Die “Kanzlerakte”: eine offensichtliche Aktenfälschung

 

Quelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpgQuelle: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Kanzlerakte.jpg

Im letzten Eintrag habe ich die Dokumentenbände des BND vorgestellt. Das gibt mir den Anlass, eine groteske Aktenfälschung unter die Lupe zu nehmen, die vorgibt, ein BND-Schriftstück zu sein.

Im Internet ist eine regelrechte Mythologie um eine “Kanzlerakte” entstanden: ein hypothetisches Schriftstück, dass angeblich jeder deutsche Bundeskanzler vor seinem Amtsantritt unterzeichnen musste. Es gibt einen guten Wikipedia-Artikel zu diesem Unfug.

Der “Beweis” soll ein Schreiben des BND sein, in dem der Verlust eines Exemplars jenes “geheimen Staatsvertrags” berichtet wird. Der verlinkte Wikipedia-Artikel enthält bereits einige gute Argumente, die zum Teil aktenkundlicher Art sind, zum Teil allgemein auf die Plausibilität abstellen, an der es eklatant mangelt. Ich beschränke mich im Folgenden auf das Instrumentarium der Aktenkunde mit ihren Hilfswissenschaften Paläographie und Verwaltungsgeschichte. Außerdem halte ich mich an die Fehler und vermeide Hinweise, wie man es besser machen könnte :-)

1. Analyse der inneren Merkmale

Briefkopf: Wie die Wikipedia richtig ausführt, passt die maschinenschriftliche Behördenfirma nicht zu einem externen Schreiben einer Oberen Bundesbehörde (nicht: “Ministerium”!). Außerdem sind wir nicht in Frankreich, wo in der Behördenfirma von oben nach unten alle Instanzen aufgeführt werden, vom Ministerium bis zum bearbeitenden Büro. Eine “Kontroll-Abteilung” ist dem Namen und der Sache nach der deutschen Verwaltungstradition fremd.

Innenadresse: fehlt, wäre bei einem externen Schreiben aber nötig.

Geheimhaltungsvermerk: “VS-Verschlußsache Nur für den Dienstgebrauch” entspricht nicht den Formvorschriften, die zum angeblichen Datum des Dokuments bereits galten (wenn ich den Vermerk unten rechts richtig lese: 1992). Den zusätzliche Vermerk “Strengste Vertraulichkeit” gibt es nicht. Die Beschränkung eines gedachten Routineverteilers auf den “Minister” ist dagegen noch passabel.

Betreff: wird nicht mit “Vorgang” eingeleitet.

Unterschrift: Die Amtsbezeichnung “Staatsminister” ist hier fehl am Platz.

Blattaufteilung: Auch der unterwürfigste Bericht wird heute nicht mehr halbbrüchig (= breiter linker Rand) geschrieben.

2. Systematische Einordnung

Der Fälscher hatte einen externen Bericht des Bundesnachrichtendienstes an eine übergeordnete Instanz im Sinn. Dafür spricht die Nachahmung des Kopfbogens, wobei die fehlende Innenadresse ein Fehler ist. Die Höflichkeitsformeln zu Anfang und Ende würden daraus einen Bericht in der Form eines Privatdienstschreibens machen.
Aber nicht nur, dass es nie einen Staatsminister Rickermann gab, wie die Wikipedia richtig anmerkt: Dem Fälscher war nicht klar, dass es beim BND überhaupt keine Staatsminister gibt. “Staatsminister” ist die Amtsbezeichnung der Parlamentarischen Staatssekretäre bei der Bundeskanzlerin und beim Bundesminister des Auswärtigen (zu den Gründen Wischnewski 1989: 177 f.). Ein StM oder PStS ist kein Beamter mit Verwaltungsaufgaben, sondern steht in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis und ist für die Unterstützung bei politischen Aufgaben einem Mitglied der Bundesregierung beigegeben. Der Präsident des Bundesnachrichtendienstes ist aber natürlich ein Berufsbeamter.
Oder meint der Fälscher, der Geheimdienst selbst würde von einem Minister geleitet werden, wie einst die Stasi? Das könnte ein Hinweis auf Herkunft, Sozialisation und Vorstellungswelt sein. (Ein interner Bericht gehört aber nicht auf Kopfbogen.)

