Achtung, Audiophiles Auditorium! Melodien für Polygone

Von der Ludomusikologie

Arno Görgen*, Rudolf Inderst** und Eugen Pfister im Gespräch mit Melanie Fritsch***

 

In einem gediegenen bürgerlichen Salon der 1920er Jahre. Der blaue Dunst von Zigaretten, Pfeifen und Zigarren wabert durch den elegant ausstaffierten Salon und lässt das satte Herrenzimmergrün der gemusterten Wände dort, wo es hinter den dunklen Regalen und der auf Seriosität bedachten Ahnenportraits hervorschimmert, zu einer gedankenvollen Fläche verschwimmen. Während sich in einer Ecke des Raumes auf einem flachen Podest ein Streichquartett ehrlich bemüht und einige Gäste die eigens durch Entmöbelung dafür vorgesehene Tanzfläche im enormen Licht der Kristallleuchter zum Walzen nutzen, gilt das Interesse einer kleinen Gruppe jedoch etwas anderem: Einem mattschwarz gebeizten Schrein mit einer Drehscheibe, der, offenbar etwas verschämt, auf einem Beistelltischchen in eine dunkle Ecke der benachbarten Antichambre geschoben wurde.

MF: Das Neueste vom Neuen, meine Herren, wie kann man einen solchen Schatz in der Ecke verstecken? Sehen Sie nur, es ist sogar elektrisch! [wedelt so aufgeregt mit ihrem Glas, dass ein Teil des offenbar in Schottland zum goldfarbigen Endprodukt gebrannten Inhalts auf den Boden schwappt]

AG: [neigt das Monokel in seiner Hand unmerklich in Richtung des Klangapparates] Verehrteste, dieser neumodische Mumpitz wird niemals obsiegen. Einer Musik die auf solchen Scheiben eingepresst wird, fehlt doch der Raum für die Seele!

[...]

Quelle: http://spielkult.hypotheses.org/1186

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Musik im Fangnetz von Politik und Ideologie – Ein Augenzeugenbericht

In diesem Post geht es ausnahmsweise nicht um die Musik der 1950er Jahre, sondern um ein extremes Beispiel politischer Instrumentalisierung von Musik, wie sie im Kontext des Nationalsozialismus üblich war. Der erinnernde Bericht, den ich hier zitieren möchte, stammt aus dem Jahre 1960. Anlass ist eine Umfrage in der Zeitschrift Melos, bei der es um die (damals aktuelle und mit Ernst diskutierte) Frage geht, ob die musikalische Avantgarde „echt“ oder aber von geldgierigen Managern „gemacht“ sei. Alfred Schlee (1901-1999), Musikwissenschaftler und Musik-Verleger bei der Universal Edition, fühlt sich bei dieser Frage an eine Situation erinnert, die sich in den 1930er Jahren in Wien zutrug. Er berichtet 1960:

Ich hörte sie [die Frage] zum erstenmal, als ich in den dreißiger Jahren, erst kurz in der Universal-Edition tätig, im Auftrag der Direktion, eine politische Versammlung in Wien besuchte. Das Thema hieß „Kulturprogramm“. Der Redner behandelte hauptsächlich die zu beseitigenden Mißstände. Er enthüllte, entlarvte und riß vor allem Emil Hertzka (Anm. d. Red.: damals Direktor der UE) die Maske vom Gesicht. Er wußte nicht nur, wie Hertzka alle damals avantgardistischen Komponisten „machte“, er wußte auch, warum Hertzka es tat. Der Redner war klug genug, vorauszusetzen, daß es unglaubwürdig erscheinen würde, als Triebfeder solchen Managements Geschäftsinteressen anzusehen. Er brachte Beweismaterial, daß Hertzka und sein Verlag als Handlanger des Weltjudentums und der Kommunisten arbeiteten und im Gesamtplan der Ausrottung des Ariertums die deutsche Musik zu vernichten übernommen hätten. Zu diesem Zwecke habe Hertzka einige immerhin talentierte Komponisten um sich geschart und einem jeden Spezialaufträge gegeben. Schönberg: Vernichtung der deutschen Tonkunst durch Beseitigung der Tonalitäten. Berg, „Wozzeck“: Verspottung soldatischen Geistes. Krenek, „Jonny spielt auf“: Triumph der schwarzen über die weiße Rasse. Weill: Nihilismus und Klassenhaß. Schreker: Entmannung der Jugend durch zügellose Sinnlichkeit. Auch Webern wurde genannt. Doch habe dieser, so sagte der Redner, Hertzka verstimmt, weil Webern durch Übersteigerung des Häßlichen sich lächerlich gemacht und dadurch den gewünschten Zersetzungserfolg in Frage gestellt habe. Wir haben damals – wie sich später zeigte fälschlicherweise – viel gelacht, zumal jemand das Gerücht aufbrachte, dieser Redner sei ein von Hertzka abgewiesener Komponist gewesen.1

