Zu Beginn des Jahres wurde eine deutlich erweiterte Fassung meiner Masterarbeit veröffentlicht, die mittlerweile auch online über den Freiburger Dokumentenserver zugänglich ist.1 In dieser Arbeit habe ich mich mit der so genannten Arnsteinbibel, London BL Harley 2798 und Harley 2799 beschäftigt.
“Das […] Buch behandelt die monastische Wissenskultur des hohen Mittelalters und basiert auf einer mit dem Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences (2013) ausgezeichneten Qualifikationsschrift des Autors. Anhand wissenschaftlicher Diagramme der so genannten Arnsteinbibel (British Library Harley 2799) werden die lebensweltlichen Bedingungen von Wissen im Prämonstratenserstift Arnstein a.d. Lahn im frühen 13. Jahrhundert untersucht. Dabei eröffnet sich dem modernen Betrachter ein ungewohnter, genuin mittelalterlicher Zugang zu naturwissenschaftlichem Wissen, das in Arnstein eine spirituelle und liturgische Dimension erhielt.“2
In dieser Arbeit vertrete ich unter anderem die These, dass der Diagrammzyklus in Harley 2799 größtenteils auf der Philosophia mundi Wilhelm von Conches basiert.
Ich interpretiere die drei Diagramme auf folio 242r der Bibel als diagrammatische Synthese einer komplexen Stelle im zweiten Buch der Philosophia, in der die Beziehung zwischen dem Kosmos (vor allem dem jeweiligen Stand der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten) und dem menschlichen Körper beschrieben wird. Diese inhaltliche Interdependenz zwischen den astronomischen und medizinischen Phänomenen entspricht einer didaktischen Interdependenz zwischen den drei Diagrammen.3
Diese These scheint mir inhaltlich überzeugend, sie war in zweierlei Hinsicht aber nicht unproblematisch: Zum einen bezeugt der überlieferte mittelalterliche Katalog der Abtei4 keinen Eintrag, der sich eindeutig auf das Werk des nordfranzösischen Magisters beziehen ließe; und zum anderen konnte ich bislang keine entsprechenden Diagramme in der Überlieferung des zweiten Buches der Philosophia mundi ausfindig machen.
Erst nach Fertigstellung des Manuskripts der Arbeit konnten mit freundlicher Hilfe von Prof. Dr. Paul Dutton mittlerweile drei Handschriften gefunden werden, die zur Illustration der Textstelle auf eine ähnliche diagrammatische Formensprache wie die Arnsteinbibel zurückgreifen: Paris BNF Lat. 6560, Paris BNF Lat. 11130 sowie Zürich Car. C. 137 (299 Mohlberg).
Die beiden Pariser Handschriften sind mittlerweile (leider ebenfalls erst nach Abschluss des Manuskripts) online konsultierbar, bislang allerdings völlig unzureichend und fehlerhaft beschrieben.
Alle drei Handschriften stammen vermutlich aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die genaue Herkunft ist bislang nicht bekannt. Sie stellen neben der Arnsteinbibel die einzigen bekannten Zeugnisse dieser diagrammatischen Tradition dar. Während Lat. 11130 und Car. C. 137 die Zusammenhänge im Text ähnlich der Arnsteinbibel mit mehreren (zwei) Diagrammen illustrieren, sind die entsprechenden Elemente in Lat. 6560 in einem Diagramm zusammengefasst.
Diese neue Überlieferungslage stärkt die im Buch vertretene These, die Abtei habe tatsächlich eine Abschrift der Philosophia mundi besessen, die als Vorlage des Diagrammzyklus zu sehen ist.5
In seinem Standardwerk Album of Science hat sich John Murdoch 1984 wie folgt zur Erforschung der diagrammatischen Produktion geäußert:
„Our knowledge of how manuscript illustrations were produced is infinitely more complete in the case of the well known artistic miniatures of illuminated medieval manuscripts than in that of the scientific illustration or diagram.”6
Ich möchte an dieser Stelle vorsichtig die Vermutung äußern, dass die nunmehr vier Zeugen der Diagrammtradition einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieser Produktion ermöglichen und hierzu einige knappe Thesen skizzieren:
Die vier Zeugen lassen sich im Hinblick auf ihre Komplexität sortieren: Das eine Ende der Tradition bildet die Arnsteinbibel, die den Zusammenhang zwischen Kosmos und Körper mit drei Diagrammen darstellt. Lat. 6560 steht am anderen Ende, da es den gleichen Sachverhalt in einem einzigen Diagramm vereint (auch wenn auf der Folgeseite das Verhältnis der Elemente erneut dargestellt wird). Lat. 11130 und Car. C. 137 nehmen mit zwei Diagrammen eine Mittelstellung ein.
