9. Was ist Glück? 2/5: Aristoteles’ artgerechte Haltung

Die ARD bewirbt ihre Themenwoche “Glück” unter anderem mit dem Bild eines Jungen, der im Gras liegt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt hat und lächelt. Für das kreative Fotografen-Team, das hinter diesem Bild steckt, manifestiert sich Glück im Kindesalter eben genau so, wie wenn die Zahn-Prothese im dritten Rentenjahr noch richtig sitzt. Sorgenfreiheit, Muße und etwas Sonne reichen dann wohl aus, um von einem guten Leben sprechen zu können. Schade, dass Sie dann nichts mehr von einer Gurke unterscheidet. Denn die macht auch nichts anderes, als herumzuliegen und Sonne zu tanken. Dieses Glücksverständnis hat auch unser Büstenfreund Aristoteles befremdlich gefunden und sich die Sache einmal genauer angeschaut.

Sehen Sie, im Gegensatz zu einer Gurke haben Sie als Mensch nämlich die Möglichkeit, in vielen verschiedenen Varianten aktiv zu sein: Sie können Yoga machen, kochen, einen Bantudialekt lernen oder Primzahlen sortieren. Wenn wir das mit Aristoteles auf den Punkt bringen wollen, ist das, was Sie von anderen Lebewesen wie beispielsweise Pflanzen grundsätzlichen unterscheidet, dass Sie sich bewegen können. Was Sie von Tieren unterscheidet, ist hingegen, dass Sie ihren Kopf benutzen können. Damit sind die Grundvoraussetzungen dessen, was Sie im Leben machen und erreichen können, grundverschieden von denen der Gurke oder eines beliebigen Emus. Und genau das müssen Sie laut Aristoteles bedenken, wenn Sie die objektiven Kriterien eines glücklichen Lebens entdecken wollen.

Sie sind also mit Anlagen ausgestattet, die Ihrer Art eigen sind. Das sieht Aristoteles ganz nüchtern biologisch. Diese Anlagen zu haben, reicht aber noch lange nicht aus. Sie müssen etwas mit Ihnen anfangen und das, was Sie können, sollten Sie besonders kultivieren und bestmöglich ausprägen. Aristoteles unterscheidet dafür zwei Kategorien von menschlichen Aktivitäten: Die erste umfasst alles Geistige: Verstehen, Hinterfragen, Planen, Wissen und solche Dinge werden von ihm natürlich dem Denken (auf Griechisch: διάνοια – Denken) zugerechnet. Die zweite Kategorie umfasst Ihren Charakter und Ihre Gewohnheiten (auf Griechisch: ἠθική – moralisch). Beides müssen Sie so gut es geht und stetig besser werden lassen, damit Sie den besten Status erreichen können, der Ihnen möglich ist. Keine Lust gibt´s dabei nicht, denn Sie würden sich dadurch nur in das eigene Fleisch schneiden. Sie verlieren nämlich in jedem Moment, den Sie nicht für das eine oder das andere verwenden, die Möglichkeit auf ein wirklich gutes und befriedigendes Leben. Sie müssen eben einsehen, dass es auch für den Menschen ein artgerechtes Leben gibt und nur dadurch können Sie glücklich werden. Also die Benutzung und Vervollkommnung dieser zwei Talente: Denken und Charakter sind das A und O unseres Lebens. Das klingt eigentlich ganz schön. Aber gibt es nicht noch mehr? Doch, denn dazu kommen auch noch einige andere Dinge, die aber nicht ebenso direkt von uns abhängig sind, sondern auch mit Zufall zu tun haben: Freundschaften und Familie, die gemäß unseres Wesens als Menschen ebenfalls eine absolut zentrale Rolle in unserem Leben spielen müssen, brauchen wir ebenso dringend für ein glückliches Leben. Hier ein schönes Zitat aus der Nikomachischen Ethik:

“Ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er alle übrigen Güter besäße.” (1155a5)

Wenn wir all das haben und erreichen, dann können wir uns glücklich schätzen: Also einen vollkommenen Status erreichen, hinter dem es nichts besseres mehr gibt, das wir erstreben wollen können. Welche Handlungsanleitungen Aristoteles uns genau gibt, werden wir uns anschauen, wenn wir über diesen altbackenen Begriff der Tugenden sprechen werden. Bis dahin muss die aristotelische Definition von Glück als Verstandes- und Charaktervervollkommnung mit Freundschaften und Familie alleine dem Glücksverständnis von Urlaubswerbung und der ARD-Themewoche standhalten.

Sie sehen, Aristoteles redet anders als Platon und wirkt lebensnaher. Wenn Sie mehr über artgerechte Haltung erfahren wollen und keine Lust mehr auf Gurken haben, werfen Sie doch einfach einmal direkt einen Blick in die Quelle. z.B.: Aristoteles (2010): Nikomachische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeier. Bibliogr. erg. Ausg., [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam (Universal-Bibliothek, Nr. 8586).

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/129

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OpenBlog

Das Blog hat keinen genuinen Forschungsgegenstand, sondern soll offen sein für Beiträge von WissenschaftlerInnen, die selbst (noch) kein Blog führen. Das Angebot soll darin bestehen, dass Beiträge eingereicht werden können und von den Betreuern ins Blog eingepflegt werden.

Quelle: http://openblog.hypotheses.org/1

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8. Was ist Glück 1/5: Platin von Platon

Wenn ich Sie frage, was für Sie Glück ist, was würden Sie dann antworten? Sich den Pulli um die Schultern binden, in St. Tropez flanieren und wenn die Hermès Tasche zu schwer wird, sie einfach kurz auf die Yacht legen? Fünfzig Euro an der Kaffeetheke für Kleingeld halten und dabei über die Schulter lachen? Für David Guetta auch mal ein wenig Grand Cuvée über die Tanzfläche schütten? Oder würden Sie antworten, Glück ist es, in Lotto zu gewinnen, den King of Pop einmal live erlebt zu haben oder einen Tag Privatfernsehen überlebt zu haben? Oder vielleicht ist Glück für Sie auch einfach zufrieden zu sein? Jedenfalls scheint Glück ja irgendwie viele Facetten zu haben und sich von Mensch zu Mensch zu unterscheiden. Aber Talente und persönliche Präferenzen könnten dabei tonangebend sein. Für mich beispielsweise wäre Glück dann natürlich, diesen Blog zu schreiben.