Da Emil Herztka 1932 starb, ist anzunehmen, dass diese politische Veranstaltung vor 1932 stattfand. Als Augenzeugenbericht (fast 30 Jahre später) sind die Angaben aus wissenschaftlicher Sicht freilich mit Vorsicht zu behandeln. Doch geben sie ein eindrückliches und anschauliches Beispiel dafür, wie Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen von den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde. Außerdem bieten sie einen komprimierten Überblick darüber, was in der nationalsozialistischen Ideologie als „entartete“ Musik galt.

Etwa Arnold Schönberg: Dass er in radikaler Neuerung an die Stelle des Systems der Dur-Moll-Tonalität die Atonalität und Zwölftontechnik setzte, wurde interpretiert als Rückfall in Chaos und Anarchie und als Beispiel für den Verfall der Musik in der Moderne. In der Ablösung der Tonalität, so legt der obige Text nahe, würde Schönberg die deutsche Musik vernichten wollen. Neben dem offenkundigen Antisemitismus mutet dieses Argument absurd an, da Schönberg gerade in bewusster Fortführung der deutsch-österreichischen Musiktradition seine kompositionstechnischen Neuerungen vollzog. Golan Gur wies in seiner Dissertation Orakelnde Musik darauf hin, dass die Ursprünge von Schönbergs Idee des musikalischen Fortschritts nicht in seinem jüdischen Erbe, sondern in der deutschen Geistesgeschichte zu suchen sind.2

Alban Berg war zwar nicht jüdischer Abstammung, dennoch galt seine Musik als entartet und er als Bolschewist. „Kulturbolschewismus“ war ein Begriff, hinter dem sich u.a. die Angst vor der Moderne äußerte, und den sich die Nazis als Kampfwort und Feindbild zunutze machten. Die Abgrenzung des Bolschewistischen vom Jüdischen war dabei nicht immer klar. Insbesondere Bergs Wozzeck wurde als entartet angesehen: Die Oper, die noch in der Weimarer Republik große Erfolge feierte, erzählt die Geschichte der an seinen Lebensumständen gebrochenen Figur des Soldaten Wozzeck und verbindet klassische Formen und Satztechniken mit Atonalität.

Ernst Kreneks (Zeit-) Oper Jonny spielt auf gehörte zu den erfolgreichsten Opern der 1920er Jahre. Im NS-Staat galt sie dann als prominentes Beispiel für entartete Kunst und war auch auf der Begleitbroschüre zur Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf 1938 abgebildet (siehe Abbildung). Im Falle Kreneks zielte der Rassismus nicht auf seine (österreichische) Herkunft, sondern auf die Jazzelemente, die er in seiner Musik verwendete und die Handlung der Oper, die sich um einen afroamerikanischen Musiker dreht. Auch hier wurde in der Kunst eine Bedrohung gesichtet: Amerika vs. Europa, schwarz vs. weiß, Jazz vs. deutsche Musik.

