Kloster und Wissen. Einige Thesen zur Diagrammatik der Philosophia mundi.

 

Zu Beginn des Jahres wurde eine deutlich erweiterte Fassung meiner Masterarbeit veröffentlicht, die mittlerweile auch online über den Freiburger Dokumentenserver zugänglich ist.1 In dieser Arbeit habe ich mich mit der so genannten Arnsteinbibel, London BL Harley 2798 und Harley 2799 beschäftigt.

“Das […] Buch behandelt die monastische Wissenskultur des hohen Mittelalters und basiert auf einer mit dem Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences (2013) ausgezeichneten Qualifikationsschrift des Autors. Anhand wissenschaftlicher Diagramme der so genannten Arnsteinbibel (British Library Harley 2799) werden die lebensweltlichen Bedingungen von Wissen im Prämonstratenserstift Arnstein a.d. Lahn im frühen 13. Jahrhundert untersucht. Dabei eröffnet sich dem modernen Betrachter ein ungewohnter, genuin mittelalterlicher Zugang zu naturwissenschaftlichem Wissen, das in Arnstein eine spirituelle und liturgische Dimension erhielt.“2

Harley 2799, fol. 166r (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

In dieser Arbeit vertrete ich unter anderem die These, dass der Diagrammzyklus in Harley 2799 größtenteils auf der Philosophia mundi Wilhelm von Conches basiert.

Harley 2799, fol, 242r. (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

Ich interpretiere die drei Diagramme auf folio 242r der Bibel als diagrammatische Synthese einer komplexen Stelle im zweiten Buch der Philosophia, in der die Beziehung zwischen dem Kosmos (vor allem dem jeweiligen Stand der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten) und dem menschlichen Körper beschrieben wird. Diese inhaltliche Interdependenz zwischen den astronomischen und medizinischen Phänomenen entspricht einer didaktischen Interdependenz zwischen den drei Diagrammen.3

Diese These scheint mir inhaltlich überzeugend, sie war in zweierlei Hinsicht aber nicht unproblematisch: Zum einen bezeugt der überlieferte mittelalterliche Katalog der Abtei4 keinen Eintrag, der sich eindeutig auf das Werk des nordfranzösischen Magisters beziehen ließe; und zum anderen konnte ich bislang keine entsprechenden Diagramme in der Überlieferung des zweiten Buches der Philosophia mundi ausfindig machen.

Erst nach Fertigstellung des Manuskripts der Arbeit konnten mit freundlicher Hilfe von Prof. Dr. Paul Dutton mittlerweile drei Handschriften gefunden werden, die zur Illustration der Textstelle auf eine ähnliche diagrammatische Formensprache wie die Arnsteinbibel zurückgreifen: Paris BNF Lat. 6560, Paris BNF Lat. 11130 sowie Zürich Car. C. 137 (299 Mohlberg).

Die beiden Pariser Handschriften sind mittlerweile (leider ebenfalls erst nach Abschluss des Manuskripts) online konsultierbar, bislang allerdings völlig unzureichend und fehlerhaft beschrieben.

Alle drei Handschriften stammen vermutlich aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die genaue Herkunft ist bislang nicht bekannt. Sie stellen neben der Arnsteinbibel die einzigen bekannten Zeugnisse dieser diagrammatischen Tradition dar. Während Lat. 11130 und Car. C. 137 die Zusammenhänge im Text ähnlich der Arnsteinbibel mit mehreren (zwei) Diagrammen illustrieren, sind die entsprechenden Elemente in Lat. 6560 in einem Diagramm zusammengefasst.

Paris BNF lat. 11130, fol. 47v und 48r.
Paris BNF lat. 6560, fol. 53r.