Bevor ich Sie aber mit dem Fundus platonischer Ansichten konfrontiere, muss ich Ihnen eine Klarstellung liefern: Glück hat im Deutschen zwei Bedeutungen: Den glücklichen Zufall einerseits und andererseits einen positiven emotionalen Zustand. – Im Griechischen behandeln die Philosophen nicht dieses „Glück“ sondern sie suchen die „Eudaimonia“, was häufig mit Glückseligkeit übersetzt wird, aber in meinen Ohren irgendwie verklärt klingt – „Glückseligkeit“. Was sie damals interessierte, war niemals der Zufall, und auch nicht der emotionale Status des Menschen, sondern eben etwas anderes, umfassenderes, das objektive „glückselige Leben“ in seiner Gesamtheit. Zufallsglück ist uninteressant, da es nicht von uns beeinflusst werden kann. Es ist einfach Zufall, ob wir Klaus Kleber treffen oder nicht (in Philosophensprache heißt das „es ist kontingent“). Und außerdem kann es schlecht sein, ihn zu treffen, wie es auch schlecht sein könnte, eine Million Euro in Lotto zu gewinnen: Neid, Dekadenz und daraus folgende Inkompetenz etc. sind ja mögliche Folgen. Vielleicht hat also ein solcher glücklicher Zufall eine schlechte Konsequenz. Glück wäre in diesem Fall schlecht, was ein offensichtlicher Widerspruch wäre: „Hey, Glück gehabt, du hast dir nicht nur das Bein, sondern auch den Arm gebrochen.“ Zufallsglück interessiert uns also nicht. Aber auch der emotionale Status ist für uns zweitrangig, da es ja auch Menschen gibt, die bei schlechten Taten einen positiven emotionalen Staus haben. So jemanden glücklich zu nennen, ist ebenso falsch: „Der Karlheiz, der ist so ein glückliches Kind, wenn er zündelt.“ Nein: Uns interessiert viel mehr, was objektive Kriterien eines glücklichen Lebens sind und darauf hat uns Platon einige Antworten geliefert.

Für Platon ist die Gerechtigkeit das zentrale Moment eines glücklichen Lebens. Gerecht zu sein, ist eine Eigenschaft der Seele, die wir uns anerziehen können, wenn wir die Ordnung der Ideen einsehen. Die Ideen sind die unwandelbaren perfekten Vorbilder für die sinnliche Welt, die wir sinnlich wahrnehmen und fühlen. Vielleicht erinnern Sie sich an das Beispiel mit dem Kreis? Wenn wir einen Kreis zeichnen, wissen wird, was wir tun müssten, um ihn perfekter zu zeichnen, weil die Idee des Kreises uns immer Vorbild dafür ist. Das Bild, das wir zeichnen richtet sich nach einer Idee, die perfekter ist, als das Bild. Dasselbe Spiel wird mit allen Dingen gespielt, die es in der Welt gibt. Aber warum werden wir durch die Einsicht dieser Ideen gerecht? – Dafür wird ein zweiter Punkt wichtig, nämlich der des Strebens nach etwas: Wir wollen Gesundheit, Ansehen, Klugheit? Und wir wären glücklich, wenn wir diese Güter erlangen würden? Klar, aber wenn wir einerseits wissen, dass jedes dieser Güter als Idee vollkommener ist, warum sollen wir dann nicht die Idee dieser Güter anstreben? – Und noch ein Schritt ist notwendig: Alle vier Güter haben nämlich einen gemeinsamen Kern, denn alle beinhalten eben „das Gute“, das sie ausmacht und verbindet. Wären Gesundheit, Ansehen und Klugheit nicht „gut“, dann wollten wir sie ja überhaupt nicht. Platon sagt also: Leute, konzentriert euch auf das Wesentliche und zwar auf das, was allen Gütern gemeinsam ist, was alle überhaupt als Güter klassifiziert: nämlich die Idee des Guten, die in allem ist. – Der finale Schritt der Argumentation sagt nun, dass man nichts mehr hinter diesem Guten finden kann, das irgendwie all den Dingen zukommt, die wir als Güter klassifizieren. Es gibt nichts allgemeineres, das noch erstrebenswerter ist als die Idee des Guten. Wenn wir die Idee des Guten eingesehen haben, dann kommt unser Streben an ein Ende, das vollkommener ist als wenn die beispielsweise das Gut „Ansehen“ erreicht haben. Warum? Wenn wir Ansehen haben, können wir immer noch fragen, was dieses Ansehen eigentlich so erstrebenswert macht. Wenn wir die Idee des guten eingesehen und damit erreicht haben, stellt sich diese Frage nicht mehr. Es gibt ja nichts besseres, das wir weiterhin erstreben könnten als diesen Kern eines jeden Gutes. Und wer das Beste hat, wird eben glücklich genannt.

Wieso wird er aber jetzt auch gerecht genannt? Derjenige, der die Idee des Guten eingesehen hat, hat es geschafft, seine Seele zu ordnen: Er läuft nicht mehr den sinnlichen Abbildern der Ideen hinterher, will heute Geld, morgen Ansehen, sondern benutzt seinen Kopf, um den gemeinsamen Kern aller Güter ausfindig zu machen und diesen zu erstreben. Er hat es nämlich geschafft, der Vernunft den Vorrang vor den Sinnen und den wandelbaren Leidenschaften zu geben. Gerecht zu sein bedeutet für Platon also also nicht in erster Linie, den Kuchen richtig aufzuteilen. Das wäre nur eine Konsequenz. Sondern seine Seele auf die Weise richtig geordnet zu haben, dass die Vernunft die anderen Seelenteile, die begehren oder sich aufregen, anleitet.

Glücklich ist also nach Platon derjenige, der mit der Vernunft dasjenige anschaut, was allen Gütern gemeinsam ist. Derjenige, der durch die Güter hindurch die Idee des Guten durch Verständnis erlangt. Wenn er diese Idee erreicht hat, will er nichts mehr, da es nichts gibt, das größer, besser oder erstrebenswerter als diese ist. Eine Konsequenz dieser gerechten Anordnung der Seele mit der Erkenntnis der Idee des Guten ist übrigens auch eine intellektuelle Lust, die sich von der sinnlichen Lust aber unterscheidet.

Wenn es Sie interessiert, mehr darüber zu erfahren und den platonischen Ideen näher zu kommen, nehmen Sie doch einmal das Buch zur Hand, das ich für diese Darstellung benutzt habe: Horn, Christoph (1998): Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern. München.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/120

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6. Generalismus vs. Partikularismus

„Guten Tag, Herr Philosoph. Schön, dass Sie Zeit gefunden haben. Die Welt und der Präsident brauchen ihre Hilfe (Jubel im Hintergrund). In dieser schwierigen Zeit können wir nur mit einem Generalisten weiterkommen.“ – „Oh entschuldigen Sie, da muss ein Missverständnis vorliegen: Ich bin moralischer Generalist.“ So oder anders könnte das Bewerbungsgespräch eines Philosophieabsolventen ablaufen. Kaum hat man fünf oder optional mehr Jahre studiert, schon wird man mit allen möglichen Vorurteilen konfrontiert, die man sich so vorstellen kann. „Was können Sie eigentlich?“, „Was heißt, ‘was mit Texten und so’?“, „Können Sie als Generalist alles oder nichts?“.