Es ist dabei verlockend, über diese unterschiedliche Komplexität auf verschiedene Phasen der Entwicklung dieser Diagramme zu schließen. Da der Arnsteinbibel wichtige gestalterische Elemente fehlen, die den anderen Handschriften gemein sind (hier sind vor allem die versetzte Anordnung der Sternzeichen sowie die doppelwandigen Halbkreise mit den Himmelsrichtungen und den Jahreszeiten zu nennen), scheint es wahrscheinlich, dass die Bibel einer früheren Entwicklungsstufe der Tradition entspricht. Lat. 6550 wäre in dieser Lesart der Endpunkt dieser Entwicklung.
In diesem Fall böte sich hier ein aufschlussreicher Einblick in die Entstehung dieser diagrammatischen Traditionen:
Eine ursprünglich diagrammfreie Fassung des zweiten Buches der Philosophia wurde vermutlich zur Klärung des komplizierten Textes mit Illustrationen versehen, die die wesentlichen Elemente der Textstelle verdeutlichen. Der Urheber dieser Abbildungen bediente sich dabei des klassischen bekannten Formenrepertoirs und war bemüht, die sehr unterschiedlichen thematischen Felder des Textes zu isolieren, gleichzeitig aber auch ihre Beziehung deutlich zu machen. Diese graphische Umsetzung besticht durch ihre Einfachheit, hat aber auch eine entscheidende Schwäche: Man muss erst erkennen, dass die drei Diagramme aufeinander zu beziehen sind, damit die Abbildungen ihren Sinn entfalten können.
Diesem Umstand trägt die zweite Entstehungsstufe in Lat. 11130 und Car. C. 137 Rechnung. Hier wird D2, also der Lauf der Sonne durch die Jahreszeiten, in die graphisch reduzierte Abbildung des Kosmos integriert und dem Schema der Elemente gegenüberstellt. So wird ein besseres Verständnis gewährleistet; die Diagramme verlieren dadurch aber auch an Bildlichkeit und werden abstrakter.
Lat. 6560 könnte nun den letzten Schritt in dieser Entwicklung darstellen. Die Elemente wurden auf ein stark abstrahierendes Diagramm reduziert. Die ursprünglichen klassischen Formen sind in einem neuen Diagramm aufgegangen.
Diese Beobachtungen – sollten sie sich erhärten lassen – legen den Schluss nahe, dass hochmittelalterliche Diagramme nicht einfach aus dem Nichts geschaffen werden konnten, sondern zunächst aus dem überlieferten Formenspektrum schöpfen mussten. Damit bestätigt sich die Vermutung von Ramírez-Weaver:
“The creator of a diagram, even a new one […] was restricted by standard techniques of visualization […] medieval preferences for the formal arrangements
of charted information (like rotae), and a relatively straightforward adherence to well-known ›facts‹ […].”7
Einmal etabliert werden diese Diagramme dann zunehmend abstrahiert und in ein einzelnes Diagramm integriert.
Diese Überlegungen sind sicherlich noch sehr vorläufig und bedürfen eingehender Prüfung. Rätselhaft ist zum Beispiel das plötzliche Verschwinden dieser diagrammatischen Tradition mit Lat. 6560 ab dem 13. Jahrhundert. Die drei Handschriften der Philosophia, Car. C. 137, Lat. 11130 und Lat. 6560, scheinen auf jeden Fall in einer Beziehung zueinander und zur Arnsteinbibel zu stehen, die näher zu untersuchen sich sicherlich lohnen würde.8
- Schonhardt, Michael: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. (Reihe Septem, 2) Freiburg 2014.
- Kurzbeschreibung auf Freidok.
- Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 58-61.
- Ediert in Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890, S. 293-298.
- Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 98-100.
- Murdoch, John: Album of Science, Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 15.
- Ramírez-Weaver, Eric: Creative Cosmologies in Late Gothic Bohemia: Illuminated Diagrams and Memory Tools for the Court of Wenceslas IV, in: Manuscripta Bd. 54 (2010), S. 21–48, hier S. 31.
- Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht sicherlich von der geplanten Edition der Philosophia durch Paul Edward Dutton im CCCM zu erwarten.