 

Kurt Weill ist insbesondere bekannt für seine Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht. Dabei entstand unter anderem die Dreigroschenoper, die sich durch ihre eingängigen Songs (statt Arien) mit gesellschaftskritischem Impetus (Stichwort: Verfremdungseffekt) auszeichnet. Für die Nazis ein eindeutiger Fall von Kulturbolschewismus und damit Entartung. – Die Musik Franz Schrekers wurde aufgrund seiner jüdischen Abstammung verboten, darüber hinaus wurde ihr vorgeworfen, in ihrer gesteigerten Sinnlichkeit einen schlechten Einfluss auf die Menschen auszuüben.

„Vernichtung“, „Verspottung“, „Nihilismus“, „Entmannung“ – all dies seien Gefahren, die von der entarteten Musik ausgehen. Und mehr noch: Es seien Aufträge, welche die Komponisten von dem jüdischen Verlagsleiter Hertzka erhielten, um die deutsche Musik zu zerstören und Judentum und Kommunismus in der Welt zu verbreiten. Dass die Opern von Berg, Weill und Krenek jeweils individuelle Antworten darstellen auf die Herausforderung, der Oper im 20. Jahrhundert eine zeitgemäße Form zu verleihen, hat freilich keinen Platz in diesen, nur Propaganda-Zwecken folgenden Ausführungen.

Aus meiner heutigen Perspektive finde ich es erschreckend zu sehen, wie Musikgeschichte hier selektiv, einseitig-ideologisch, ausgerichtet auf politische Funktionalisierung, und – so muss ich doch sagen – äußerst plump gedeutet wurde. Diese Interpretation wäre, wie Schlee erwähnt, eigentlich ein Grund zum (Aus-) Lachen, wenn sie nicht zur traurigen Wirklichkeit der nationalsozialistischen Kulturpolitik gehörte.

Was bedeutet es nun, dass Schlee im Kontext der Melos-Umfrage auf die Verfemung Neuer Musik durch die Nazis verweist? Damit möchte er wohl zeigen, dass der Vorwurf, die musikalische Avantgarde sei eine lukrative Modeerscheinung und durch Musik-Manager (gemeint: Rundfunk-Redakteure, Festivalleiter u.a.) gesteuert, nicht auf eine rationale Argumentation, sondern auf ähnliche ideologische Motivationen zurückzuführen sei wie die repressive und zerstörerische Kulturpolitik im NS-Staat. Die verbale Auseinandersetzung für und gegen die zeitgenössische Musik wurde in den 1950er Jahren – so zeigt sich mir fast täglich in meiner Quellenarbeit – mit starken Geschützen gefochten.

 

1Alfred Schlee, „Die Frage ist nicht neu“, in: Melos 27 (1960), S. 181.

2Golan Gur, „Orakelnde Musik. Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde, Kassel 2013 (Musiksoziologie, 18), S. 149.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/193

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Gerade gelesen: “Orakelnde Musik. Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde” von Golan Gur

Die Fortschrittsidee sei deshalb so wirkmächtig, schreibt Golan Gur, weil sie das Verstehen der Vergangenheit mit dem Vorhersagen der Zukunft verbindet. So nennt der Musikwissenschaftler seine Dissertation auch „Orakelnde Musik“ in Anspielung auf Karl Popper, der in seiner kritischen Betrachtung der Geschichtsphilosophien von Hegel und Marx von einer orakelnden Philosophie spricht. In seiner 2013 in der Reihe „Musiksoziologie“ veröffentlichten Studie möchte Gur zeigen, „wie die Kategorie des Fortschritts als Quelle der künstlerischen Motivation und Legitimation im musikalischen Denken einer von Richard Wagner bis Pierre Boulez gefassten Moderne insgesamt Bedeutung erlangt hat.“1 Im Mittelpunkt steht dabei die Fortschrittsidee, wie sie in den musikästhetischen Schriften Arnold Schönbergs ausgeprägt ist. Auch ihren geistes- und ideengeschichtlichen Hintergründen gibt der Autor viel Raum: So liest sich seine Arbeit letztlich wie eine historische Abhandlung über den Fortschrittsgedanken in der Musik, orientiert an und zentriert um Arnold Schönberg. Dabei setzt Gur die Idee eines musikalischen Fortschritts nie als gegeben voraus, sondern unterzieht sie stets einer kritischen Prüfung.