Schwierige Fragen.

Generalisten sind eigentlich Leute, die nichts können, sich aber hinter Zitaten und Weingläsern verstecken. Spezialisten hingegen sind die Leute der Zeit. Sie können eine einzige Sache unglaublich gut und Kisuaheli. Alles andere drum herum ist „nicht in ihrem Kompetenzbereich“. Das Problem unseres obigen Philosophen ist aber ein anderes. Er vertritt einen moralischen Generalismus, der nicht mit der allgemeinen Bedeutung von Generalismus verwechselt werden darf, wie es der Präsident tat und das Wohl der Welt aufs Spiel setzte. Moralische Generalisten glauben, es gebe moralische Prinzipien, die immer Geltung haben, wie z.B. das Lügenverbot. Ihre Erzfeinde sind die moralischen Partikularisten. Sie sind kleinlich. Diese glauben, dass Handlungssituationen nie unter ein Prinzip subsumiert werden können. Sie sagen, dass man anders zu entscheiden habe, ob eine Lüge angebracht sei oder nicht, beispielsweise situationsabhängig. Diese partikularistische Ansicht ist aber keine, die eine Ausnahme von einem generalistischen Prinzip formuliert. Sehen Sie, denn dann müsste man das Prinzip ja annehmen und ein weiteres hinzufügen, das die Ausnahme rechtfertigte. Damit wäre man immer noch Generalist. Partikularisten sagen beispielsweise, dass die Klugheit uns zeigt, was am besten in einer spezifischen Situation zu tun sei. Es sei klug, nicht einen Philosophen, sondern MacGyver zu rufen, wenn die Welt in Gefahr wäre. MacGyver ist selbst vermutlich auch kein Generalist. Und Universalist ist er auch nicht. Universalisten haben andere Probleme als Generalisten und Partikularisten. Sie kämpfen einen anderen Kampf. Ihr Anliegen war es immer, dafür zu argumentieren, dass allgemeine Begriffe wie „der Mensch“ Existenz haben. Also nicht nur Sophie und Max haben Existenz, sondern außerdem auch der Gattungsbegriff Mensch. Das kann man so verstehen, wie eine platonische Idee. Die eigentlichen Gegner der Universalisten sind die Nominalisten. Ich glaube, wenn es hart auf hart käme, dann würden die Universalisten eher zu den Generalisten halten. Aber wie gesagt, es handelt sich um andere Konfliktlinien.

Und wie steht es mit Ihnen, sind Sie eher Generalist oder Partikularist? Was finden Sie überzeugender? Philosoph oder MacGyver? Sagen Sie jetzt nicht eine Mischung. Das geht nämlich nicht. Wenn Sie sich noch einmal einen Überblick verschaffen wollen, bevor Sie antworten: Hoffmann, Magdalena (2010): Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularität im Unbestimmten: Aristoteles’ Nikomachische Ethik als Gegenstand der Partikularismus-Generalismus-Debatte.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/97

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5. Wie wird philosophisch geschrieben?

Scheitel, Krawatte, Hemd – Mist. Scheitel, Hemd, Krawatte, Hose, Flipflops, Schreibblockade. Willkommen in der Realität meines dieswöchentlichen Doktoranden-Dienstages. Was sollte ein Philosoph machen, wenn er nicht schreiben kann? „Zurück in die Tonne!“. Contenance bitte.

Ich könnte beispielsweise über Analytiker lästern. Analytiker sind nämlich die Borg unter den Philosophen. Oder ich könnte mich in einem Moment melancholischer Reflexion fragen, ob mein letzter Eintrag über Sextus (nicht lachen) Empiricus und Descartes gut genug geschrieben war. Aber die faltige Stirn unserer Schelling-Büste im Übungsraum unseres Institutes heißt mich, nun keine Witze mehr zu machen. Philosophie ist Ernst. Ernst. Alsoe eine kleine Darstellung philosophischer Schreibweisen.

Platon. Der guckt mich zwar auch an, aber irgendwie ist er heute in seiner eigenen Ideenwelt. Ich weiß aber, dass Platon das mit dem Ernst nicht ganz so sah. (Und der imaginäre Ellbogen seiner Büste pikst den mahnenden Schelling in die Rippe.) Denn laut Vlastos, einem berühmten Platon Interpreten, ist die Ironie ein häufiges Mittel in Platons Dialogen (vgl. für das Folgende Vlastos, Gregory (1987): Socratic irony. In: The Classical Quarterly 37 (1), S. 79–96.). Vlastos begibt sich in seinem Artikel auf die Suche nach dem Charakter der platonischen Ironie und versucht zu entdecken, ob sie dieselbe Bedeutung haben kann, wie unser heutiges Verständnis. „Das da wäre?“. Etwas sagen, etwas anderes meinen. Aber darum geht es nicht. Worum es geht, ist, dass es also eine Vielzahl von Weisen gibt, Philosophie zu betreiben. Deshalb auch eine Vielzahl philosophischer Schreibweisen und Textarten. So wollte Aristoteles gerne sehr klar sein. Er hatte die Dinge wohl beim Namen genannt. Platon schrieb eben in Dialogformen, die Teilweise als Erzählungen von jemandem eingeführt werden, der wohl etwas vor langer Zeit irgendwo gehört hatte oder die aporetisch enden. Gregor von Nazianz schrieb Reden auf. Synesios von Kyrene Briefe, Marc Aurel an sich selbst. Und Nietzsche, den gibt es auch noch. Jede dieser Textarten birgt eigene Schwierigkeiten der Auslegung, jede hat eigene Wendungen und eigene Vorteile. Platon beispielsweise regt stark zum Denken an, weil die Ergebnisse eben nicht gleich präsentiert werden. Manche Schriften sind dunkel also, andere lustig. Was unterscheidet philosophische Texte aber dann von anderen? Warum wird Dumas’ Graf von Monte Christo beispielsweise nicht als philosophisches Werk gelesen? Es gibt Schicksale, Emotionen, Ungerechtigkeiten, Rache. Warum ist Dumas kein Philosoph? Oder ist es er? Ich meine „er es“? Nein, ist er nicht: Es gibt keinen Hinweis auf eine Theoretisierung seiner Beschreibungen. Es gibt auch keine Andeutung auf Definitionen oder ein Prinzip, das die Emotionen oder das Schicksal oder etwas anderes erklären könnte, keine Abwägung. Er vertritt weder eine Theorie ethischer Handlungen, noch will er erklären, warum etwas ist. „Machiavelli mach das auch nicht!“ Ja, aber der kritisiert andere Konzeptionen, die sehr wohl philosophisch sind. Die ethischen Ansichten mittelalterlicher Fürstenspiegel beispielsweise stellt er seinen eigenen Erfahrungen gegenüber. Diesen Anspruch an Philosophie gab es aber nicht immer. Spätantike Philosophen begannen, die archaischen Texte von Homer philosophisch zu interpretieren. Odysseus Heimkehr wurde als verschleierte Wahrheit des Polymathen mit göttlichem Wissen Homers gedeutet. Andere Passagen wurden ebenfalls allegorisch gelesen. Es wurden Inhalte der eigenen Ansichten “hinein gedeutet”. Das könnten Sie selbstverständlich auch mit Dumas’ Werk machen. Aber dafür brauchen Sie selbst zunächst ein ausgefeiltes philosophisches System, das sie dann aus diesem wider heraus lesen können. Vielleicht lohnt sich das nicht beim Grafen von Monte Christo. Sie brauchen eine heute allgemein akzeptierte Autorität, der man zutrauen könnte, einen tiefen Einblick in philosophische Wahrheiten zu haben. Wie wäre es daher mit “Guardiola: Der Fußball-Philosoph” (Schulze-Marmeling (2013): Guardiola: Der Fußball-Philosoph).