3. Genetische Einordnung

Merkmale:
- Imitat eines Kopfbogens
- Nachgemachte Unterschrift
- Aufgesetzte Vermerke und Verfügungen des vermeintlichen Empfängers
also: Fälschung einer behändigten Ausfertigung.

Nach der klassischen aktenkundlichen Lehre sind die Vermerke und Verfügungen des Empfängers ja nicht Gegenstand der Analytik, sondern der genetischen Betrachtung, weil sie nicht zum Formenapparat des ausgefertigten Schreibens gehören. Mir hat diese methodologische Differenzierung unter praktischen Gesichtspunkten nie recht eingeleuchtet. Hier haben wir aber einmal einen Fall, in dem sie Erkenntnis bringt: Der Geschäftsgangsvermerk unten rechts wurde vom Fälscher offenbar als Vordruck verstanden, den der Absender vorbereitet hat; der Empfänger hätte nur noch die Daten eingetragen. Dann wäre dieser Vermerk als inneres Merkmal des Schreibens zu verstehen.

Das widerspricht der Verwaltungspraxis: Eingangsvermerk oder zdA- und Wiedervorlage-Verfügungen (hier auch noch falsch abgekürzt) werden vom Empfänger aufgesetzt und machen wesentlich die Behändigung des eingegangenen Schreibens aus. Vorgedruckt wird so etwas nur auf Formularen, insbesondere Fragebögen für Antragsteller in der nachgeordneten Leistungsverwaltung. So ein Stück könnte dem Fälscher als Vorlage gedient haben.

Die beiden Verfügungen am Rand sollen den numinosen Charakter der Fälschung unterstreichen: Es wurde Vernichtung des allergeheimsten Skandalons angeordnet, aber irgendjemand gab es doch ins Archiv (= Registratur des Bundeskanzleramtes), und das alles in dieser lustigen alten Schrift aus Omas Poesiealbum.

Da lacht der Paläograph. Während Archiv-Neulinge deutsche Kurrent-Aktenschriften meistens falsch als Sütterlin bezeichnen, sehen wir hier das schlechte Imitat echten Sütterlins, also der von Ludwig Sütterlin entworfenen und 1915 an den preußischen Schulen eingeführten Normalschrift, deren Hauptkennzeichen der Verzicht auf die Neigung der Buchstaben in Schreibrichtung war (Beck/Beck 2007: 87 f.). Die hier gemalten Buchstaben sind zwar ungelenk und latinisiert, aber eindeutig eine Steilschrift. Selbst wenn 1992 im Bundeskanzleramt noch zwei Urgesteine deutsche Schreibschrift angewandt hätten, dann bestimmt nicht so, wie in der Grundschule im Hausaufgabenheft, sondern als Aktenschrift mit deutlicher Kursivierung.

Alle anderen Vermerke und Verfügungen einschließlich das Datums sind bewusst unleserlich gehalten, wenn nicht sogar Trugschrift.

4. Einschätzung

Das Stück ist eine grobe Fälschung. Die Liste der in der Wikipedia aufgeführten formalen Mängel lässt sich um einige Punkte verlängern, deren kumulierter Beweis erdrückend ist. Von der historischen Plausibilität ganz zu schweigen. Der Fälscher ist mit beträchtlichem Fleiß, aber geringem Wissen ans Werk gegangen, wobei manche Elemente auf eine ziemlich piefige Vorstellungswelt hinweisen.

Literatur:

Beck, Friedrich und Lorenz Friedrich Beck 2007. Die lateinische Schrift: Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln.

