasse (1910-1912) war richtungsweisend für die Verbindung von Ästhetik und Funktionalität. Ein Netz aus Metallbolzen überzieht die Außenhaut des Gebäudes, indem es die Marmorplatten zu fixieren scheint. Begleitet wird die konsequente Verweigerung des Ornaments von der Verwendung neuer Materialien, wie Aluminium und Stahlbeton. Das setzt sich in den Innenraum fort. Das Oberlicht im Kassensaal dringt durch eine gewölbte Glasdecke.

 

Postsparkasse – Quelle: Wikimedia Commons

 

Diese fast organisch anmutende Raumform basiert auf den Ausstellungs- und Gewächshausarchitekturen des 19. Jahrhunderts. Initialbau der Eisen-Glasbauweise war der anlässlich der Weltausstellung errichtete “Crystal Palace” in London (1851). Dieser war vorbildgebend für andere gläserne Ausstellungsarchitekturen, wie dem “Glaspalast” in München (1853). 1882 wurde das Palmenhaus in Schönbrunn eröffnet. Dessen Vorbild ist unübersehbar „Kew Gardens“ in London (1841-49).

Ähnelten die Glaspaläste in ihrer Grundform eher den traditionellen Bauten aus Stein, entfalten sich die Palmenhäuser vergleichsweise freier, den flexiblen, plastischen Qualitäten des Konstruktionsmediums entsprechend. Die zeitgenössischen Stimmen über das Schönbrunner Glashaus reichen freilich von emphatischer Aneignung bis zu entschiedener Zurückweisung. In seiner funktional-biomorphen Erscheinung und in seinen Dimensionen – es gehört zu den drei größten weltweit – markiert das Wiener Glashaus eine Schlüsselstelle des Neuen Bauens in Österreich.

 

Palmenhaus Schönbrunn, innen – Foto: MM

 

Während die Eisenkonstruktionen für die erwähnten Brücken noch von ausländischen Firmen besorgt wurden, gründete Ignaz Gridl die erste Stahlbaufirma in der Doppelmonarchie.[8] Der „k. und k. Hofschlosser und Eisenconstructeur“ war auch Ausführender des Palmenhaus-Projekts von Schönbrunn. Seine Firma lieferte darüber hinaus die konstruktiven Elemente, unter anderem für das Wiener Rathaus, die Universität und die beiden Hofmuseen. Ohne die zeitgenössische Technologie wären die monumentalen Illusionen von Antike, Gotik und Renaissance in der Wiener Ringstraßen-Architektur undenkbar.

 

Palmenhaus, Schönbrunn – Foto: MM

 

Aus der Stellung Wiens als Metropole ergaben sich neue Aufgaben, welche die Organisation des Raumes und der Menschen, sowie die Repräsentation betrafen. Aus diesem Grund wurde Know-how benötigt. Dieses mündete schließlich in formale Neuerungen, wie sie durch Otto Wagner beispielsweise umgesetzt wurden. Sedlmayr ist ein Zeitzeuge dieser Entwicklungen. Seine prägendsten Jahre hat er als Jugendlicher inmitten dieses gesellschaftlichen Umbruches erlebt, als die Moderne noch Experiment und keine hundertjährige Erfahrung war.

Und Waagner-Biró, heute beteiligt am Louvre-Projekt, erwarb 1934 das Traditionsunternehmen Ignaz Gridl. Somit steckt ein Stück alte Wiener Moderne und Innovationspotential aus dem 19. Jahrhundert in einigen der aktuell aufsehenerregendsten Bauten weltweit.

 

Palmenhaus, Schönbrunn (Detail) – Foto: MM

 

 

[1] Beitrag in €CO, ORF, Sendung v. 23.08.2012. http://tv.orf.at/program/orf2/20120823/575175901/343684/

[2] Hans Sedlmayr: Das goldene Zeitalter. Eine Kindheit, München 1986

[3] Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1998, S. 398.

[4] Emil Kläger: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein Wanderbuch aus dem Jenseits, Wien 1908 und Max Winter: Im unterirdischen Wien, Berlin 1905 (zugl. Band 13 der Reihe „Großstadt-Dokumente“).

[5] Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1942.

[6] In 50 Bänden herausgegeben zwischen 1904 und 1908 von Hans Ostwald.

[7] Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, 1903.

[8] Ute Georgeacopol-Winischhofer: „Ig. Gridl“: The heritage of Vienna’s most important steel. Workshop, 1880s-1930s. XIII TICCIH International Congress, September 2006, Terni (Italien), Workshop 10, URL: http://www.ticcihcongress2006.net/paper/Paper%2010/Georgeacopol.pdf (zuletzt besucht am: 01.09.2012)

Quelle: http://artincrisis.hypotheses.org/85

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