Diese neue Überlieferungslage stärkt die im Buch vertretene These, die Abtei habe tatsächlich eine Abschrift der Philosophia mundi besessen, die als Vorlage des Diagrammzyklus zu sehen ist.5

In seinem Standardwerk Album of Science hat sich John Murdoch 1984 wie folgt zur Erforschung der diagrammatischen Produktion geäußert:

„Our knowledge of how manuscript illustrations were produced is infinitely more complete in the case of the well known artistic miniatures of illuminated medieval manuscripts than in that of the scientific illustration or diagram.”6

Ich möchte an dieser Stelle vorsichtig die Vermutung äußern, dass die nunmehr vier Zeugen der Diagrammtradition einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieser Produktion ermöglichen und hierzu einige knappe Thesen skizzieren:

Die vier Zeugen lassen sich im Hinblick auf ihre Komplexität sortieren: Das eine Ende der Tradition bildet die Arnsteinbibel, die den Zusammenhang zwischen Kosmos und Körper mit drei Diagrammen darstellt. Lat. 6560 steht am anderen Ende, da es den gleichen Sachverhalt in einem einzigen Diagramm vereint (auch wenn auf der Folgeseite das Verhältnis der Elemente erneut dargestellt wird). Lat. 11130 und Car. C. 137 nehmen mit zwei Diagrammen eine Mittelstellung ein.

Es ist dabei verlockend, über diese unterschiedliche Komplexität auf verschiedene Phasen der Entwicklung dieser Diagramme zu schließen. Da der Arnsteinbibel wichtige gestalterische Elemente fehlen, die den anderen Handschriften gemein sind (hier sind vor allem die versetzte Anordnung der Sternzeichen sowie die doppelwandigen Halbkreise mit den Himmelsrichtungen und den Jahreszeiten zu nennen), scheint es wahrscheinlich, dass die Bibel einer früheren Entwicklungsstufe der Tradition entspricht. Lat. 6550 wäre in dieser Lesart der Endpunkt dieser Entwicklung.

In diesem Fall böte sich hier ein aufschlussreicher Einblick in die Entstehung dieser diagrammatischen Traditionen:

Eine ursprünglich diagrammfreie Fassung des zweiten Buches der Philosophia wurde vermutlich zur Klärung des komplizierten Textes mit Illustrationen versehen, die die wesentlichen Elemente der Textstelle verdeutlichen. Der Urheber dieser Abbildungen bediente sich dabei des klassischen bekannten Formenrepertoirs und war bemüht, die sehr unterschiedlichen thematischen Felder des Textes zu isolieren, gleichzeitig aber auch ihre Beziehung deutlich zu machen. Diese graphische Umsetzung besticht durch ihre Einfachheit, hat aber auch eine entscheidende Schwäche: Man muss erst erkennen, dass die drei Diagramme aufeinander zu beziehen sind, damit die Abbildungen ihren Sinn entfalten können.

Diesem Umstand trägt die zweite Entstehungsstufe in Lat. 11130 und Car. C. 137 Rechnung. Hier wird D2, also der Lauf der Sonne durch die Jahreszeiten, in die graphisch reduzierte Abbildung des Kosmos integriert und dem Schema der Elemente gegenüberstellt. So wird ein besseres Verständnis gewährleistet; die Diagramme verlieren dadurch aber auch an Bildlichkeit und werden abstrakter.

Lat. 6560 könnte nun den letzten Schritt in dieser Entwicklung darstellen. Die Elemente wurden auf ein stark abstrahierendes Diagramm reduziert. Die ursprünglichen klassischen Formen sind in einem neuen Diagramm aufgegangen.

Diese Beobachtungen – sollten sie sich erhärten lassen – legen den Schluss nahe, dass hochmittelalterliche  Diagramme nicht einfach aus dem Nichts geschaffen werden konnten, sondern zunächst aus dem überlieferten Formenspektrum schöpfen mussten. Damit bestätigt sich die Vermutung von Ramírez-Weaver:

“The creator of a diagram, even a new one […] was restricted by standard techniques of visualization […] medieval preferences for the formal arrangements
of charted information (like rotae), and a relatively straightforward adherence to well-known ›facts‹ […].”7

Einmal etabliert werden diese Diagramme dann zunehmend abstrahiert und in ein einzelnes Diagramm integriert.