Wischnewski, Hans-Jürgen 1989. Mit Leidenschaft und Augenmaß. In Mogadischu und anderswo. München.

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/163

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Faksimiles zur Aktenkunde nicht nur des BND

Es gibt einige gute Tafelwerke zur Aktenkunde und Paläografie der Neuzeit. Aber es zeigt sich derselbe Befunde wie in den darstellenden Kompendien des Fachs: Je näher man der Gegenwart kommt, desto spärlicher werden die Beispiele. Jede gut greifbare und handliche Veröffentlichung beispielhafter Faksimiles aus Behördenschriftgut der letzten Jahrzehnte ist darum willkommen, und das umso mehr, wenn sie aus einem “Sondergewerbe” der öffentlichen Verwaltung stammen.

Mit dem Bundesnachrichtendienst als Urheber von Faksimile-Bänden rechnet man zunächst wohl nicht. Es ist auch nicht der eigentliche Zweck der hier anzuzeigenden “Mitteilungen der Forschungs- und Arbeitsgruppe ‘Geschichte des BND’“, die Historischen Hilfswissenschaften anzufüttern – sie erfüllen ihn aber gut. Das Projekt begleitet die Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission, die die Geschichte des Dienstes bis 1968 erforschen soll. Dazu bringt eine interne Arbeitsgruppe des BND sachthematische Quellenveröffentlichungen heraus, die leicht verkleinerte Farbfaksimiles in guter Qualität bieten. Das Schöne daran: PDFs der Druckfassungen können von der Website des Dienstes heruntergeladen werden.

Die sechs bislang veröffentlichten, zum Teil voluminösen Bände sind eine faszinierende Lektüre. Man lese als Historiker nur einmal die Dokumente aus dem Doppelband zur Kubakrise 1962 chronologisch im Wechsel mit den im entsprechenden Jahrgangsband der Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland abgedruckten Unterlagen des Auswärtigen Amts. Und Aktenkundler freuen sich über reiches Anschauungsmaterial.

Publiziert werden vor allem nachrichtendienstliche Meldungen aus aller Welt an die Pullacher Zentrale. Dabei handelt es sich um Ausprägungen der aktenkundlichen Universalgattung “Bericht” mit einigen besonderen inneren Merkmalen, die teilweise auch im Schriftgut des Militärs begegnen: vor allem die Unterscheidung zwischen der Datierung des Berichts und der Datierung der berichteten Beobachtungen oder die kodierte Bewertung der Glaubwürdigkeit von Nachrichten. Die Fernschreiberausgabe ist dabei eine häufige Überlieferungsform. (Aktenkundlich scheint sich noch niemand vertieft mit dem Fernschreiber beschäftigt zu haben, dabei nahm er einige Neuerungen des E-Mail-Zeitalters vorweg.)

Charakteristisch sind eine Fülle von speziellen Abkürzungen, Fachbegriffen und Tarnnamen. Glücklicherweise hat die Arbeitsgruppe in derselben Reihe auch schon ein Glossar vorgelegt, das dem Verständnis nachhilft.

Daneben begegnen interner Schriftverkehr zwischen Inlandsdienststellen des BND (z. B. “Aquarium an 106/XX c pers”), Aktenvermerke und lange Ausarbeitungen. Man entdeckt hier viel mehr Gemeinsamkeiten mit dem Aktenwesen “normaler” Bundesbehörden als Trennendes. Das gilt auch für Geschäftsgangsvermerke, Verfügungen und innere Merkmale wie Tagebuchnummern und dergleichen.

In Band 7, dessen Erscheinen mir den Anlass zu diesem Beitrag gibt, findet sich in Dokument 13 sogar einmal eine mit klassischem Grünstift aufgesetzte und mit “Ge” paraphierte handschriftliche Weisung Gehlens, übrigens in einer sauberen, gut lesbaren Handschrift. Die Paläografie zeitgenössischer Aktenschriften ist ja ein weites, steiniges Feld – an Walter Hallsteins Handschrift sollen schon Qualifikationsarbeiten gescheitert sein.

