Tattoo-Kultur: Drei „Stecher“ und das Jahr 1919

Hamburg, der Hafen und Tätowierungen – das gehört zusammen. Drei Männer, die in St. Pauli ihre Tätowierstuben betrieben haben, sind dabei entscheidend für die Hamburger Tattoogeschichte. Karl Rodemich, Christian Warlich und Herbert Hoffmann haben durch ihre Arbeit einen beträchtlichen Beitrag zur Entwicklung und Professionalisierung des Tattoo-Gewerbes in der Hansestadt und darüber hinaus geleistet. Die drei Männer verbindet dabei eine Jahreszahl. – Von Thilo Hopert

Die Landungsbrücken am Hamburger Hafen Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein Schiff steuert auf den Kai zu, ist klar zum Anlegen. Die Taue fliegen über die Reling Richtung Land und werden mit den Pollern vertäut.

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Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=2218

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Neuengamme: Wenn die Zeitzeugen aussterben

Die Generation der Zeitzeugen stirbt aus. Auch am 70. Jahrestag der Befreiung wurde über die „Zukunft der Erinnerung“ im KZ Neuengamme diskutiert. Wie kann die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Hamburg künftig bewahrt werden, wenn sie niemand mehr aus erster Hand erzählen kann? – Von Torben Banko und Florian Steinkröger

Aus dem Mund des Bundespräsidenten Joachim Gauck hören wir oft den Satz: „Die [NS-]Vergangenheit darf sich nicht wiederholen.“ Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass wir als Deutsche aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Doch die Anzahl der Menschen, die den zweiten Weltkrieg wirklich miterlebt haben, sinkt jedes Jahr. Am Stadtrand von Hamburg, bei Bergedorf, erinnert ein Ort an das Dritte Reich in der Hansestadt. Bis vor 70 Jahren die Befreiung durch die Britische Armee gelang, starben dort und in den dazugehörigen Außenlagern etwa 42.

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Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=2011

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St. Pauli: „Hilldegarden“ startet den „Ideenbunker“

Das Projekt “Hilldegarden” plant einen Stadtgarten auf dem Dach des geschichtsträchtigen Bunkers am Heiligengeistfeld. Am Sonntag öffnete das Team um Tobias Boeing einen “Ideenbunker” als zentrale Anlaufstelle für interessierte Hamburger Bürger. – Von Max Bahne

Am Sonntag öffnete der „Ideenbunker“ am großen Flakbunker an der Feldstraße zum zweiten Mal seine Tür. Der kleine Baucontainer soll eine Anlaufstelle für interessierte Hamburger sein. Dort kamen sie mit den Mitgliedern des Projekts „Hilldegarden“ ins Gespräch. In dem Container, der im Stil des großen Bunkers aufgebaut wurde, nahm das „Hilldegarden“-Team Anregungen und Kritik entgegen. Vom „Ideenbunker“ aus startete Projektleiter Tobias Boeing mit Besuchern zu Führungen auf das Dach des Flakbunkers.
Der geplante Stadtgarten soll auf einem der geschichtsträchtigsten Gebäude Hamburgs entstehen. Der Flakbunker auf dem Heiligengeistfeld wurde kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs unter der Mitarbeit von Zwangsarbeitern fertiggestellt. Bis heute nutzen zivile Mieter den Bunker. Mit regelmäßigen Ausstellungen im Stadtgarten möchte „Hilldegarden“ an die bewegte Geschichte des Bunkers erinnern.

Wie das Projekt „Hilldegarden“ entstand

Seinen Anfang nahm das Projekt im Frühjahr 2014. Damals hatten einige Anwohner die Idee, das Dach des grauen Flakbunkers zu einem grünen Stadtgarten umzubauen. Sie hofften, eine neue öffentliche Grün- und Gartenfläche zu erschließen, die sich zur generationsübergreifenden Nutzung eignet. Es gelang den Anwohnern, Thomas Matzen, den Pächter des Bunkers am Heiligengeistfeld, vom Stadtgarten auf dem Dach des Bunkers zu überzeugen. Schnell bildete sich die Projektgruppe „Hilldegarden“. Sie erarbeitete ein Konzept für den Garten über den Dächern Hamburgs. Auf den Bunker soll ein 20 Meter hoher, begrünter Aufbau gesetzt werden, der den Hamburgern zur Erholung und als eigener Garten dienen soll. Ein zentrales Element des Konzepts, das in Zusammenarbeit mit Architekten des Büros Interpol+-Architecture entstand, ist das sogenannte „Urban Gardening“.

Was bedeutet „Urban Gardening“?