“Noch einmal ganz kurz zurück zum Wesentlichen: Flipflops im Regen? Wirklich?”

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/83

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4. Descartes dekantiert

„Descartes hatte einen Bart.“ Sie denken, das sei trivial? Moi aussi. Berühmte Aussagen müssen aber derart gestaltet sein, dass Bonvivants beispielsweise französischer Salons sie stets zwischen Austern und Champagner auf den Lippen halten können. Sie müssen im Gespräch bleiben wie ein guter Werbeslogan. René Descartes hat dies ebenso verstanden wie David Richard Precht; Jener hat seine Salonerfahrung mit der Philosophie gekreuzt und heraus kam nach jahrelanger Meditation: „Ego cogito, ergo sum“. Dieser hat seine Medienerfahrung mit dem Salon gekreuzt und heraus kam nach jahrelanger Konzentration: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ (Precht, Richard David (2007): Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise). Descartes aber war ab dem Zeitpunkt seiner Aussage in aller Munde und hat dort sehr wahrscheinlich auch die eine oder andere Auster verdrängt. Sein Ziel sei es gewesen, (jetzt endlich mal) einen archimedischen Punkt, also einen unbeweglich festen Standpunkt für die Philosophie, zu entdecken, von dem aus man mit absoluter Sicherheit anfangen könne, zu argumentieren. Keine merkwürdigen ontologischen Annahmen, keine verträumte Spekulation. Dass die Tatsache, ich müsse existieren, wenn ich denke, die einzige sei, die absolute Geltung beanspruche und nicht bezweifelt werden könne, scheint auf den ersten Blick tatsächlich einleuchtend. Aber so pointiert seine Weisheit ist, so schwer ist sie zu erklären (Trommelwirbel für Blogeintrag Nr. 1 „Erkenntnis“). Warum? Na klarerweise wegen Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wieviele? ist nämlich eine Frage, die bereits in der Spätantike gegen die Selbsterkenntnis hervorgebracht wurde. Sextus Empiricus, der alte Skeptiker, oder man könnte vielleicht sagen der Precht jener Zeit, sagte (vgl. für das Folgende Meixner, U.; Newen, A. (Hg.) (2003): Seele, Denken und Bewusstsein: zur Geschichte der Philosophie des Geistes, S. 71): Entweder ist es der ganze Mensch, der erkennt. Oder aber es ist der ganze Mensch, der erkannt wird. Oder ein Teil des Menschen erkennt, ein anderer wird erkannt. Meixner sagt, dass im erste Falle nichts übrigbliebe, was erkannt werden könne, dass im zweiten Fall nichts übrigbliebe, das erkennen könnte und dass im dritten Fall Erkennendes und Erkanntes sowieso nie dasselbe sei. Was genau also meinte Descartes? Wer bin ich – und wenn ja wie viele? verkorkt dessen Argument jedenfalls gewaltig. Finden Sie nicht? Bon appétit et au revoir.

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/62

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“Was auch immer das heißt”: Diplomatische Aktenkunde in der Bundespressekonferenz

Wer sich als Neuling in die Aktenkunde einarbeitet, wird die meiste Energie wohl in das Teilgebiet der Systematischen Aktenkunde investieren müssen. Hier geht es darum, anhand gemeinsamer formaler Merkmale Gruppen von Aktenschriftstücken zu identifizieren, in die ein konkret vorliegendes Stück eingeordnet werden kann. “Die begriffliche Kennzeichnung des Schriftstücks soll dabei dem schnelleren Erkennen wichtiger Kontextinformationen dienen” (Beck 2000: 69). Die Systematische Aktenkunde ist also ein wichtiges Werkzeug der Quellenkritik. Zugegebenermaßen verführt die barocke Pracht von Begriffsbildungen à la “Behördendorsualdekret” dazu, dieses Teilgebiet als Selbstzweck zu betreiben und die Anwendung der Aktenkunde darauf zu verengen (vgl. ebd.: 77). Bei aller Skepsis gegenüber babylonischem Systembau ist jedoch die Notwendigkeit nicht zu bestreiten, den Dingen einen Namen zu geben, die uns in den Akten erwarten – und keineswegs nur im Archiv!

In der Regierungspressekonferenz vom 8. Juli dieses Jahres ging es auch um “angebliche Umtriebe der NSA in Deutschland”, um das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und um die Verwaltungsvereinbarungen zum G10-Gesetz; tagespolitisch interessierte Leser werden diese Debatte verfolgt haben. Und in diesem Zusammenhang fragten Journalisten nach Verbalnoten, die zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten gewechselt worden seien:

Zusatzfrage: Es gab 1968 aber nicht nur eine Verwaltungsvereinbarung, sondern auch eine „verbal note“, was auch immer das heißt. Das ist angeblich die Grundlage für die Spionage von „Echelon“ in 2004 gewesen. Ist diese „verbal note“ genauso zur Akte gelegt …?