Dieser Band 7 ist ohnehin bemerkenswert, weil er sich (nach einem Ausflug in die Ordenskunde in Band 5) nicht mit einem nachrichtendienstlichen Sujet im engeren Sinne befasst, sondern mit “Mr. Dynamit“, einem deutschen James-Bond-Imitat der Sechzigerjahre aus dem Dunstkreis der Jerry-Cotton- und Karl-May-Verfilmer – mit Lex Barker als BND-Superagenten und Eddi Arent als seinem “Q”! Der Produzent bemühte sich um amtliche Schützenhilfe, zu der es aber nicht kam.

Die Faksimiles stammen aus dem betreffenden BND-Vorgang, wobei die Hälfte der Dokumente Fremdstücke sind. Wie bei jedem Band der Reihe sind sie in eine grundsolide und reich annotierte historische Darstellung des Herausgebers, Bodo Hechelhammer, eingebettet. Bei aller Seriosität kann der Leser spätestens bei der doppelseitigen Reproduktion des wunderbar schundigen Filmplakats für “Mr. Dynamit” von 1967 aber ahnen, dass man beim Bundesnachrichtendienst auch über ein gerütteltes Maß an Humor verfügt.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/159

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Vorlagen als Kategorie der Systematischen Aktenkunde

Im neuesten Heft der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte hat Stephan Lehnstaedt einen lesenswerten Artikel zu den 2002 beschlossenen Ghettorenten veröffentlicht. Seine Hauptquellen sind Unterlagen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem vergangenen Jahrzehnt, die er auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes des Bundes einsehen konnte. Der Umgang mit diesen Quellen in den Fußnoten ist handwerklich sauber, weist aber auf eine Fehlstelle in der zeithistorischen Aktenkunde hin: Die Klassierung des behördeninternen Schriftverkehrs.

Worum geht es dabei? Adressierte Schreiben zwischen Korrespondenten, die nicht derselben Organisation angehören, werden üblicherweise in der Form “X an Y, Datum” im Anschluss an die Archivsignatur zitiert; so auch hier. Daneben greift Lehnstaedt aber häufig auf Schriftstücke zurück, die ihm formal als deutlich anderer Typ auffielen und die er (offensichtlich behelfsweise) als Interne Schreiben anspricht, z. B. “Internes Schreiben des BMAS an den Minister, 9.4.2009″ (Anm. 93, willkürlich herausgegriffen). Das lässt schon in verwaltungskundlicher Sicht stutzen: Eine Behörde schreibt an ihren Chef?

Ein Ministerialbeamter hat sofort ein klares Bild von diesem Schriftstücktyp vor Augen, den er als “Vorlage” kennt. Vorlagen sind die Hauptinstrumente der formalisierten Kommunikation zwischen der Arbeits- und der Leitungsebene eines Ministeriums. Sie dienen der Entscheidung oder der Unterrichtung, was in der Regel deutlich vermerkt wird, und sind in ersterem Fall mit einem Votum verbunden (vgl. aus Sicht des Praktikers Beuth 2005: 123).

Sie tragen eine Geschäftsgangsverfügung, die alle zu durchlaufenden Hierarchiestufen bis zum Staatssekretär oder gar Minister aufführt. Jeder dieser Beamten hat die Möglichkeiten, mit dem ihm zugewiesenen Farbstift zu kommentieren, zu streichen oder zu ergänzen – und das sowohl auf dem Weg nach “oben”, zur Beeinflussung der anstehenden Entscheidung, als auch auf dem Rückweg nach “unten”, zur Interpretation und Ausgestaltung der getroffenen Entscheidung. Der knappe Platz bedingt dabei verknappte Äußerungen, die in einem hoch formalisierten Verfahren entstehen und verarbeitet werden. Die Vorlage ist ein recht komplexes Instrument.