Die Geschichte dieser Anbauform geht weit ins 19. Jahrhundert zurück. „Urban Gardening“ beschreibt den Lebensmittel-Anbau in der Stadt. Gerade leicht verderbliche Lebensmittel mussten im 19. Jahrhundert wegen der weiten Transportwege dort angebaut werden, wo sie auch verbraucht wurden – in der Stadt. Ein bekanntes Beispiel für „Urban Gardening“ sind die Stadtgärten des Pariser Bezirks Le Marais, wo auf einer Fläche von 1400 Hektar, also fast 2000 Fußballfeldern, Lebensmittel angebaut wurden. So groß soll der Garten auf dem Bunker aber nicht werden: „Laut unserem Entwurf würden 8000 Quadratmeter Fläche entstehen, von denen wir 5500 Quadratmeter öffentlich nutzbar machen wollen“, sagte Boeing beim Rundgang auf dem Dach des Bunkers. Die Hamburger müssten sich also mit nur einem Fußballfeld Platz für ihren Salat genügen.

  • Der Bunker in der Feldstraße diente als Flakturm / Foto: Christian Weber
  • Vor dem Bunker befindet sich der Container, der als zentrale Anlaufstelle und Infocenter des Projekts dient / Foto: Christian Weber
  • Das Hilldegarden-Team führte Interessierte über den Bunker, um die Ideen vor zu Ort zu erklären / Foto: Christian Weber
  • Auf dem weitläufigen Kragen des Bunkers sollen Beete enstehen, mit denen sich Anwohner selbst versorgen könnten / Foto: Christian Weber
  • Der Bunkerkragen umringt den gesamten Bunker / Foto: Christian Weber
  • Der Bunkerkragen soll nur teilöffentlich zugänglich gemacht werden / Foto: Christian Weber
  • Derzeit braucht man noch viel Fantasie, um sich den Stadtgarten auf dem Dach vorzustellen / Foto: Christian Weber
  • Auch den Fernsehturm sieht man vom Bunker auf dem Heiligengeistfeld / Foto: Christian Weber
  • Projektleiter Tobias Boeing im geplanten Amphitheater / Foto: Christian Weber
  • Vom Bunker kann man derzeit noch in das Stadion des FC St. Pauli schauen / Foto: Christian Weber
  • Blick auf einen kleinen Dachgarten des Bunkers / Foto: Christian Weber
  • Blick über Hamburg vom Dach des Bunkers / Foto: Christian Weber

Neben den Vorzügen eines schnell zu erreichenden Stadtgartens soll der Aufbau auf dem Flakbunker auch kulturelle Angebote schaffen. Boeing stellte auch einen Plan für ein kleines Amphitheater vor, das in einem der Flakstellungen auf dem Dach des Bunkers entstehen soll. Dort sollen nach Bauende bis zu 150 Zuschauer Theater-Aufführungen bestaunen können.

Droht Hamburg ein neues Kostengrab wie die Elbphilharmonie?

Die Kostenfrage für den Bau des Gartens ist noch nicht abschließend geklärt. Boeing sagte, Pächter Matzen sei bereit, die Baukosten für den Garten und die laufenden Kosten für den Bunker bis zum Pachtende 2053 zu übernehmen. Im Gegenzug bot ihm die Hamburger Kulturbehörde an, die Pachtkosten von rund 2,56 Millionen Euro zu erlassen, wenn sich Matzen dazu entscheide, die Pacht bis 2093 zu verlängern. Bei dieser Lösung müssten die Hamburger Steuerzahler kein neues Kostengrab wie die Elbphilharmonie fürchten. Die endgültige Entscheidung zur Kostenfrage soll noch in diesem Jahr fallen.

Boeing: „Hamburger sollen am Planungsprozess teilhaben“

Wichtig für Boeing und das „Hilldegarden“-Team ist die bürgernahe Planung des Stadtgartens. „Wir wollen die Anwohner und andere interessierte Hamburger am Planungsprozess teilhaben lassen. Dazu haben wir den Container am Flakbunker aufgestellt, um mit den Menschen sprechen und uns Anregungen und Kritik anhören zu können“, sagte er. Der Container ist dienstags von 10 bis 15 Uhr besetzt, mittwochs von 15 bis 20 Uhr. Zusätzlich liegt dort ein Infoblatt aus, auf dem Ideen und Kritik notiert werden können. Bis August können engagierte Hamburger an monatlich stattfindenden Workshops teilnehmen oder dem „Hilldegarden“-Team ihre Wünsche für das Projekt mitzuteilen. Erst Ende August soll das finale Konzept zum Stadtgarten stehen.

Das Projekt “Hilldegarden” sucht noch geschichtsbegeisterte Menschen, die im Workshop “Bunkergeschichte” mitarbeiten möchten. Dort soll die Frage erörtert werden, wie man mit der schwierigen Geschichte des Flakbunkers umgeht. Ansprechpartner ist Tobias Boeing (tobias@hilldegarden.org).