Beyer-Pollok [Sprecher des Bundesinnenministeriums]: … Mit dem Begriff „verbal note“ kann ich jetzt nichts anfangen. Das kommt so ein bisschen aus der Diplomatensprache. Aber hier meinen Sie möglicherweise etwas anderes, was mit dem Verwaltungsabkommen zu tun hat. Dazu habe ich ja eben schon etwas ausgeführt.

“So ein bisschen aus der Diplomatensprache”. Der ebenfalls anwesende Sprecher der Auswärtigen Amts verschaffte Klärung:

Schäfer: … Eine Verbalnote oder ein Verbalnotentausch ist die offizielle, förmliche Kommunikation zwischen Staaten. Das sind Schreiben beziehungsweise Briefe, die zwischen Staaten in einer bestimmten Form ausgetauscht werden und einen bestimmten politischen, manchmal auch juristischen Inhalt haben.

Diese Erklärung war auf die Situation bezogen und hat das journalistische Publikum nicht mit Details belastet. Wenn wir es genauer wissen wollen, sehen wir uns zunächst eine diplomatisch-praktische Definition aus einer offiziösen Veröffentlichung an:

“Die Verbalnote ist ein unpersönliches, an eine fremde Mission gerichtetes Schreiben mit Geschäftszeichen, der Überschrift ‘Verbalnote’, einer international festgelegten Höflichkeitsformel und Schlussformel. Sie trägt einen Siegelabdruck und wird nicht unterschrieben.” (Beuth 2005: 127)

Bauen wir diese Definition nun hilfswissenschaftlich aus: Verbalnoten werden zwischen einer diplomatischen Vertretung und dem Außenministerium des Gastlandes ausgetauscht. Souveräne Staaten befinden sich protokollarisch immer auf Augenhöhe: Ein Rangunterschied – das primäre Klassifikationsmerkmal nach der klassischen Lehre Meisners – besteht somit nicht. Möchte man eher nach dem Schreibzweck klassifizieren, so führt die Erkenntnis, dass es sich um eine Mitteilung handelt, und somit weder um eine Weisung noch um einen Bericht, zu keinem anderen Ergebnis.

Diese Mitteilungsschreiben Ranggleicher sind nun unpersönlich stilisiert, also nicht im Briefstil, den die Selbstbezeichnung des Verfassers mit “ich” kennzeichnet. Typischerweise beginnen sie etwa so: “Das Auswärtige Amt beehrt sich, der Botschaft von X mitzuteilen, dass …” Für eine Anrede ist in diesem Formular kein Raum, sie wird durch die mittig angebrachte Überschrift “Verbalnote” ersetzt. Gleichfalls logisch ist der Wegfall der Unterschrift, an deren Stelle das Behördensiegel tritt.

Charakteristisch ist die erwähnte Höflichkeitsformel, auch “Courtoisie” genannt, die in der Tat international auf monotone Art standardisiert ist: “Die Botschaft von X benutzt diesen Anlass, das Auswärtige Amt erneut ihrer ausgezeichnetsten Hochachtung zu versichen”. Die möglichen Variationen sind minimal. Das ist natürlich kein Deutsch. Diese Formeln stammen direkt aus dem jahrhundertelang stilprägenden französischen Kanzleizeremoniell (und sind dort ja auch heute noch im geschäftlichen wie privaten Bereich üblich).

Verbalnoten sind das Massenschriftgut der Diplomatie und an sich für Alltagsgeschäfte eher technischer Natur vorgesehen. Gerade die Diplomatie hat aber Bedarf für einen flexiblen Formengebrauch, um Subtexte zu formulieren und Botschaften zu nuancieren. Dazu kann schon eine kleine Veränderung in der Courtoisie dienen, oder die absichtsvolle Benutzung einer Verbalnote für eine politische Angelegenheit, die eigentlich eher ein persönliches Schreiben des Botschafters an den Außenminister erfordern würde. Ein wunderbar flexibles Instrument also, das zu kennen auch für außenpolitische Berichterstatter wichtig ist.

Damit ist, wohlgemerkt, nur der Ist-Zustand beschrieben. Die Genese dieser Stilform ist kompliziert, weil bis in das 20. Jahrhundert neben der völlig unpersönlichen, fingiert von der Behörde als solcher verfassten Verbalnote auch die “Note” begegnet, die ebenfalls in der dritten Person stilisiert ist, in der aber eine natürliche Person als Verfasser auftritt, die sich mit “Der Unterzeichnete” einführt. Solche Noten haben eine Anrede und eine Unterschrift (Meyer 1920: 51 f.; Meisner 1935: 53 f.). Die Wikipedia irrt mit ihrer Weiterleitung von “Verbalnote” nach “Diplomatische Note”!

Dies weiter zu diskutieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Zu diesem Problemkreis werde ich übrigens am 4. November im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem referieren.

Literatur:

Beuth, Heinrich W. (2005): Regiert wird schriftlich: Bericht, Weisung und Vorlage, in: Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, hrsg. von Enrico Brandt/Christian F. Buck, 4. Aufl., Wiesbaden, S. 119–128.

Beck, Lorenz Friedrich (2000): Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut, in: Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung, hrsg. von Nils Brübach, Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 33), S. 67–79.

Meisner, Heinrich Otto (1935): Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin.

Meyer, Hermann (1920): Das politische Schriftwesen im deutschen Auswärtigen Dienst: Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente, Tübingen.

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/97

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“Was auch immer das heißt”: Diplomatische Aktenkunde in der Bundespressekonferenz

Wer sich als Neuling in die Aktenkunde einarbeitet, wird die meiste Energie wohl in das Teilgebiet der Systematischen Aktenkunde investieren müssen. Hier geht es darum, anhand gemeinsamer formaler Merkmale Gruppen von Aktenschriftstücken zu identifizieren, in die ein konkret vorliegendes Stück eingeordnet werden kann. “Die begriffliche Kennzeichnung des Schriftstücks soll dabei dem schnelleren Erkennen wichtiger Kontextinformationen dienen” (Beck 2000: 69). Die Systematische Aktenkunde ist also ein wichtiges Werkzeug der Quellenkritik. Zugegebenermaßen verführt die barocke Pracht von Begriffsbildungen à la “Behördendorsualdekret” dazu, dieses Teilgebiet als Selbstzweck zu betreiben und die Anwendung der Aktenkunde darauf zu verengen (vgl. ebd.: 77). Bei aller Skepsis gegenüber babylonischem Systembau ist jedoch die Notwendigkeit nicht zu bestreiten, den Dingen einen Namen zu geben, die uns in den Akten erwarten – und keineswegs nur im Archiv!