Heutige Vorlagen kommen den im Briefstil gehaltenen Behördenschreiben in der Tat recht nahe, seit nämlich die Geschäftsgangsverfügung vom Ende des Kontexts in den Kopf des Schriftstücks gerückt ist, also an die Stelle einer Adresse. Im Auswärtigen Amt geschah dieser Wandel um 1970. Dadurch wird der formengeschichtliche Ursprung der Vorlage verdeckt: der Aktenvermerk. In älteren Vorlagen wird dies deutlicher, schon allein durch die Selbstbezeichnung als “Aufzeichnung”. Hier ein Beispiel der 1950er-Jahre aus dem Auswärtigen Amt (PA AA, B 51-400-405, Bd. 52):

Vorlage 1955

Es handelt sich um eine Vorlage des stellvertretenden Leiters der Wirtschaftsabteilung, Junker, an Bundesaußenminister v. Brentano, auf dem Weg nach “oben” mit Rotstift abgezeichnet (und damit gebilligt) von Staatssekretär Hallstein. Das Votum (Billigung des beigefügten Antwortentwurfs) ist nicht explizit formuliert. Brentanos Billigung wird von der grünen Verfügung “Abschrift an Bu[ndes]wi[rtschafts]mi[nisterium] ebenfalls nur impliziert.

Der Aktenvermerk wird generell zu den immobilen Aufzeichnungen gezählt, die nicht zum Versand an einen Empfänger gedacht sind, sondern zum Festhalten von Wissen zum späteren Gebrauch der aktenführenden Stelle (vgl. Papritz 1959: 340). Nun war es schon in der 19. Jahrhundert üblich, solche Aufzeichnungen mit einem Votum zu versehen und höheren Orts zu vorzulegen. Sie deshalb aber mit Meisner (1969: 198) “besser zu den Berichten (Verkehrsschriftstücken)” zu rechnen, berücksichtigt zum einen nicht genügend die formalen Eigentümlichkeiten des Aktenvermerks, insbesondere die Ersetzung der Adresse durch einen Geschäftsgangsvermerk, der mitunter sogar in den Kontext integriert ist. Zum anderen verwischt die Einordnung in das bekannte Schema von Erlass und Bericht die Urschriftlichkeit als Grundcharakteristikum der Behördenarbeit mit Vorlagen: Auf eine Vorlage folgt eben kein Erlass im Sinne eines separaten oder auch nur aufgesetzten, jedenfalls eigenständigen Schreiben, sondern verschiedene Stellen arbeiten (unter Wahrung der Hierarchie: kollaborativ) an demselben Dokument.

Für die Quellenkritik hat das natürlich weit reichende Konsequenzen. Die präzise Benennung in der Zitation weist nach, dass der Autor den Typ seiner Quelle richtig erkannt hat. Nur kann man für den Bereich der Zeitgeschichte Historikern keinen Vorwurf machen, wenn die Aktenkunde selbst die Besonderheiten des Aktenwesen des 20. und 21. Jahrhunderts bislang nicht wirklich durchdrungen hat.

Literatur:
Beuth, Heinrich W. (2005), Regiert wird schriftlich: Bericht, Weisung und Vorlage, in: Auswärtiges Amt. Diplomatie als Beruf, hrsg. von Enrico Brandt/Christian F. Buck, 4. Aufl., Wiesbaden, S. 119–128.
Meisner, Heinrich Otto (1969), Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig.
Papritz, Johannes (1959), Die Motive der Entstehung archivischen Schriftgutes, in: Mélanges offerts par ses confrères étrangers à Charles Braibant, Brüssel, S. 337–448.