In Kürze erscheint hier ein Feature, das sich mit der Geschichte des Bunkers näher befasst.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1808

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Chilehaus: Auf dem Weg zum kulturellen Erbe

2015 entscheidet sich in Paris, ob Hamburg ein Weltkulturerbe bekommen wird. Die Kriterien und Auflagen der UNESCO sind umfassend und streng. Zwar stehen die Chancen gut, aber schon für die Bewerbung gab es hohe Hürden zu bewältigen. Welchen Mehrwert bietet ein Welterbetitel und was bedeutet er für die Stadt und seine Bewohner? – Von Christian Weber

Das kulturelle Erbe Hamburgs könnte 2015 eine Adelung erfahren. Die Kulturbehörde der Stadt hat sich 2014 mit einem Gebäudeensemble um die Aufnahme in die Welterbeliste der UNESCO beworben.

Das Ensemble „Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus“ besitzt laut der Initiatoren der Bewerbung einen hohen historischen Wert, den es zu schützen gelte. Die Bewerbungsmacher sehen in den beiden Komplexen die Grundlage für die Infrastruktur in Hamburg, die erfolgreiche Wirtschaftsgeschichte des Hamburger Hafens und den Wohlstand der Stadt.

Der Senat hat im Februar 2014 die Kulturbehörde beauftragt über die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Auswärtige Amt, den ausgearbeiteten Aufnahmeantrag beim Welterbezentrum in Paris vorzulegen. Der Antrag wurde fristgerecht vorgelegt und noch im Laufe des Jahres 2014 wird eine Delegation der UNESCO nach Hamburg reisen, um die Bewerbung zu prüfen. Im Juni 2015 wird das Welterbekomitee in Paris die Entscheidung fällen.

Erfüllung der Kriterien

Für Hamburg wäre es der erste Beitrag zur Welterbeliste. Mit derzeit 39 Welterbetiteln, darunter die Altstadt von Lübeck und das Wattenmeer, gehört Deutschland zu den fünf Ländern mit den meisten Eintragungen des Kulturverzeichnisses. Während alle anderen Bundesländer schon einen Beitrag vorzeigen können, ist Hamburg das letzte deutsche Bundesland ohne Welterbetitel.

Bereits seit 1998 befindet sich das Chilehaus als einzelnes Objekt auf der Tentativliste, also der Vorschlagsammlung der KMK. Da eine Bewerbung für den Titel auf nationaler Ebene erfolgt, müssen sich die Länder ihrer föderalen Struktur entsprechend einigen, mit welchen Stätten eine deutsche Bewerbung bei der UNESCO eingeht.

  • Hamburg, Chilehaus, Architektur
    Ostansicht Chilehaus: Die berühmte Spitze des Chilehauses, der"Bug", machte das Haus weltberühmt. Die Schiffsmetaphorik ist hier besonders gut sichtbar / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Chilehaus, Architektur
    Südseite Chilehaus: Die Risalite und die Staffelgschosse geben dem Gebäude seine unverwechselbar Form / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Chilehaus, Architektur
    S-förmige Südseite Chilehaus: Die geschwungende Form des Hauses lässte mit wechselndem Licht immer wieder neue Impressionen entstehen / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Chilehaus, Architektur
    Die Staffelgeschosse, die an Schiffsdecks erinnern, waren sehr fortschrittlich 1924. Mit ihnen wurde die Bauhöhe optimal ausgenutzt .... / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Chilehaus, Architektur, Staffelgeschoss
    ... und auch in Sachen Brandschutz bietet diese Bauweise Vorteile. Ein Satteldach aus Holzbalken ist deutlich brandgefährdeter / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Chilehaus, Architektur
    Ein Problem des Chilehauses ist, dass es von keiner Seite in Gänze zu sehen ist. Die enge Bebauung des Viertels lässt immer nur einen Teilblick / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Sprinkenhof, Architektur
    Südseite des Sprinkenhofs: Die Ornamentik an der Fassade des Gebäudes lässt aus bestimmten Perspektiven beeindruckende Muster entstehen / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Sprinkenhof, Architektur
    Im Innenhof des des Sprinkenhofs setzt sich das Muster fort / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Brahms Kontor, Architektur
    Brahms Kontor an der Laiszhalle: Das Kontor ist in Teilen schon älter als das Chilehaus und ist mit seinen 15 Geschossen auch höher. Allerdings ist die äußere Form weit weniger virtuos / Foto: Christian Weber
  • Flatiron Building New York: Ob das 1902 fertiggestellte Hochhaus den Architekten des Chilehauses, Fritz Höger, inspiriert hat, ist nicht bekannt / Foto: Fotolia
  • Speicherstadt, Kontorhaus, Hamburg, Architektur
    Kontorhäuser Speicherstadt: Die 15 zusammenhängenden Kontorhäusern gelten als der größte einheitlich geprägte Lagerhauskomplex der Welt / Foto: Christian Weber
  • Speicherstadt, Kontorhaus, Hamburg, Architektur
    Die Speicherstadt wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. An vielen Stellen lässt sich die Symbiose aus alter und erneuerter Bausubstanz aus den 1950er Jahren betrachten / Foto: Christian Weber
  • Kaffeebörse, Speicherstadt, Kontorhaus, Hamburg, Architektur
    Vor allem am Sandtorkai 3 kann man die Unterschiede gut erkennen. Der Neubau von Werner Kallmorgen (links im Bild) von 1956 ist ein bekanntes Beispiel für den Wiederaufbau der Speicherstadt / Foto: Christian Weber
  • Speicherstadt, Kontorhaus, Hamburg, Architektur
    An vielen Stellen bietet die Speicherstadt einen ungetrübten Blick auf ausschließlich originale Bauabschnitte / Foto: Christian Weber
  • Hamburg, Innenstadt, Speicherstadt, Kontorhausviertel, Hafencity
    Kontorhausviertel, Speicherstadt und Hafencity: Zusammenspiel von kulturellem Erbe und Wachstumsviertel / Foto: Fotolia/ Peter Knechtges