Diese Überlegungen sind sicherlich noch sehr vorläufig und bedürfen eingehender Prüfung. Rätselhaft ist zum Beispiel das plötzliche Verschwinden dieser diagrammatischen Tradition mit Lat. 6560 ab dem 13. Jahrhundert. Die drei Handschriften der Philosophia, Car. C. 137, Lat. 11130 und Lat. 6560, scheinen auf jeden Fall in einer Beziehung zueinander und zur Arnsteinbibel zu stehen, die näher zu untersuchen sich sicherlich lohnen würde.8

  1. Schonhardt, Michael: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. (Reihe Septem, 2) Freiburg 2014.
  2. Kurzbeschreibung auf Freidok.
  3. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 58-61.
  4. Ediert in Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890, S. 293-298.
  5. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 98-100.
  6. Murdoch, John: Album of Science, Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 15.
  7. Ramírez-Weaver, Eric: Creative Cosmologies in Late Gothic Bohemia: Illuminated Diagrams and Memory Tools for the Court of Wenceslas IV, in: Manuscripta Bd. 54 (2010), S. 21–48, hier S. 31.
  8. Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht sicherlich von der geplanten Edition der Philosophia durch Paul Edward Dutton im CCCM zu erwarten.

 

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/228

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Geschichte von Klöstern und Orden #OpenAccess (5)

In dieser Rubrik werden Bücher und Artikel, die sich mit der Geschichte von Klöstern und Orden beschäftigen und die nun (auch) online – und zwar Open Access – zur Verfügung stehen, aufgeführt. Das soll auch als Anreiz verstanden werden.    Alle hier aufgeführten Titel wurden auch in die kollaborative Bibliographie bei Zotero eingetragen.  (Mehr Informationen zur Ordensgeschichte bei Zotero: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4479)  Der Link zum Ordner “OpenAccess”: https://www.zotero.org/groups/ordensgeschichte/items/collectionKey/N8MKDN8J Der RSS-Feed des Ordners “OpenAccess”:  https://api.zotero.org/groups/148107/collections/N8MKDN8J/items/top?start=0&limit=25     Binder, G.: Geschichte der bayerischen Birgitten-Klöster, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4741

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Geschichte von Klöstern und Orden #OpenAccess (5)

In dieser Rubrik werden Bücher und Artikel, die sich mit der Geschichte von Klöstern und Orden beschäftigen und die nun (auch) online – und zwar Open Access – zur Verfügung stehen, aufgeführt. Das soll auch als Anreiz verstanden werden.    Alle hier aufgeführten Titel wurden auch in die kollaborative Bibliographie bei Zotero eingetragen.  (Mehr Informationen zur Ordensgeschichte bei Zotero: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4479)  Der Link zum Ordner “OpenAccess”: https://www.zotero.org/groups/ordensgeschichte/items/collectionKey/N8MKDN8J Der RSS-Feed des Ordners “OpenAccess”:  https://api.zotero.org/groups/148107/collections/N8MKDN8J/items/top?start=0&limit=25     Binder, G.: Geschichte der bayerischen Birgitten-Klöster, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4741

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Der mittelalterliche Bibliothekskatalog als Quelle

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Nachdem an dieser Stelle bereits auf die von mir genutzten Hilfsmittel im Bereich der mittelalterlichen Bibliothekskataloge hingewiesen wurde, möchte ich mich heute mit der ein wenig mit der Quelle selbst beschäftigen: Welche Fragen lassen sich mit ihrer Hilfe beantworten, welche spezifischen Gefahren muss man umschiffen und mit welchen Ergebnissen kann man rechnen? Abschließende Antworten auf diese Fragen habe ich (noch) nicht, dieser Artikel dreht sich daher eher um die Probleme, die ich bislang ausgemacht habe. Wie immer giere ich nach Kritik und Hinweisen.  