 

 

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/89

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Pofallas Briefkopf – Aktenkunde und zeitgenössische Dokumentenfälschungen

Die Diplomatik, hier verstanden als klassische Urkundenlehre, war zuerst eine praktische Wissenschaft, bevor sie eine Hilfswissenschaft der Geschichtsforschung wurde. Discrimen veri ac falsi, die Entlarvung von Urkundenfälschungen, war in der Frühen Neuzeit eine Kunst von eminentem politischem und staatsrechtlichem Wert.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass die Aktenkunde als jüngere Schwester der Diplomatik diese Entwicklungsstufe übersprungen habe. In der Tat sorgt bereits die Überlieferung im Registraturzusammenhang dafür, dass der Echtheitsbeweis für das einzelne Aktenschriftstück bei der historischen Auswertung kaum je angetreten werden muss. Ganz verloren hat sich diese Aufgabe freilich nicht, und das Instrumentarium ist dafür vorhanden.

Im Februar 2013 berichtete die „Zeit“ über ein angeblich vom Chef des Bundeskanzleramtes, Ronald Pofalla, stammendes Schreiben an die Vorsitzende des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Folgt man dem Wortlaut, so hätte Pofalla massiven Druck auf den Ausschuss ausgeübt. Das Bundeskanzleramt wie die Ausschussvorsitzende bezweifelten umgehend die Echtheit des Stücks, und auch die “Zeit” blieb skeptisch. Es wurde Strafanzeige wegen Urkundenfälschung erstattet.

Die Argumentation gründet zum einen im Registraturzusammenhang (Pofalla sei nach Aktenlage nie mit dem Thema befasst gewesen), zum anderen auf formalen Merkmalen, mit denen wir in den Bereich der Aktenkunde kommen. Auch ohne das Stück zu kennen, lässt sich das discrimen veri ac falsi an diesem Beispiel zeitgeschichtlicher Aktenkunde ansatzweise durchspielen.

Wie also hat muss man sich das Schriftstück anhand des „Zeit“-Berichts vorstellen? Das Layout von Schreiben Oberster Bundesbehörden ist allgemein bekannt: Links oben im Kopf müsste das Signet der Bundesregierung stehen: Ganz links der Bundesadler in der 1997 eingeführten „dynamischen“ Gestaltungsvariante (Laitenberger/Bassier 2000: 13), rechts daneben ein schmaler, schwarz-rot-goldener Balken und wiederum rechts daneben die Behördenfirma, hier also „Bundeskanzleramt“, sofern nicht die personalisierte Variante mit der Amtsbezeichnung „Der Chef des Bundeskanzleramtes“ gewählt wird. Folgt man der „Zeit“, so stand „Bundeskanzleramt“ im Kopf. Während bei normalen Schreiben der obersten Bundesbehörden nur der Name des zeichnenden Bearbeiters genannt wird, gibt es für Schreiben hoher Amtsträger eine Personalisierungsmöglichkeit durch ein Namensfeld am rechten Rand im oberen Seitendrittel. Hier wäre zu erwarten „Ronald Pofalla MdB, Bundesminister“, oder ähnliches.

In jedem Fall firmiert der „ChefBK“ auf dem Kopfbogen seines Amtes selbstverständlich mit dessen Adresse (Willy-Brandt-Str. 1). Das der „Zeit“ zugespielte Schreiben führte, der Berichterstattung zufolge, als Absenderangabe aber das Mitglied des Deutschen Bundestages Pofalla mit seinem Abgeordnetenbüro an (im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages, Platz der Republik 1). Den Praktikern im Bundeskanzleramt ist dieser Fehler natürlich sofort aufgefallen. Um einen zentralen Forschungsbegriff zu verwenden: Das Stück ist offensichtlich nicht kanzleigemäß. Unter der Kanzleimäßigkeit eines Schriftstücks verstehen wir die „Übereinstimmung mit den jeweils aktuellen Normen der ausstellenden Kanzlei“ (Vogtherr 2008: 63).