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Dabei sollten die Antragsteller darauf achten, dass die Objekte, die man mit einem Welterbetitel versehen möchte, in ihrem Genre nicht bereits überpräsent sind. Die Experten der UNESCO erwarten einen „außergewöhnlichen universellen Wert“ bei Listenanwärtern. Originalität ist neben „Authentizität“, also historischer Echtheit, und „Integrität“, was man mit Unversehrtheit übersetzen könnte, eines der wichtigsten Aufnahmekriterien.

Die Autoren formulieren im Bewerbungsschreiben den hohen Anteil des Ensembles in seiner Funktion als Logistik-, Lager- und Verwaltungskomplex, die das Ensemble für den industriellen Wandel in Hamburg und Umgebung hatte. Das gilt auch für die industriellen Prozesse des 19. und 20. Jahrhunderts und seine Auswirkungen auf transnationale industrielle Entwickelung in ganz Europa. Mit einer Ernennung zum Weltkulturerbe soll der kulturelle Wert dieses Erbes hervorgehoben werden.

Hervorragende Voraussetzung für das Kontorhausviertel mit Chilehaus

Das Chilehaus nimmt eine Führungsrolle im Bewerbungsprozess um den Welterbetitel ein. Anfangs war das Chilhaus alleiniger Bestandteil der Bewerbung. Der Titel der Bewerbung („Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus“) lässt noch immer erkennen, dass das Chilehaus in den Augen der Bewerbungsmacher einen besonderen Platz im Ensemble einnimmt.

Von Kriegsschäden weitestgehend verschont, genießt das von Fritz Höger erbaute Chilehaus den Ruf, eines der bekanntesten Gebäude der Welt zu sein. Mit seinen zehn Stockwerken war es eines der ersten Hochhäuser Deutschlands. Vor allem mit seiner markanten Form und seiner schiffsbugartigen Ostspitze, hatte es schon vor seiner Fertigstellung weltweit für Aufsehen gesorgt. Zwar gab es bereits ein früheres „Hochhaus“ am Holstenwall, das heutige Brahms Kontor. Aber selbst nach seiner Fertigstellung 1927 konnte es mit seinen 15 Stockwerken, dem weitaus virtuoseren Chilehauses nicht den Rang ablaufen.

Sieht man von dem historischen Detail ab, dass die Baubehörde zu Baubeginn Wohnungen im Chilehaus forderte, ist das Chilehaus ein Archetyp des norddeutschen Kontorhauses. Die Forderung nach einer teilweisen Wohnnutzung hatte man allerdings schon weit vor der Fertigstellung des Chilehauses wieder verworfen. Es passte nicht in die von Wirtschaftskrisen geplagten 1920er Jahre. Geschuldet war die Auflage der Tatsache, dass sowohl im Kontorhausviertel, als auch in der Speicherstadt engbebaute Gängeviertel standen, welche Arbeiterquartiere beherbergten. Als Choleraherd ausgemacht, sah man sich nach der großen Epidemie von 1892 genötigt, die Quartiere abzureißen. Allein für die Speicherstadt mussten 20.000 Menschen ihre Wohnungen verlassen.