Im ersten Kapitel („Modernismus, historische Erzählungen und ästhetische Ideologien“) werden einleitende, allgemeine Gedanken zum Fortschrittsbegriff in der Moderne vorausgeschickt. Besonders wichtig ist Gur der Zusammenhang zwischen Fortschritt und Historizismus, also einer Sichtweise, nach der die Geschichte allgemeinen Gesetzen unterworfen ist, die ihren Verlauf voraussagbar machen. Mit diesem von Popper geprägten Begriff betont Gur das ideologische Moment der Fortschrittsidee: Was sich als allgemeine Gesetzmäßigkeit darstellt, ist vielmehr eine selektive Interpretation der Geschichte. „Fortschritt“ fasst er auf als ein Narrativ, mit dem Musikgeschichte erzählt wird bzw. werden kann. Damit sind Fortschritt und (Musik-) Historiographie eng verzahnt.

So richtet er seinen Blick in den Kapiteln 2 („Der Fortschrittsbegriff im musikalischen Denken“) und 3 („Musik und Fortschrittsideologien des 19. Jahrhunderts“) nicht nur auf die Entstehung des modernen Fortschrittsbegriffs, sondern auch auf die Entwicklung der Musikgeschichtsschreibung. Ist in der Antike ein zyklisches Geschichtsbild verbreitet, und wird Fortschritt in der Renaissance noch als Rückgriff auf Vergangenheit verstanden, so stellt sich dann im 18. Jahrhundert die Musik als ein Ort dar, an dem sich der Fortschritt der Menschheit vollzieht. Dabei spannt Gur einen Bogen von der Ars nova über die Querelle des Anciens et des Modernes bis ins 19. Jahrhundert und weist glaubwürdig nach, wie sich hier langsam ein neues Geschichtsbewusstsein entwickelt und wie dies nach und nach auch für die ästhetischen Überlegungen von Komponisten bedeutsam wird. Im 19. Jahrhundert sind es das geschichtsphilosophische Modell Hegels sowie die darwinistische Idee einer evolutionären Entwicklung von Kunst, die das Verständnis des musikalischen Fortschritts zentral prägten.

Für mich war es hier besonders spannend zu lesen, wie der Autor die frühe Musikwissenschaft um die Jahrhundertwende in diesem ideengeschichtlichen Kontext positioniert. Er zeigt, dass die Musikwissenschaft nicht nur in der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts verwurzelt ist, sondern auch evolutionistische Ideen aufgenommen hat. Guido Adler, der als ein Gründungsvater der akademischen Musikwissenschaft gilt, hat von seinem Lehrer Eduard Hanslick („Vom Musikalisch-Schönen“, 1854) die Einstellung übernommen, ein Kunstwerk lasse sich objektiv nur unter formalen Gesichtspunkten (Stil etc.) analysieren, während kontextbezogene (kulturelle, soziale, politische etc.) Aspekte nicht ins Gewicht fallen. Beeinflusst durch die evolutionistische Theorie von Herbert Spencer entwickelte er darüber hinaus die Idee, dass die Musikgeschichte nach bestimmten (eigenen) Gesetzen verlaufe, nämlich in Hinblick auf eine zunehmende Komplexität der Kompositionen. – Ist nicht auch heute noch innerhalb des Faches die Meinung weit verbreitet, dass nur aus der musikalischen Analyse sicheres Wissen über Musik resultiere? Und wie oft wird das Bild einer natürlichen, vielleicht sogar notwendig verlaufenden Entwicklung gezeichnet, die von Bach über Beethoven bis zu Schönberg reicht? Mir scheinen diese ästhetischen und geschichtsphilosophischen Annahmen tief in der Disziplin der historischen Musikwissenschaft verwurzelt zu sein. Eine Thematisierung und kritische Auseinandersetzung mit diesen Ursprüngen sollten unbedingt in die Curricula aufgenommen werden!