Es geht heute also um mittelalterliche Bibliothekskataloge aus dem deutschsprachigen Raum vor 1300. Diese Einschränkung ist sicherlich wichtig. Gerade  im späten Mittelalter setzen sich einige Entwicklungen in Gang, die, würde man sie weiterverfolgen, langsam aber sicher auf den modernen Bibliothekskatalog zusteuern, wie wir ihn heute kennen. Dieser Prozess führt langsam aber sicher zu Katalogen, die zunehmend

  • systematischer
  • standardisierter
  • umfassender im Sinne der Bestandserfassung
  • umfassender im Sinne der Beschreibung
  • besser zu durchsuchen

sind und in der Regel von professionellen Institutionen verwaltet werden. Im (frühen und hohen) Mittelalter, also vor diesen Entwicklungen, haben wir es aber mit Katalogen zu tun, die ganz anderen Bedürfnissen und einer ganz anderen Buch- und Bibliothekskultur verpflichtet waren. Einen tollen Einblick in diese Kultur bietet  dieses Video von Richard Gameson von der Universität Durham auf youtube. Ich beschränke mich hier auf den Hinweis, dass man mittelalterlichen Katalogen mit einem gewissen Sinn für ihre Andersartigkeit begegnen muss.

Um diese Andersartigkeit etwas näher zu bringen, möchte ich kurz (okay, das ist wohl gelogen) den hochmittelalterlichen Bibliothekskatalog des Prämonstratenserstifts Arnstein an der Lahn vorstellen. Zur Geschichte des Stifts, der Bibliothek und den überlieferten Handschriften hat Bruno Krings eine sehr umfangreiche Studie vorgelegt, die unten aufgeführten Literatur zu entnehmen ist.

Wie in allen mittelalterlichen Klöstern gab es in Arnstein im Prinzip drei getrennte Buchbestände, für die unterschiedliche Personen zuständig waren. Daher wurden auch meistens getrennte Listen geführt. Es gab die

  • liturgischen Bücher in der Sakristei unter dem Cantor,
  • die Schulbücher in der schule unter dem Schulmeister,
  • die Bücher für die lectio der Mönche in der eigentlichen Bibliothek unter dem Bibliothekar

Der Arnsteiner Katalog deckt lediglich die beiden letzten Bereiche ab, also die Gesamtbibliothek sowie den Schulbuchbestand. Drei Listen sind es, die zwischen 1200 und 1220 in eine Handschrift eingetragen wurden. Leider wurde gerade dieser Abschnitt nicht durch die British Library digitalisiert, da (anscheinend) langweilig (Was die Digitalisierung der BL betrifft, da kann man manchmal eh nur noch den Kopf schütteln). Zum Glück liegt eine ganz gute Edition durch Gottlieb vor, in die man jetzt zwei Minuten reinschauen könnte (nicht schummeln, auch in die Einleitung!).

Zunächst ein paar Gedanken zum großen Gesamtkatalog der Bibliothek: Der Katalog wurde durch Gottlieb zwar als Liste ediert, seiner Einleitung kann man aber entnehmen, dass dies nicht dem tatsächlichen Layout entspricht. Eigentlich ist der Katalog durch sechs Arkaden gegliedert, die einer bestimmten, typisch mittelalterlichen Systematik folgen. Nicht nach Sachgruppen, dem Alphabet, der Größe oder sonstigen Kriterien, sondern hierarchisch in die biblischen Schriften und besonders wichtiger Autoren oder vielleicht besser Autoritäten.

In der jeweiligen Arkade werden dann die vorlegenden Werke dieses Autors genannt – zumindest in der Theorie. Tatsächlich konnte dieses Prinzip in Arnstein nicht mal im Ansatz durchgezogen werden, da es schlicht nicht dem realen Bestand der Bibliothek entsprach. In die freien Räume wurden recht wahllos andere Titel eingetragen. Einen Rückschluss auf die tatsächliche Anordnung der Bibliothek lässt dieser Katalog oder vielleicht besser: dieses Inventar also nicht zu.

Dem modernen Betrachter mag außerdem seltsam erscheinen, dass der Katalog trotz einer Reihe von Korrekturen und Nachträgen nicht systematisch fortgeführt und aktualisiert worden ist. Spätestens ab Mitte des Jahrhunderts verzeichnete man keine Neuzugänge mehr. Der Katalog bleibt, wie andere zeitgenössische Kataloge auch, eine Momentaufnahme. Für eine vergleichende Untersuchung stellt das ein großes Problem dar: Die Wissensbestände eines Kataloges von 1120, der die Neuzugänge einer Bibliothek nicht kontinuierlich verzeichnet, kann man nicht wirklich mit den Beständen eines Kataloges von 1180 vergleichen. Einen Lösungsansatz für dieses Problem suche ich noch.