 

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 Speicherstadt und Hafencity: Kulturelles Erbe und Bauboom auf engstem Raum                     / Foto: Fotolia / Peter Knechtges
 

Das Chilehaus in seiner ungewöhnlichen Mischung aus Neogotik, Traditionsbewusstein und Moderne erfuhr vor und nach seiner Fertigstellung eine bis dato unbekannte mediale Verbreitung. Die namhaften Fotografien der Gebrüder Dransfeld vom „Bug“ des Hauses gingen damals um die Welt. Ende der 1920er Jahre war das Chilehaus mit seiner Schiffsmetaphorik ein beliebtes Motiv auf Postkarten, Holzschnitten, Postern und Lebensmittelpackungen.

Weder die Staffelgeschosse, die zurückspringenden Dachgeschosse, die sich nach oben hin verjüngen, waren wirklich neu, noch war es das erste Haus mit einer derart schiffsähnlichen Spitze. Vorbild könnte das sogenannte Flatiron Building des Chicagoer Architekten Daniel Hudson Burnham von 1902 an der 5th Avenue in New York gewesen sein. Die Zusammenhänge werden bis heute in Architekturkreisen diskutiert. Ob Architekt Fritz Höger besagtes Gebäude kannte, lässt sich nicht rekonstruieren.

Was aber dem möglichen Vorbild im Vergleich zum Chilehaus fehlt, ist die extravagante Mischung von Stilmitteln. Der Bockhorner Klinker, die gotischen Arkaden mit den kitschig anmutenden Putten und Tierfiguren des Hamburger Bildhauers Richard Kuöhl ergaben einen exotischen Stilmix. Die orientalisch-modern anmutenden Elemente und die markante S-förmigen Südseite riefen in den Augen vieler Betrachter verschiedenste, starke Reaktionen hervor.

Im gesamten Kontorhausviertel hat der Zweiten Weltkrieg nur wenige Schäden hinterlassen. Das Chilehaus wurde 1993 umfassend saniert. Die Integrität der Gebäude schätzen Experten als sehr gut ein und alle Gebäude werden ihrer ursprünglichen Bestimmung nach als Bürohäuser genutzt.

Das gilt auch für die anderen Gebäude der Bewerbung für den Welterbetitel. Auch Meßberghof, Sprinkenhof und Mohlenhof befinden sich in gutem Zustand, werden in ihrem ursprünglichen Sinne als Kontorhaus benutzt und bilden zusammen mit dem Chilehaus das Kontorhausviertel. Der ebenfalls beeindruckende Sprinkenhof wurde erst 2006 umfassend saniert.

Die Speicherstadt – ein Sonderfall

Die Speicherstadt gilt bis heute als der größte zusammenhängende und einheitlich geprägte Speicherkomplex der Welt. Die 15 Lagerhäuser wurden zwischen 1883 und 1927 hauptsächlich unter der Leitung von Franz Andreas Meyer gebaut, wobei der erste von drei Abschnitten 1888 fertiggestellt wurde. Kaiser Wilhelm II. legte damals persönlich den Schlussstein des Bauabschnitts.

Im Falle der Speicherstadt gestaltet sich die historische Einordnung der Bausubstanz ungleich schwieriger. 50% der Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und unter hohem Aufwand nach historischen Vorbildern wieder aufgebaut. Andere Gebäude wurden unter der Leitung von Werner Kallmorgen in den 1950er Jahren gänzlich ersetzt. Wie zum Beispiel beim Bau der Kaffeebörse am Sandtorkai. Man bescheinigte Kallmorgens Entwürfen ein hohes Maß an architektonischem Einfühlungsvermögen und eine hervorragende Korrespondenz der Gebäude mit der alten Bausubstanz.

 

Speicherstadt-Horizont

Speicherstadt: Die meisten der 15 Blöcke haben den  Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden     / Foto: Christian Weber
 

Die Funktion und Nutzung der Speicherstadt hatte sich bis in die 1980er Jahre kaum verändert. Erst mit dem Siegeszug des Containers verlor die Speicherstadt ihre Bedeutung als Lagerkomplex. Die Stadt sah damals von einem Verkauf der Gebäude ab und stellte die Speicherstadt 1991 unter Denkmalschutz. Eine Maßnahme, welche die Gebäude einem potentiellen Abriss entzog. Am 01. Januar 2003 wurde die Speicherstadt aus dem Freihafenstatus entlassen und seit 2008 ist sie Teil des Stadtteils HafenCity im Bezirk Hamburg-Mitte.