In Kapitel 4 („Schönberg und der ‚Fortschritt‘ der Musik“) geht es dann um Schönbergs Konzeption des musikalischen Fortschritts. Schönberg geht von einer organischen Entwicklung der Musik aus, die sich in der harmonischen Emanzipation äußert: Die immer freiere Verwendung von Dissonanzen bis hin zur Auflösung der Tonalität stellt für ihn eine historische Notwendigkeit dar. Schönberg, die diese Auflösung in der Zwölftonmusik vollzieht, inszeniert sich damit als (der) Komponist, der die abendländische Musiktradition fortführt. Gur verweist hier nochmals auf Poppers Begriff des Historizismus, um Schönbergs Deutung der Musikgeschichte und seinen Anspruch auf den (alleinigen) Fortschritt zu problematisieren. Schönbergs Fortschrittsidee ist aber bei weitem nicht bloß ein theoretisches Konstrukt, so lautet eine von Gurs Thesen, sondern sie steht in Wechselwirkung mit seinem kompositorischen Schaffen. Für ein umfassendes Verständnis seiner musiktheoretischen Schriften sowie seiner Kompositionen ist die Idee des Fortschritts also unerlässlich. Von Schönberg und vielen seiner Zeitgenossen wurde Fortschritt als selbstverständlich vorausgesetzt. So heißt es in der vorliegenden Studie: „Für Schönberg, wie für viele andere moderne Komponisten, war der Fortschrittsglaube fester Bestandteil einer Werteordnung, ohne welche die Kunst nicht ein wahrhaftiges Unterfangen von Bedeutung sein konnte.“2

Schönbergs Konzept von Fortschritt, so Gur, hatte großen Einfluss auf das Denken über Musik im 20. Jahrhundert, insbesondere auf die Musikphilosophie Theodor W. Adornos. Dabei zeichnet er nach, wie Schönbergs Ideen durch die Emigration seiner Schüler und Anhänger nach 1933 in andere Länder (USA, England, Frankreich) Einzug fanden. Im letzten Kapitel („Die Avantgarde und der Weg zum Pluralismus“) gibt der Autor einen Ausblick darauf, wie musikalischer Fortschritt nach 1945 konzipiert wird, besonders im Kontext der europäischen Avantgarde und sozialistisch geprägten Staaten.

In seinen Überlegungen zum modernen Fortschrittsbegriff betont Gur das ausgeprägte Geschichtsbewusstsein der Moderne sowie das Bedürfnis der Komponisten, ihren eigenen Standort in der Geschichte zu reflektieren. Darüber hinaus stellt er die These auf, dass der Begriff des Fortschritts – auch bei Schönberg – nie einheitlich verwendet wurde: Vielmehr gibt es eine Bandbreite an Facetten und Bedeutungen. Das sehe ich im Übrigen genauso: In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich für die 1950er Jahre das reiche Spektrum an Positionen zum musikalischen Fortschritt, die auf ganz unterschiedliche Traditionen zurückgeführt werden können.

Zur Bedeutung der Fortschrittsidee in der Musik schreibt Gur: „Fortschritt wurde dadurch zur Realität, dass Komponisten und Musiker dieses Konzept rezipierten und in ihre künstlerischen Entscheidungen und Präferenzen integrierten.“3 Auch wenn die Idee des Fortschritts als historizistisch oder als ideologisch entlarvt wird, so ist sie doch eine zentrale Idee, die noch bis heute in vielen Bereichen des Lebens wirkt – als Legitimation und Orientierung. Das macht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr so spannend und wichtig!

Musikwissenschaftler, die sich für die Ästhetik und Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts interessieren, können sich in „Orakelnde Musik“ über die kritische Besprechung vieler Quellen freuen. Auch über die Grenzen der Musikwissenschaft hinaus ist dieses Buch erkenntnisreich für jeden, der sich mit der Fortschrittsidee und ihren Ausprägungen im Laufe der abendländischen Geschichte beschäftigen möchte.

1Golan Gur, Orakelnde Musik. Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde, Kassel 2013 (Musiksoziologie, 18), S. 15.

