Mit der “Kanzlerakte” hat sich dieses Blog eine ganz ungewohnte Zahl von Likes und Tweets eingefangen. War zugegebenermaßen auch plakativ. Mit dem heutigen Beitrag kehre ich zur Spezialbloggerei zurück und traktiere nach Schmid einen weiteren vergessenen Klassiker des Fachs. Mal sehen, wie viele Besucher bis zum Like-Knopf durchhalten.
Titelseite
Der “Meyer” ist mein Vademecum als Archivar diplomatischer Akten. Auch für deren Benutzer sollte er es sein, scheint dort aber völlig unbekannt zu sein. Anlass, sich mit ihm zu beschäftigen, gibt auch das laufende “Supergedenkjahr” rund um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
“Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch” wurden 1919 auf Veranlassung des des sozialistischen Politikers Karl Kautsky aus den Akten des Auswärtigen Amts in einer vierbändigen Edition veröffentlicht und in den Zwanzigerjahren in gigantischen Auflagen bis in die Bücherschränke des Bildungsbürgertums verbreitet, als Quellengrundlage einer gesellschaftlichen Diskussion über die Kriegsursachen, die bald in den notorischen “Kampf gegen die Kriegsschuldlüge” ausartete (was den wissenschaftlichen Wert der heute auch digitalisiert vorliegenden Edition nicht mindert).
Wenn gewünscht wurde, dass weite Kreise der Bevölkerung eine wissenschaftliche Dokumentenedition zur Kenntnis nehmen sollten, dann musste dem “unbelasteten” Leser ein Lektüreschlüssel an die Hand gegeben werden. Zu diesem Zweck erschien 1920 bei Mohr/Siebeck in Tübingen “Das politische Schriftwesen im Deutschen Auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente” von Hermann Meyer.
Geboren 1883 in Soest, war Meyer nach der Promotion in den preußischen Archivdienst eingetreten. Nach Stationen am Geheimen Staatsarchiv, dem Staatsarchiv Magdeburg und der Kriegsteilnahme wurde et 1918/19 ans Auswärtige Amt abgeordnet, um Kautsky bei der Edition der “Deutschen Dokumente” zu unterstützen. In dieser Zeit erlangte er aus erster Hand, von den zuständigen Beamten, eine intime Kenntnis des Kanzlei- und Registraturwesens. 1920 wurde Meyer dann auch zum ersten Leiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts bestellt.
Einmal im Amt, reüssierte er schnell auch im diplomatischen Dienst. Seit 1923 leitete er in Personalunion mit dem Archiv zwei Referate der politischen Abteilungen; 1929 wechselte er nach Rom an die Botschaft beim Heiligen Stuhl, und 1931-1935 amtierte er als Generalkonsul in Marseille, bevor er unter dem Nazi-Regime zwangspensioniert wurde. Hermann Meyer starb 1943 in Bonn.
Die Aufbauarbeit im Politischen Archiv und der Wechsel in die Diplomatenlaufbahn führten dazu, dass “Das politische Schriftwesen” Meyers einziger Beitrag zur Akten- und Quellenkunde blieb, abgesehen von einer kleineren Studie zur Sprachwahl in den Depeschen preußischer Diplomaten (Friedrich der Große hatte Französisch verordnet; Meyer 1926). Leider.
Das Buch zeichnet sich durch Praxisnähe und Eingängigkeit aus, die seiner Rezipierbarkeit außerhalb des Archivs eigentlich zugute kommen sollte. Meyer beschränkt sich darauf, den Ist-Zustand des Aktenwesens zu vermitteln, und verbindet geschickt Aktenkunde im engeren Sinne, also die Untersuchung von Schriftstücken anhand formaler Merkmale, mit quellenkundlichen Einsichten, die er bei der Unterstützung der Edition gewonnen hatte.
Es beginnt mustergültig mit einem Abriss der Aufbauorganisation des Auswärtigen Amts im Kaiserreich, seiner Zentrale und der Auslandsvertretungen, und mit Grundzügen des Gesandtschaftsrechts (Kap. I). Weiter geht es mit der “Allgemeine[n] Organisation des politischen Schriftwesens” (Kap. II), in der eine systematische Aktenkunde der zwischen der Zentrale und den Auslandsvertretungen gewechselten Berichte und Erlasse (Depeschen) mit einer Beschreibung der Kanzlei- und Registraturorganisation in Gestalt des legendären, 1920 aufgelösten Zentral- und Depeschenbüros der Politischen Abteilung I A des Auswärtigen Amts verbunden ist, und zwar sehr umfassend. Meyer beschreibt auch die Registraturfindmittel (Journale, Register), was zum Verständnis der Edition wenig beiträgt, aber der Benutzbarkeit des im Werden begriffenen Archivs dient.
Genetische Aktenkunde
Der Hauptteil der Genetischen Aktenkunde findet sich etwas unerwartet in Kap. III unter dem Rubrum “Grundbegriffe des politischen und diplomatischen Schriftwesens”. Es ist wohl das zentrale Kapitel, weil es am unmittelbarsten der Quellenkritik der edierten Dokumente dient.