Der Gebäudekomplex wurde somit seiner ursprünglicher Funktion als Umschlagplatz und Warenlager beraubt. Heute befinden sich nur noch wenige Lagerflächen in der Speicherstadt. Ateliers, Firmen der kreativen Branche, Museen sowie Hotel und Gastronomie haben sich mittlerweile dort angesiedelt. Damit verliert die Speicherstadt einen Teil ihrer Relevanz, die UNESCO-Kriterien betreffend. Allerdings war es den Verantwortlichen immer noch möglich, den Anspruch an einen Welterbetitel in Bezug auf mehrere andere Punkte der Kriterien zu formulieren wie zum Kriterium I: „Angemeldete Güter sollten (i) „ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft darstellen“ oder bei Kriterium III: „Angemeldete Güter sollten (iii) ein einzigartiges oder zumindest außergewöhnliches Zeugnis einer kulturellen Tradition oder einer bestehenden oder untergegangenen Kultur darstellen.“ Die Speicherstadt erfüllt diese Kriterien nach Meinung der Experten aufgrund ihrer Architektur. Der Lagerhauskomplex mit seinen neugotischen Formen wird als exemplarisches Beispiel für die Stilrichtung der „Hannoverschen Schule“ angesehen. Auch die Einheitlichkeit des ursprünglichen Zustands wird oft betont.

Kosten und Nutzen des Projekts

Kritische Stimmen in Bezug auf die Bewerbung kamen aus Politik und Wirtschaft. Vor allem als die Initiatoren der Bewerbung 2005 die Speicherstadt in das UNESCO-Projekt mit einbezog. Zu dieser Zeit war die angrenzende HafenCity gerade in ihrer stärksten Wachstumsphase und exponierte Bauflächen in direkter Nähe zum zukünftigen Weltkulturerbe waren noch nicht bebaut. So zum Beispiel die Ericusspitze mit dem neuen SPIEGEL-Gebäude, welches 2011 eingeweiht und in Betrieb genommen wurde. Man sah das ungehinderte Wachstum des neuen Stadtteils durch mögliche Reglementierungen seitens der UNESCO gefährdet.

Die Befürworter des Projekts konnten jedoch überzeugen. Zahlreiche positive Gründe stehen überschaubaren Kosten gegenüber. Laut der Hamburger Kultursenatorin der Stadt Hamburg Barbara Kissler, wolle man mit der Bewerbung den festen Willen zum Erhalt der Gebäude ausdrücken und die historische Tradierung der Geschichte an eine breite Öffentlichkeit sicherstellen. Auch der freie Zugang für die Öffentlichkeit werde durch das Reglement der UNESCO sichergestellt.

Neben Erhalt und Schutz der Objekte sei noch die Wirkung des Welterbetitels als Touristenmagnet zu erwähnen. Die Aufnahme der bereits jetzt schon sehr beliebten Hamburger Wahrzeichen in die UNESCO-Liste könnte im Konkurrenzkampf deutscher Städte um den Zuspruch der Besucher ein gutes Marketingtool darstellen und die hohe Frequentierung für die Zukunft sichern oder sogar noch erhöhen.

Gerade dieser wirtschaftliche Aspekt bietet Konfliktpotential. Steigende Touristenzahlen sind für die Anwohner der angrenzenden Viertel nicht unbedingt erstrebenswert. Eine Umfrage der Initiative „Stimmen von St. Pauli“ ergab, dass die zunehmende Eventisierung durch Großveranstaltungen in den innerstädtischen Vierteln und die als negativ empfundenen Auswirkungen von steigenden Besucherzahlen ein drängendes Problem Bürger und Bürgerinnern darstellen.

Aus kunsthistorischer Sicht wurde die Relevanz der Bewerbung des Ensembles „ Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus“ zu keiner Zeit angezweifelt.

2011 richteten die ICOMOS Deutschland, die deutsche Untereinheit der UNESCO und das Denkmalschutzamt in Verbindung mit der Hafenuniversität und der Sutor-Stifung eine internationale Fachtagung zum Thema aus. Das Symposium „Stadtentwicklung zur Moderne, die Entstehung großstädtischer Hafen- und Bürohausquartiere“ kam zu dem Ergebnis, dass die Objekte in ihrer bauhistorischen Qualität den internationalen Vergleich mit anderen Kulturgütern nicht zu scheuen bräuchten und einer Bewerbung nichts im Wege stünde.

Erweiterung des Antrages um einen ganzen Stadtteil

Bis 2005 ging es beim Antrag der Kulturbehörde nur um eine Bewerbung des Chilehauses. Erst dann erweiterte man die Bewerbung auf das gesamte Kontorhausviertel, also zusätzlich um den Meßberghof, Sprinkenhof und Mohlenhof sowie auf die angrenzende Speicherstadt.

Die Idee der Erweiterung des Antrages geht vor allem zurück auf die Initiative „UNESCO Modernes Erbe Hamburgs“, welche vom Verlagshaus Gruner + Jahr und der Deutschen Umwelthilfe getragen wird. Das Engagement von Gruner + Jahr lässt sich vielleicht mit der Tatsache erklären, dass Gruner + Jahr in den Gründungsjahren der 1960er Jahre seine Verlagsbüros im Sprinkenhof und dem Chilehaus hatte.