2Ebd., S. 124.

3Ebd., S. 103.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/124

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Kuriositäten aus den 1950er Jahren: Die Leugnung der Zwölftontechnik

Bei meiner Beschäftigung mit Quellen aus dem musikästhetischen Diskurs der Nachkriegszeit stoße ich immer wieder auf Texte, die mir aus heutiger Perspektive sonderbar erscheinen. Sonderbar, weil etwas angezweifelt wird, das heute als selbstverständlich gilt. So war ich überrascht zu lesen, wie Heinrich Schnippering in der Zeitschrift Melos im Jahre 1950 die These aufstellt, dass es die Zwölftontechnik gar nicht gebe und dass sie im Grunde nur die vereinfachte Notation einer chromatisch gesteigerten Musik sei, die in der Tradition der Romantik stehe. Es mag verwundern, dass diese Aussage aus dem Jahre 1950 stammt, also knapp 30 Jahre, nachdem Schönberg seine ersten zwölftönigen Stücke schrieb. Das liegt daran, dass Zwölftonkompositionen als vermeintlich „entartete Musik“ während der Nazi-Diktatur von der Bildfläche der deutschen Musikszene verschwanden und erst nach 1945 wieder zu einem aktuellen Thema wurden: Auf der Suche nach Orientierung und neuen Vorbildern nach dem Zweiten Weltkrieg galt das Komponieren mit Zwölftonreihen als möglicher Anknüpfungspunkt, da es – im Gegensatz zur deutsch-österreichischen romantischen Musiktradition – als politisch unbelastet angesehen wurde.

In seinem Aufsatz Von der Logik der Zwölftonmusik geht Schnippering der Frage nach, ob die Zwölftonmusik mit einer Vereinfachung der Notation zusammenhängt. Hier zunächst ein kurzes Beispiel für eine solche Vereinfachung: Ein Komponist schreibt die Note c statt des von ihm gemeinten his, d.h. er nimmt eine sogenannte enharmonische Verwechslung vor, um den Notentext besser lesbar zu machen. Um nun einen Zusammenhang zwischen Zwölftonmusik und Notationsart nachzuweisen, macht sich Schnippering folgende Lesart der Musikgeschichte zunutze: Die Musik habe im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer mehr an Chromatik zugenommen – zur Intensivierung und Steigerung des Ausdrucks. Als das „Gefühl“ nachließ, ein tonales Zentrum haben zu müssen, wurde es möglich, sich einer praktischen Notationsweise zu bedienen, „ohne sich in der freizügigsten Vermischung enharmonischer Töne Beschränkungen auferlegen zu müssen.“1 Diese Freiheit, enharmonische Töne nach Belieben zu setzen, habe letztlich zur Atonalität und Zwölftonmusik geführt.

„In Wirklichkeit“, so schreibt Schnippering, „lebt auch die Zwölftonmusik von der durch die romantische Musik erzeugten Spannungschromatik. Lediglich die Notierungsweise verschleiert diese latente Spannungsintensität, die beim Hören unverkennbar in die Erscheinung tritt.“2 Denn auch die Hörerfahrung von dodekaphonen Werken zeige, „daß praktisch zwar tonale Kadenzen vermieden, gleichwohl die Klangmöglichkeiten der romantischen Musik weitgehend genutzt werden. […] Aus alledem erhellt, daß die Zwölftonmusik nur theoretisch die Zwölftonskala als Grundlage verficht, praktisch jedoch der romantischen Klangwelt verhaftet bleibt.“3 Schließlich gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass sich bei (noch ausstehender) genauerer Prüfung zeigen könnte, „dass es eine Zwölftonmusik praktisch gar nicht gibt und nicht geben kann.“4