In der Regierungspressekonferenz vom 8. Juli dieses Jahres ging es auch um “angebliche Umtriebe der NSA in Deutschland”, um das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und um die Verwaltungsvereinbarungen zum G10-Gesetz; tagespolitisch interessierte Leser werden diese Debatte verfolgt haben. Und in diesem Zusammenhang fragten Journalisten nach Verbalnoten, die zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten gewechselt worden seien:

Zusatzfrage: Es gab 1968 aber nicht nur eine Verwaltungsvereinbarung, sondern auch eine „verbal note“, was auch immer das heißt. Das ist angeblich die Grundlage für die Spionage von „Echelon“ in 2004 gewesen. Ist diese „verbal note“ genauso zur Akte gelegt …?

Beyer-Pollok [Sprecher des Bundesinnenministeriums]: … Mit dem Begriff „verbal note“ kann ich jetzt nichts anfangen. Das kommt so ein bisschen aus der Diplomatensprache. Aber hier meinen Sie möglicherweise etwas anderes, was mit dem Verwaltungsabkommen zu tun hat. Dazu habe ich ja eben schon etwas ausgeführt.

“So ein bisschen aus der Diplomatensprache”. Der ebenfalls anwesende Sprecher der Auswärtigen Amts verschaffte Klärung:

Schäfer: … Eine Verbalnote oder ein Verbalnotentausch ist die offizielle, förmliche Kommunikation zwischen Staaten. Das sind Schreiben beziehungsweise Briefe, die zwischen Staaten in einer bestimmten Form ausgetauscht werden und einen bestimmten politischen, manchmal auch juristischen Inhalt haben.

Diese Erklärung war auf die Situation bezogen und hat das journalistische Publikum nicht mit Details belastet. Wenn wir es genauer wissen wollen, sehen wir uns zunächst eine diplomatisch-praktische Definition aus einer offiziösen Veröffentlichung an:

“Die Verbalnote ist ein unpersönliches, an eine fremde Mission gerichtetes Schreiben mit Geschäftszeichen, der Überschrift ‘Verbalnote’, einer international festgelegten Höflichkeitsformel und Schlussformel. Sie trägt einen Siegelabdruck und wird nicht unterschrieben.” (Beuth 2005: 127)

Bauen wir diese Definition nun hilfswissenschaftlich aus: Verbalnoten werden zwischen einer diplomatischen Vertretung und dem Außenministerium des Gastlandes ausgetauscht. Souveräne Staaten befinden sich protokollarisch immer auf Augenhöhe: Ein Rangunterschied – das primäre Klassifikationsmerkmal nach der klassischen Lehre Meisners – besteht somit nicht. Möchte man eher nach dem Schreibzweck klassifizieren, so führt die Erkenntnis, dass es sich um eine Mitteilung handelt, und somit weder um eine Weisung noch um einen Bericht, zu keinem anderen Ergebnis.

Diese Mitteilungsschreiben Ranggleicher sind nun unpersönlich stilisiert, also nicht im Briefstil, den die Selbstbezeichnung des Verfassers mit “ich” kennzeichnet. Typischerweise beginnen sie etwa so: “Das Auswärtige Amt beehrt sich, der Botschaft von X mitzuteilen, dass …” Für eine Anrede ist in diesem Formular kein Raum, sie wird durch die mittig angebrachte Überschrift “Verbalnote” ersetzt. Gleichfalls logisch ist der Wegfall der Unterschrift, an deren Stelle das Behördensiegel tritt.

Charakteristisch ist die erwähnte Höflichkeitsformel, auch “Courtoisie” genannt, die in der Tat international auf monotone Art standardisiert ist: “Die Botschaft von X benutzt diesen Anlass, das Auswärtige Amt erneut ihrer ausgezeichnetsten Hochachtung zu versichen”. Die möglichen Variationen sind minimal. Das ist natürlich kein Deutsch. Diese Formeln stammen direkt aus dem jahrhundertelang stilprägenden französischen Kanzleizeremoniell (und sind dort ja auch heute noch im geschäftlichen wie privaten Bereich üblich).

Verbalnoten sind das Massenschriftgut der Diplomatie und an sich für Alltagsgeschäfte eher technischer Natur vorgesehen. Gerade die Diplomatie hat aber Bedarf für einen flexiblen Formengebrauch, um Subtexte zu formulieren und Botschaften zu nuancieren. Dazu kann schon eine kleine Veränderung in der Courtoisie dienen, oder die absichtsvolle Benutzung einer Verbalnote für eine politische Angelegenheit, die eigentlich eher ein persönliches Schreiben des Botschafters an den Außenminister erfordern würde. Ein wunderbar flexibles Instrument also, das zu kennen auch für außenpolitische Berichterstatter wichtig ist.

Damit ist, wohlgemerkt, nur der Ist-Zustand beschrieben. Die Genese dieser Stilform ist kompliziert, weil bis in das 20. Jahrhundert neben der völlig unpersönlichen, fingiert von der Behörde als solcher verfassten Verbalnote auch die “Note” begegnet, die ebenfalls in der dritten Person stilisiert ist, in der aber eine natürliche Person als Verfasser auftritt, die sich mit “Der Unterzeichnete” einführt. Solche Noten haben eine Anrede und eine Unterschrift (Meyer 1920: 51 f.; Meisner 1935: 53 f.). Die Wikipedia irrt mit ihrer Weiterleitung von “Verbalnote” nach “Diplomatische Note”!

Dies weiter zu diskutieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Zu diesem Problemkreis werde ich übrigens am 4. November im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem referieren.

Literatur:

Beuth, Heinrich W. (2005): Regiert wird schriftlich: Bericht, Weisung und Vorlage, in: Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, hrsg. von Enrico Brandt/Christian F. Buck, 4. Aufl., Wiesbaden, S. 119–128.

Beck, Lorenz Friedrich (2000): Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut, in: Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung, hrsg. von Nils Brübach, Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 33), S. 67–79.

Meisner, Heinrich Otto (1935): Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin.

Meyer, Hermann (1920): Das politische Schriftwesen im deutschen Auswärtigen Dienst: Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente, Tübingen.

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/97

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“Was auch immer das heißt”: Diplomatische Aktenkunde in der Bundespressekonferenz

 

Wer sich als Neuling in die Aktenkunde einarbeitet, wird die meiste Energie wohl in das Teilgebiet der Systematischen Aktenkunde investieren müssen. Hier geht es darum, anhand gemeinsamer formaler Merkmale Gruppen von Aktenschriftstücken zu identifizieren, in die ein konkret vorliegendes Stück eingeordnet werden kann. “Die begriffliche Kennzeichnung des Schriftstücks soll dabei dem schnelleren Erkennen wichtiger Kontextinformationen dienen” (Beck 2000: 69). Die Systematische Aktenkunde ist also ein wichtiges Werkzeug der Quellenkritik. Zugegebenermaßen verführt die barocke Pracht von Begriffsbildungen à la “Behördendorsualdekret” dazu, dieses Teilgebiet als Selbstzweck zu betreiben und die Anwendung der Aktenkunde darauf zu verengen (vgl. ebd.: 77). Bei aller Skepsis gegenüber babylonischem Systembau ist jedoch die Notwendigkeit nicht zu bestreiten, den Dingen einen Namen zu geben, die uns in den Akten erwarten – und keineswegs nur im Archiv!