Wichtig für das Gelingen des Projekts ist die Unterstützung aller Beteiligten, auch die der Besitzer. Die Hamburger Hafen und Logistik Aktiengesellschaft (HHLA), als Betreiber der Speicherstadt, als auch die Union Investment Real Estate GmbH, Inhaber des Chilehauses, müssen das Konzept mittragen. Berichten zufolge sind Betreiber und Denkmalschützer sich hier einig und alle Beteiligten stehen hinter der Bewerbung.

Die Verleihung des Welterbetitels ist mit strengen Auflagen in Bezug auf Erhaltung und denkmalgerechter Nutzung verbunden und die Inhaber müssen Management-Pläne für die Zukunft vorlegen. Das nimmt die Betreiber der Objekte in die Pflicht und setzt den Willen voraus, auch nach der etwaigen Anerkennung die Auflagen zu erfüllen, um den Titel nicht wieder zu verlieren. Die Aberkennung des Titels wie im Falle des „Dresdner Elbtals“ dient hier als negatives Beispiel. Durch den Bau der Waldschlösschenbrücke im Gebiet der Kulturlandschaft Dresdner Elbtal, sah die UNESCO die Kriterien für einen Welterbetitel als nicht mehr erfüllt an.

Ein Welterbetitel verpflichtet die Stadt Hamburg, Inhaber und Betreiber der Stätten zur denkmalgerechten Pflege und zum Schutz der Gebäude. Somit kann eine Ernennung der Stätten neben positiven Effekten für den Tourismus die weitaus wichtigere Aufgabe der Sicherung und Erhaltung des kulturellen Erbes leisten.

 

Zum Autor:

Christian Weber studiert Geschichte an der Uni Hamburg und ist seit 2013 Mitglied der Redaktion „Hamburgische Geschichten“.

Literaturempfehlungen:

  • Busch, Harald und Ricardo Federico Sloman: Das Chilehaus in Hamburg. sein Bauherr und sein Architekt, Festschrift aus Anlaß des 50jähr. Bestehens 1924 – 1974, hrsg. v. Friedrich Wilhelm Sloman, Hamburg 1974.
  • Fischer, Manfred F.: Das Chilehaus in Hamburg. Architektur u. Vision, hrsg. v. Klaus Frahm, Berlin 1999.
  • Hesse, Frank Pieter: Stadtentwicklung zur Moderne. Entstehung großstädtischer Hafen- und Bürohausquartiere,  internationale Fachtagung, veranstaltet von ICOMOS Deutschland und der Kulturbehörde Hamburg, Denkmalschutzamt Hamburg, 13., 14. Oktober 2011, Berlin 2012.
  • Nagel, Britta und Bernadette Grimmenstein: Chilehaus Hamburg, Berlin 2005.
  • Nicolaisen, Dörte: Studien zur Architektur in Hamburg 1910 – 1930, München 1985.
  • Sörgel, Herman: Das Chilehaus, Hamburg: Architekt Fr. Höger, Charlottenburg1925.
  • Voigt, Wolfgang: Hans und Oskar Gerson, hanseatische Moderne. Bauten in Hamburg und im kalifornischen Exil 1907 bis 1957, hrsg. v. Hartmut Frank u. a., Hamburg 2000.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1590

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Ausstellung: „Krieg und Propaganda 14/18“

„Es geht um alles“ – so lockt derzeit das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg neue Besuche in seine Hallen. Im Jubiläenjahr 2014 schließt sich auch das MKG dem Gedenken an den hundert Jahre zurückliegenden Beginn des Ersten Weltkriegs an. Seit dem 20. Juni 2014 ist dort die Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“ zu sehen. Mit über 400 Exponaten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs eröffnet die Ausstellung Einblicke in eine damals neue mediale Manipulation der Massen. – Von Patricia Wiesemann

Die aufwendig gestaltete Ausstellung bietet ihren Besuchern eine reiche Vielfalt unterschiedlicher Propagandamittel. Neben Plakaten, Grafiken und Bildpostkarten sind auch ein breites Spektrum an Fotografien und Zeitungen sowie Alltagsgegenstände wie Kinderspielzeuge zu sehen. Auch historisches Filmmaterial, Tonaufnahmen und zeitgenössische Musik kann im ersten Stock des Museums begutachtet werden. Die über drei Jahre zusammengetragenen Exponate stammen aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, USA, Russland, Italien und Österreich-Ungarn.