Ist die Zwölftontechnik also lediglich eine andere Notation chromatisch gesteigerter Musik in romantischer Tradition, die – zwar ohne tonales Zentrum – letztlich noch der Dur-Moll-Tonalität verhaftet bleibt? Was hätte Arnold Schönberg auf diese Behauptung erwidert? (Nach seiner Emigration lebte er in den USA und starb 1951.) Nun, Schönberg verstand seine „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ als einen radikalen Wandel in der Kompositionstechnik. Für ihn stellt sie eine Kompositionsmethode dar, die die Tonalität ersetzt. In seinem 1950 auf Englisch veröffentlichten Aufsatz Komposition mit zwölf Tönen beschreibt er sie wie folgt: „Diese Methode besteht in erster Linie aus der ständigen und ausschließlichen Verwendung einer Reihe von zwölf verschiedenen Tönen. Das bedeutet natürlich, daß kein Ton innerhalb der Serie wiederholt wird und daß sie alle zwölf Töne der chromatischen Skala benutzt, obwohl in anderer Reihenfolge. Sie ist in keiner Weise mit der chromatischen Skala identisch.“5 Die Reihe, so Schönberg weiter, fungiere nicht nur als eine Art von Motiv, sondern sie bestimme die horizontale (Tonfolge) und vertikale Ordnung (Akkorde) der Töne. Damit löse sie die Dur-Moll-Tonalität in ihrer ordnenden und einheitsstiftenden Funktion ab.

Schönbergs Auffassung ist klar: Die Zwölftontechnik zeigt keinen Wandel der Notation an, sondern einen radikalen Bruch in der Kompositionstechnik. – Ist es denn vorstellbar, dass eine Zwölftonreihe bloß eine enharmonische Verwechslung einer chromatisch spannungs-vollen (tonalen) Tonfolge ist? An dieser Stelle schlage ich ein kleines Experiment vor: Schauen wir uns die Reihe aus Anton Weberns Symphonie op. 21 an, zunächst in Originalgestalt (Beispiel 1), dann enharmonisch verwechselt und tonal gedeutet (Beispiel 2).

Eine tonale Deutung der Reihe ist zwar möglich, aber nicht sinnvoll: Die enharmonisch verwechselte Reihe hat kaum etwas mit Weberns Symphonie op. 21 zu tun. Zentrale Eigenschaft der Reihe ist ihre symmetrische Struktur (Töne 7 – 12 enthalten die gleichen Intervallschritte wie  Töne 1 – 6 im Krebs), nicht tonal gedachte chromatische Spannung. Schnipperings Deutung der Zwölftontechnik als Zuspitzung romantischer Musik ist problematisch: Er versucht die Zwölftonmusik mit Begriffen zu fassen, die genuin zur Beschreibung der Musik der klassisch-romantischen Tradition geprägt wurden. Solchen unzeitgemäßen Zuschreibungen begegnet man häufig in Interpretationen der Musikgeschichte: etwa, wenn der berühmte Tristanakkord in Wagners gleichnamiger Oper als atonal bezeichnet wird oder ein barockes Fugenthema, das alle 12 Töne der chromatischen Skala enthält, als zwölftönig. Ob dahinter das Bedürfnis des Historikers steckt, Geschichte als einheitliche kontinuierliche Entwicklung zu begreifen?

Dennoch sind Schnipperings Ausführungen nicht völlig zu verwerfen. Seine Beobachtung, dass die Zwölftonmusik teilweise in der romantischen Klangwelt wurzelt, ist durchaus berechtigt. Schönberg hat zwar mit der Tonalität gebrochen, nicht aber mit der romantischen Expressivität und den Ideen von Genieästhetik und autonomem Kunstwerk. Dass sich in Schönbergs Musik Überreste der romantischen Ausdrucksästhetik finden, ist genau das, was ihm viele Avantgarde-Komponisten der Nachkriegszeit vorwerfen und was Pierre Boulez 1951 zu der symbolträchtigen Aussage führte: „Schönberg est mort.“

1Heinrich Schnippering, „Von der Logik der Zwölftonmusik“, in: Melos 17 (1950), S. 313.

2Ebd.

3Ebd., S. 314.

4Ebd.

5Arnold Schönberg, Stil und Gedanke, Frankfurt am Main 1995, S. 109f.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/102

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