In der Regierungspressekonferenz vom 8. Juli dieses Jahres ging es auch um “angebliche Umtriebe der NSA in Deutschland”, um das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut und um die Verwaltungsvereinbarungen zum G10-Gesetz; tagespolitisch interessierte Leser werden diese Debatte verfolgt haben. Und in diesem Zusammenhang fragten Journalisten nach Verbalnoten, die zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten gewechselt worden seien:

Zusatzfrage: Es gab 1968 aber nicht nur eine Verwaltungsvereinbarung, sondern auch eine „verbal note“, was auch immer das heißt. Das ist angeblich die Grundlage für die Spionage von „Echelon“ in 2004 gewesen. Ist diese „verbal note“ genauso zur Akte gelegt …?

Beyer-Pollok [Sprecher des Bundesinnenministeriums]: … Mit dem Begriff „verbal note“ kann ich jetzt nichts anfangen. Das kommt so ein bisschen aus der Diplomatensprache. Aber hier meinen Sie möglicherweise etwas anderes, was mit dem Verwaltungsabkommen zu tun hat. Dazu habe ich ja eben schon etwas ausgeführt.

“So ein bisschen aus der Diplomatensprache”. Der ebenfalls anwesende Sprecher der Auswärtigen Amts verschaffte Klärung:

Schäfer: … Eine Verbalnote oder ein Verbalnotentausch ist die offizielle, förmliche Kommunikation zwischen Staaten. Das sind Schreiben beziehungsweise Briefe, die zwischen Staaten in einer bestimmten Form ausgetauscht werden und einen bestimmten politischen, manchmal auch juristischen Inhalt haben.

Diese Erklärung war auf die Situation bezogen und hat das journalistische Publikum nicht mit Details belastet. Wenn wir es genauer wissen wollen, sehen wir uns zunächst eine diplomatisch-praktische Definition aus einer offiziösen Veröffentlichung an:

“Die Verbalnote ist ein unpersönliches, an eine fremde Mission gerichtetes Schreiben mit Geschäftszeichen, der Überschrift ‘Verbalnote’, einer international festgelegten Höflichkeitsformel und Schlussformel. Sie trägt einen Siegelabdruck und wird nicht unterschrieben.” (Beuth 2005: 127)

Bauen wir diese Definition nun hilfswissenschaftlich aus: Verbalnoten werden zwischen einer diplomatischen Vertretung und dem Außenministerium des Gastlandes ausgetauscht. Souveräne Staaten befinden sich protokollarisch immer auf Augenhöhe: Ein Rangunterschied – das primäre Klassifikationsmerkmal nach der klassischen Lehre Meisners – besteht somit nicht. Möchte man eher nach dem Schreibzweck klassifizieren, so führt die Erkenntnis, dass es sich um eine Mitteilung handelt, und somit weder um eine Weisung noch um einen Bericht, zu keinem anderen Ergebnis.

Diese Mitteilungsschreiben Ranggleicher sind nun unpersönlich stilisiert, also nicht im Briefstil, den die Selbstbezeichnung des Verfassers mit “ich” kennzeichnet. Typischerweise beginnen sie etwa so: “Das Auswärtige Amt beehrt sich, der Botschaft von X mitzuteilen, dass …” Für eine Anrede ist in diesem Formular kein Raum, sie wird durch die mittig angebrachte Überschrift “Verbalnote” ersetzt. Gleichfalls logisch ist der Wegfall der Unterschrift, an deren Stelle das Behördensiegel tritt.

Charakteristisch ist die erwähnte Höflichkeitsformel, auch “Courtoisie” genannt, die in der Tat international auf monotone Art standardisiert ist: “Die Botschaft von X benutzt diesen Anlass, das Auswärtige Amt erneut ihrer ausgezeichnetsten Hochachtung zu versichen”. Die möglichen Variationen sind minimal. Das ist natürlich kein Deutsch. Diese Formeln stammen direkt aus dem jahrhundertelang stilprägenden französischen Kanzleizeremoniell (und sind dort ja auch heute noch im geschäftlichen wie privaten Bereich üblich).

Verbalnoten sind das Massenschriftgut der Diplomatie und an sich für Alltagsgeschäfte eher technischer Natur vorgesehen. Gerade die Diplomatie hat aber Bedarf für einen flexiblen Formengebrauch, um Subtexte zu formulieren und Botschaften zu nuancieren. Dazu kann schon eine kleine Veränderung in der Courtoisie dienen, oder die absichtsvolle Benutzung einer Verbalnote für eine politische Angelegenheit, die eigentlich eher ein persönliches Schreiben des Botschafters an den Außenminister erfordern würde. Ein wunderbar flexibles Instrument also, das zu kennen auch für außenpolitische Berichterstatter wichtig ist.

Damit ist, wohlgemerkt, nur der Ist-Zustand beschrieben. Die Genese dieser Stilform ist kompliziert, weil bis in das 20. Jahrhundert neben der völlig unpersönlichen, fingiert von der Behörde als solcher verfassten Verbalnote auch die “Note” begegnet, die ebenfalls in der dritten Person stilisiert ist, in der aber eine natürliche Person als Verfasser auftritt, die sich mit “Der Unterzeichnete” einführt. Solche Noten haben eine Anrede und eine Unterschrift (Meyer 1920: 51 f.; Meisner 1935: 53 f.). Die Wikipedia irrt mit ihrer Weiterleitung von “Verbalnote” nach “Diplomatische Note”!

Dies weiter zu diskutieren, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Zu diesem Problemkreis werde ich übrigens am 4. November im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem referieren.

Literatur:

Beuth, Heinrich W. (2005): Regiert wird schriftlich: Bericht, Weisung und Vorlage, in: Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, hrsg. von Enrico Brandt/Christian F. Buck, 4. Aufl., Wiesbaden, S. 119–128.

Beck, Lorenz Friedrich (2000): Leistung und Methoden der Aktenkunde bei der Interpretation formalisierter Merkmale von historischen Verwaltungsschriftgut, in: Der Zugang zu Verwaltungsinformationen: Transparenz als archivische Dienstleistung, hrsg. von Nils Brübach, Marburg (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Bd. 33), S. 67–79.