Wäre Pofalla in seinem Amt als MdB Urheber des Schreibens, so würde dies einen weiteren, augenfälligen Verstoß gegen die Kanzleiregeln implizieren: einen falschen Adler.

Heraldisch gibt es nur „den“ Bundesadler. Die moderne Staatssymbolik weicht insofern von der klassischen Heraldik ab, als dass sie für einzelne Anwendungsbereiche unterschiedliche gestalterische Ausführungen des Wappens bzw. des Wappenbildes vorsieht. Das „Grundmodell“ des Bundesadlers wurde durch eine Bekanntmachung des Bundespräsidenten festgelegt und ist identisch mit dem Weimarer Reichsadler. Für die Ausführung zu amtlichen Zwecken sind „die im Bundesministerium des Innern verwahrten Muster … maßgebend“ (Bundesgesetzblatt 1950 S. 26. Vgl. Hattenhauer 1990: 121 f.). Diese Muster zeigen den 1927 von Tobias Schwab gestalteten Weimarer Reichsadler (Laitenberger/Bassier 2000: Tafel I. Vgl. Hartmann 2008: 501). Die leicht abgewandelte Variante für das heutige Signet unterscheidet sich auf den ersten Blick nur durch das ausgestellte Gefieder, das schon in Heuss’ Bekanntmachung für die Darstellung des Adlers außerhalb des Wappenschilds vorgeschrieben wird (auf der Website des BMI lässt sich der Signet-Adler oben links gut mit dem Adler des Bundeswappens vergleichen).

Während die Bundesbehörden also Schwabs Ausführung verwenden, nutzen der Bundestag und seine Mitglieder als Signet aber eine grafische Umsetzung der 1953 von Ludwig Gies für die Stirnwand des Plenarsaals geschaffenen Adlerplastik – der sogenannten „Fetten Henne“ (Hartmann 2008: 503–505). In einem Schreiben des MdB Pofalla wäre also dieser Parlamentsadler zu erwarten, dessen Kombination mit der Behördenfirma „Bundeskanzleramt“ im selben Kopfbogen nun völlig kanzleiwidrig wäre.

Wenn wir die heraldischen Elemente pragmatisch unter den „weichen“ Regeln der Staatssymbolik der Gegenwart betrachten, so gilt auch für heutige Behördenschreiben mutatis mutandis die Feststellung: „Insgesamt bildet die Heraldik des Schreibens und die Art ihrer Plazierung einen wichtigen Teil jenes ggf. territorial differenzierten Comments, der als ‚Kanzleistil‘ firmiert“ (Kloosterhuis 1999: 499, Preprint: 29).

Natürlich ist dies alles eine Trockenübung. Der Beweis der Fälschung wird über ordnungsgemäß geführte Akten in der Registratur des Bundeskanzleramtes geführt. Aber stellen wir uns vor, im Abstand von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten wäre die amtliche Überlieferung ganz oder teilweise verloren gegangen, durch Katastrophen oder auch nur archivische Bewertung, und unsere ganze Quellengrundlage zu dem Vorfall sei das der „Zeit“ zugespielte Stück, das im Nachlass eines Journalisten überdauert habe. Spätestens müsste jetzt mit aktenkundlicher Methodik die inneren Merkmale des Schriftstücks untersucht werden.

Discrimen veri ac falsi – eine Aufgabe auch der zeitgeschichtlichen Aktenkunde.

 

Literatur

 

Hartmann, Jürgen 2008: Der Bundesadler. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56: 495–509 (Abstract).

Hattenhauer, Hans 1990: Geschichte der deutschen Nationalsymbole. 2. Aufl. München.

Kloosterhuis, Jürgen 1999: Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. In: Archiv für Diplomatik 45: 465–563 (Preprint).

Laitenberger, Birgit/Bassier, Maria 2000: Wappen und Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. 5. Aufl. Köln u. a.

Vogtherr, Thomas 2008: Urkundenlehre: Basiswissen. Hannover.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/38

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