Zu den Schulbuchlisten: Für mich sind natürlich besonders die Schulbücher des Stifts interessant und hier scheint der Arnsteiner Katalog auf den ersten Blick mit zwei vollständigen Listen durchaus ergiebig zu sein. Aber auch hier ist aber Vorsicht geboten und der Teufel steckt im Detail! Aus den Überschriften der Listen geht nämlich hervor, dass diese eben kein Gesamtkatalog der Schule darstellen. Stattdessen stellen diese Listen eine Art Schenkungsnotiz dar. Hier wurden „lediglich“ Büchern verzeichnet, die durch die Gelehrten Richolf und Eberhard bei ihrem Eintritt in das Stift mitgebracht worden sind. Die Listen geben streng genommen also gerade nicht Auskunft über die monastische Bildungskultur im frühen 13. Jahrhundert, sondern lediglich über das spezifische Bildungsinteresse zweier Gelehrter dieser Zeit.

Zusammenfassend lässt sich also sagen:

  • Kataloge bilden nicht zwangsläufig die reale Bibliotheksordnung ab
  • Kataloge bilden fast nie den gesamten Buchbestand ab
  • Kataloge stellen häufig nur eine Momentaufnahme dieses Bestandes dar

So viel zur allgemeinen Aussagekraft hochmittelalterlicher Kataloge. Auch auf der Ebene der einzelnen Einträge lauern einige Schwierigkeiten. Weder gab es im hohen Mittelalter einheitliche Standards zwischen den verschiedenen Katalogen, auch innerhalb einer einzigen Liste wurde das gewählte System nicht immer einheitlich angewandt. Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen:

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Die Gliederung der einzelnen Einträge erfolgt hier vor allem über die Interpunktion und die et-Ligatur. Nach „hic est liber qui dicitur obstrusa grammatica“ wird der Eintrag mit einem Punkt geschlossen und ein neues Werk durch die et-Ligatur eingeleitet. Gleich ein paar Einträge später sieht das ganz anders aus: der Eintrag „Epistola alexandri. Ad aristotilem. De monstris indie“ bezieht sich mit Sicherheit auf einen zusammengehörenden Titel. Dieser verwirrende Gebrauch der Gliederungszeichen erschwert zuweilen die Identifikation einzelner Titel, wie im folgenden Fall: „liber magistri hvgonis de sancto victore. De honeste uiuendo & liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne) & dicta antiquorum philosophorum.

Zwei Lesarten sind hier zumindest theoretisch möglich: Man kann, wie das etwa Bruno Krings getan hat, den Punkt ignorieren oder als Doppelpunkt verstehen und im et die entscheidende Zäsur sehen. Dann hätte man drei Titel:

  1. liber magistri hvgonis de sancto victore. De honeste uiuendo
  2. liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne)
  3. dicta antiquorum philosophorum

Wird allerdings die Trennfunktion des Punktes betont, dann kommt man auf zwei ganz andere Titel:

  1. liber magistri hvgonis de sancto victore.
  2. De honeste uiuendo & liber triplex capiendi consilii de liberatio(ne) & dicta antiquorum philosophorum.

Meiner Ansicht nach wurde hier zum einen das Didascalicon von Hugo von St. Victor, zum anderen das Moralium dogma philosophorum eines ungeklärten Autors verzeichnet. Allein durch die Katalogsystematik lässt sich diese Frage nicht lösen.

Ein weiteres Problem liegt in der häufig ungenauen Beschreibung eines Titels. Mal nennt der Katalog lediglich den Autor, mal den Titel, mal wird nur ein incipit gegeben oder sogar lediglich der Inhalt grob beschrieben (z.B.: “libri de phisica“). Eine genaue Identifikation der Wissensbestände ist daher häufig nicht möglich.