In Kapitel IV springt Meyer zurück zur Systematischen Aktenkunde und behandelt die Stilformen des diplomatischen Schriftverkehrs, die berühmten Noten, Verbalnoten und Aide-Mémoires. Auch hier geht er über den Rahmen der Edition, in die fast nur Aide-Mémoires aufgenommen wurden, hinaus. Hinsichtlich dieses aktenkundlichen Sondergebiets beruht praktisch die gesamte seitdem erschienene Literatur auf Meyers Ausführungen. Dabei wurde der Gebrauch dieser Stilformen im Auswärtigen Amt noch im Jahr des Erscheinens, 1920, grundlegend reformiert. Eine Veröffentlichung dazu bereite ich vor.
Einbindung des Kaisers in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts
Mit der “Beteiligung des Staatsoberhaupts” (Kap. V) geht es noch einmal ans Eingemachte der edierten Dokumente und um die Fortsetzung der Geschäftsgangskunde aus Kapitel III. Eine Besonderheit der Edition ist die typographisch gefällig gemachte Wiedergabe der Randbemerkungen Wilhelms II. auf den vorgelegten Depeschen und Immediatberichten. Der Quellenwert dieser zwischen hellsichtig und kreuzdumm rangierenden Marginalien für die Rekonstruktion der Julikrise ist sehr hoch.
Den Abschluss bildet in Kap. VI eine quellenkritische Schatzkammer zum Kurier-, Telegrafen- und Chiffrierwesen des Auswärtigen Amts, in der man sich bediene, um zu rekonstruktion, welcher Entscheidungsträger in der Julikrise wann und wie auf welche vorliegenden Informationen reagiert hat. Wer sich dabei mit forensischer Genauigkeit versuchen und gleichzeitig vor Aktengläubigkeit schützen will, sollte lesen, was Meyer über sich kreuzende Telegramme, die Uneindeutigkeit von Abgangs- und Eingangsdatierungen und Textverlust durch Übertragungsfehler zu sagen hat. Ein ausführliches Register erschließt dieses dünne, aber gehaltvolle Buch.
Meyer also auch ein Klassiker der Aktenkunde? Woran es Meyer noch fehlte, waren die von Meisner entwickelten Konzeptionalisierungen, die helfen, vor lauter Bäumen den Wald sehen. So behandelt er in Kapitel III die Entstehung der in Schriftform ausgehenden Erlasse, in II die registraturtechnische Behandlung der eingehenden Berichte, wiederholt das Ganze in Kap. VI für Erlasse in Telegrammform uns schiebt in V die Anbindung des Kaisers an den Geschäftsgang des Auswärtigen Amts nach. Das alles beschreibt Teilaspekte der Genetischen Aktenkunde, die sich mit den Bearbeitungsspuren befasst.
An Meisner geschult, würde man diese Aspekte zusammenziehen, um konzise den Geschäftsgang und seine Spuren auf den Unterlagen zu beschreiben. Ohne diese Konzeptionalisierung wird analytisches Potential vergeben. Meyer bleibt dem Praktizismus der Kanzleibeamten verhaftet; es gibt viele terminologische Unschärfen, die ebenfalls auf konzeptionelle Lücken hinweisen. So ist das Telegramm als solches kein Schriftstücktyp, sondern eine Übermittlungsform für verschiedenste Typen. Deshalb unterscheidet sich seine Entstehung im Geschäftsgang auch nicht grundsätzlich von der einer schriftlichen Depesche. Nur wurde die konventionelle Expedition per Post, Depeschenkasten oder Feldjäger eben durch den Weg über die Telegraphenämter ersetzt.
Natürlich kann man dem Wissenschaftler Hermann Meyer keinen Strick daraus trennen, dass er sich 1920 nicht an den aktenkundlichen Ariadnefäden orientiert hat, die Heinrich Otto Meisner erst 1935 gesponnen hat. Der “Meyer” ist ein Monument der aktenkundlichen Vorgeschichte, das man vielleicht mit Haß (1909) in eine Reihe stellen kann. Der Nutzen als praktische Fundgrube bleibt überragend groß.
Benutzer des Politischen Archivs, lest dieses Buch! Leider ist das Digitalisat bei Hathi-Trust mit einer deutschen IP-Adresse nicht abrufbar.
Literatur
Haß, Martin 1909. Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 22, S. 521-575 (online).
Meisner, Heinrich Otto 1935. Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens. Berlin.
Meyer, Hermann 1920. Das politische Schriftwesen im deutschen auswärtigen Dienst. Ein Leitfaden zum Verständnis diplomatischer Dokumente. Tübingen.
Ders. 1926. Der Sieg Der Deutschen Sprache in den politischen Depeschen Preußens und des Reichs. In: Görres-Gesellschaft, Hg. 1926. Festschrift, Felix Porsch zum 70. Geburtstag dargebracht. Görres-Gesellschaft zur Pfeleg der Wissenschaften im katholischen Deutschland, Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaften 40. Paderborn.
Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/168