Meisner, Heinrich Otto (1935): Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin.

Meyer, Hermann (1920): Das politische Schriftwesen im deutschen Auswärtigen Dienst: Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente, Tübingen.

 

 

 

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/97

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3. Nachtrag zum Tag der Einheit (Gastbeitrag)

“Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Ersteinmal herzlichen Dank! Für die, die mich jedoch noch nicht kennen, möchte ich mich kurz vorstellen und meine Beziehung zum Tag der Einheit darlegen.

Ich heiße Plotin und bin um 205 n. Chr. in Lykopolis geboren. Diese Stadt heißt heute Asyut und liegt in Ägypten. Ich bin ein Philosoph, der die Philosophie Platons verfolgt. Mein Anliegen ist es, sie für meine Mitmenschen so deutlich wie möglich zum Vorschein zu bringen. Dies habe ich in meinem Hauptwerk getan, das durch meinen Schüler Porphyrios “Enneaden” also etwa Neunerpakete benannt wurde. Schon früh habe ich damit angefangen, die Schriften meines großen Vorbildes zu lesen und zu verstehen. Sie wissen selbst, dass der göttliche Platon kein einfacher Denker war, sondern uns viele schwerverständliche Lösungen hinterlassen hat. Aber ein Mann wie er hat keine inkonsistenten Schriften verfasst, wie auch manche meiner Schüler häufig behaupten, sondern er hat die beste Form gewählt, uns die schwer verständliche Wahrheit über das Sein mitzuteilen. Es stimmt ja, dass wir immer zum Nachdenken angeregt werden, wenn wir ihn lesen. Auch heute noch. Aristoteles hingegen klingt in meinen Ohren wie ein Lexikon. Er gibt vor, alles zu wissen; Dabei hat er die wichtigsten Punkte gar nicht verstanden. Schade, denn er war ein kluger Kerl.

Ich selbst habe übrigens entdeckt, dass meine näheren Vorgänger auch viele falsche Ansichten vertreten hatten. Ich möchte auch eigentlich von niemandem schlecht reden, aber dieser Albinos beispielsweise hätte seine Hausaufgaben wirklich mal richtig machen sollen.

Und nun zum Tag der Einheit. Der Tag der Einheit krönt gewissermaßen mein Lebenswerk, da er meine Philosophie ehrt. Ich werde ihnen jetzt kurz erklären, wie ich das meine und wieso ich ihnen so dankbar für die Einrichtung eines solchen Feiertages bin: Wenn wir uns umschauen, besteht unsere Welt aus jeder Menge Dingen, die zusammen eben eine Vielheit bilden. Ein Tisch, eine Primzahl, eine Gattung und ein Fuchs und alles, was uns sonst einfällt, ist Teil dieser Vielheit aus der unsere Umwelt eben besteht. Nun, das stimmt wohl. Aber mich hatte immer gewurmt, wieso man denn so einfach von der Vielheit spricht, wenn man nicht genau erklären kann, was die Einheit ist. Die Einheit ist doch die Basis für die Vielheit, oder? – Sehen sie, ich bin Anhänger der platonischen Ideenlehre. Nehmen sie das einfach einmal so hin. Denn wenn sie mit dem Einwand kommen, es gebe doch gar keine platonischen Ideen, dann werde ich sie sowieso davon überzeugen, dass es sie gibt. Also kürzen wir hier ab und nehmen an, es gebe diese Ideen. Sie haben keine räumliche Ausdehnung und deshalb können wir sie nicht sehen. Sie sind dennoch Vorbilder für alles, was wir sehen. Sie kennen aus dem Philosophieunterricht in der Schule das Beispiel mit dem Kreis. Denn egal wie genau man einen Kreis malen möchte, wir wissen, dass die Idee des Kreises, die man zum Vorbild hat, perfekter ist. Deshalb verlagere ich meine Suche nach der Einheit auf diese perfektere Ebene. Nun weiter: Alle Ideen zusammengenommen nenne ich Geist, im Griechischen heißt das “nous” (νοῦς). Ich hätte es auch anders nennen können, aber so eine Prise Mystizismus zieht eben auch die Esoteriker an. Aber zurück zur Einheit: Das Eine übersteigt auch diesen Geist. Denn die Einheit ist auch die Voraussetzung für die Ideen selbst. Eigentlich einleuchtend, oder? Denn ohne Einheit keine einzige Idee. Und jetzt kommt der springende Punkt, der mich anfangs in Verlegenheit gebracht hatte, für den ich aber lange Jahre argumentiert habe und für den ich auch Platons Dialog Parmenides zum Zeugen habe. Diese Einheit, die man sucht, würde bereits zwei Dinge umfassen, wenn wir sie auf dem Level der Ideen ansetzen würden. Denn sie wäre sowohl Einheit als auch Sein. Meistens gucken meine Studenten skeptisch, wenn ich das sage. Aber sie haben nie ein Argument hervorgebracht, das meine Ansicht angreifen könnte. Jedenfalls: Wenn man von Einheit sprechen will, darf man nicht gleichzeitig von Sein sprechen, da man ja dann eine Zweiheit hätte und unser Problem nicht gelöst werden würde. Wir suchen ja die reine Einheit. Ich nenne diese absolute Einheit deshalb über-seiend, weil sie die Voraussetzung für die platonischen Ideen ist, aber selbst keine Idee ist. Platon hat das eben auch so gemeint. Er schreibt ja in dem Dialog Politeia in 509b, dem dicken Wälzer, es sei “jenseits des Seins” (επέκεινα της ουσίας).

Nun, wenn es sie interessiert, Dominic O’Meara, der ein guter Freund hätte werden können, schreibt ausführlich etwas zu meiner Ansicht in seinem Buch Plotinus: An Introduction to the Enneads (D. O’Meara, Plotinus: An Introduction to the Enneads (Oxford: 1993), Anm. d. Red.). Ich habe schließlich viele Generationen von Philosophen inspiriert. Sogar Marcilio Ficino, der Renaissance-Philosoph, hat meine Ideen verwertet und manche behaupten, auch Hegel hätte mich rezipiert.

Nun ja, dies ist also der Hintergrund für den Tag der Einheit, wie mir scheint, und ich bin für diese Benennung und für diese Ehrung der Philosophie überaus dankbar. Ich wünsche ihnen deshalb einen entspannten Tag der Muße und des Nachdenkens.

Herzliche Grüße,

Ihr Plotin”

Quelle: http://philophiso.hypotheses.org/48

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