Das liegt nicht an der Blödheit der Zeitgenossen, sondern an den Besonderheiten einer handschriftenbasierten Textkultur. Viele Texte nannten ihre Autoren oder ihren Titel schlicht nicht oder waren nur in Ausschnitten vorhanden. In solchen Fällen blieb dem Bibliothekar nichts anderes übrig, als etwa von “libri de phisica” zu sprechen oder einen Titel als “valde utilem ad docendum” zu bezeichnen. Vermutlich war das für den Bibliotheksalltag auch völlig ausreichend.

Aber selbst wenn sich ein Eintrag genau identifizieren lässt, bleibt eine Restunsicherheit erhalten, wie man am Eintrag „Liber isidori ethimologiarum“ feststellen kann. Gottlieb hat ihn zu recht als den Verweis auf eine Handschrift der British Library identifiziert (Die Handschrift aus einer Frauengemeinschaft ist übrigens an sich sehr sehr spannend, vor allem ihre Glossen! Diesmal ist auch an der Digitalisierung nichts auszusetzen). Sie enthält aber nicht, wie der Katalog suggeriert, lediglich Isidors Etymologien, sondern  auch weitere texte, wie sein Werk De natura rerum, das gerade für meine Fragestellung aufschlussreich ist. Mittelalterliche Kataloge benennen in der Regel nicht alle Texte einer Bibliothek, sondern die konkreten Handschriften. Diese können durchaus mehrere Texte enthalten, die nicht alle im Katalog genannt sein müssen.

Nach diesen Überlegungen muss man doch etwas ernüchtert feststellen: Mittelalterliche Kataloge geben nur bedingt verlässliche Auskunft über Art und Umfang eines mittelalterlichen Buchbestandes und auch die Vergleichbarkeit ist nicht ohne Weiteres gegeben. Lohnt sich ihre Untersuchung dann überhaupt? Aber sicher, denn „[t]rotz ihrer Inventar- und Verwaltungsfunktion, trotz der Tatsache, daß nicht alle mittelalterlichen Bibliotheken ausreichend viele Bücher und entsprechende Kataloge besaßen, trotz ihrer nicht immer befriedigenden Überlieferung, Erfassung und Veröffentlichung sind diese Bücherverzeichnisse eine sehr aussagefähige und daher nicht hoch genug einzuschätzende Quellengattung für das kulturelle Leben vom Beginn des 9. Bis zum beginn des 16. Jahrhunderts.“ (Milde 1995, S. 478).

Die Kataloge können unser Wissen um die Bestände ganz wesentlich ergänzen. Gerade in Arnstein, wo sich keine einzige Schulhandschrift erhalten hat, stellen die Listen den einzigen Nachweis dar, den wir über die Schule haben. Wir wissen nun zum Beispiel, dass es in Arnstein um 1220 eine Kopie der Quaestiones naturales gab oder dass der Stiftsbruder Eberhard ein gesteigertes Interesse am Quadrivium besaß und dieses Wissen vermutlich aus Frankreich ins Stift gebracht hat – ein spanender Beweis des Austausches zwischen Kloster und den hohen Schulen. Sicherlich muss man sich davor hüten, die Kataloge als Quelle nicht über Gebühr zu belasten. Gerade im Verbund mit überlieferten Handschriften besitzen sie aber doch eine wertvolle Aussagekraft und bleiben, bei aller gebotenen Vorsicht, eine Schlüsselquelle für die Geistes- und Kulturgeschichte des Hohen Mittelalters.

Verwendete Literatur:

  • Krings, Bruno: Das Prämonstratenserstift Arnstein a. d. Lahn im Mittelalter (1139-1527). Wiesbaden 1990.
  • Milde, Wolfgang: Mittelalterliche Bibliothekskataloge als Quellen der Bildungsgeschichte: das Beispiel Hamersleben im 12./13. Jahrhundert. In: Luckhardt, Jochen/Niehoff, Franz/Biegel, Gerd (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. München 1995, TB. 2, S. 478-483.
  • Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890.

Bild im Titel: Der heilige Hieronymus im Gehäuse von Antonella da Messina (um 1450). (The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH.)

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/76

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