Zu Beginn der Ausstellung wird der Besucher direkt in die Propagandaschlacht hineingezogen. Das im Eingang hängende Bild „Over the top“ des australischen Fotografen Frank Hurley zeigt ein Schlachtfeld zuzeiten des Ersten Weltkriegs. Flugzeuge am Himmel, von Explosionen aufgewirbelte Erdmassen, Soldaten in Schützengräben. Eine Momentaufnahme des Krieges. So scheint es – doch das Bild ist nicht echt, eine Fälschung. In Wahrheit handelt es sich um eine Komposition aus zwölf übereinander gelegten Negativen. Der Betrachter sieht sich einer konstruierten Realität gegenüber. Unbewusst wird er dadurch kurzzeitig Teil der manipulierten Masse im Sog der Propagandamaschinerie.

Den Gegner schlecht aussehen lassen

Der Besucher durchläuft zunächst einen Gang, in dem sich deutsche und britische Propaganda gegenüberstehen. Ihr Ziel: die Mobilisierung der Massen. „Helft uns siegen“, „It’s your duty!“ Krieg sei eine feine Sache. So die Botschaft, die im kollektiven Gedächtnis hängen bleiben sollte. Demonstrationen gegen den Krieg gab es offiziell nicht, dafür sorgte die Zensur. Einen positiv geführten Krieg vermarkten und den Gegner schlecht aussehen lassen, so die Vorstellung der Meinungsmacher im Deutschen Reichen, „Das ist der Weg zum Frieden – die Feinde wollen es so! Darum zeichne Kriegsanleihe!“ Dessen Gegner setzten derweil vor allem auf die Dämonisierung des barbarischen „Hunnen“ mit Pickelhaube: „Remember Belgium“, „Beat the Hun with Liberty Bonds“.

 Eine Auswahl von Exponaten aus dem Katalog der Ausstellung. (Für ein Großbildansicht bitte in die Bildmitte klicken)
 
  • Titelblatt der Leipziger „Illustrierten Zeitung“. Ausgabe von 1915 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Titelseite der britischen Illustrierten „The illustrated London News“ Ausgabe vom 23. Januar 1915 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Le plan d’Hindenburg", aus: La Baïonnette, Nr. 101, 7. Juni 1917, von Maurice Neumont / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Daddy, what did you do in the Great War?", Farblithographie von Savile Lumley / Druck: Johnson, Riddle & Co. Ltd., London Victoria and Albert Museum, London / © V & A Images, London
  • "Pour le suprême Effort. Emprunt National" Farblithographie von Marcel Falter 1918 / Druck: Chaix, Paris / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • "Wir spielen Weltkrieg. Ein zeitgemaßes Buch fur unsere Kleinen" von Ernst Kreutzer um 1915 / Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014
  • "I Want You for U.S. Army" 1917 , Aufruf der USA zur Rekrutierung von Soldaten / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Kriegsspielzeug aus dem Jahre 1914. Ein uniformierte Puppe der Firma Steiff GmbH / Spielzeugmuseum Nürnberg / Foto: Christiane Richter
  • Geschicklichkeitsspiel „Die Böse 7“ um 1914 / Altonaer Museum, Hamburg © Stiftung Historische Museen Hamburg / Altonaer Museum / Foto: Elke Schneider
  • Murmelspiel „Trench Football“ eines unbekannten britischen Herstellers / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Selbstgebauter Holzpanzer aus Holz / Stiftung Historische Museen Hamburg / Altonaer Museum / Foto: Elke Schneider
  • Eine improvisierte Musikkapelle 1915 / Foto: Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie
  • "Go! It`s your duty lad. Join to-day". Eine klare Aufforderung an die Männer in den USA von 1915. / Druck: David Allen & Sons Ltd., Harrow/Middlesex Library of Congress, Washington D.C. Courtesy of Library of Congress, Washington D.C.
  • Charlie Chaplin auf einer Kriegskundgebung in New York 1918 / Otto Bettmann Archive / FPF, Pennsylvania/ © Bettmann / Corbis
  • "Boys Come over here you`re wanted". Das englische Plakat aus London von 1915 buhlt um die Gunst junger Männer / Druck: David Allen & Sons, London / Foto: Maria Thrun
  • "The Hun - his Mark. Blot it Out with Liberty Bonds" fordert die Lithografie aus New York von 1917 / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • O, bleibe mein!, - ein deutsche Bildpostkarte aus Berlin vom Juli 1917 / Verlag: Albert Fink, Berlin / Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg / Foto: Maria Thrun
  • Die Ausstellung zeigt auch Fotografien, Zeitschriften und Bildpostkarten / Foto: Michaela Hille
  • Ausstellungsansicht: Über 400 Exponaten aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zeigt die Ausstellung / Foto: Michaela Hille

 

Diese Gräuelpropaganda, die auch die Versenkung des britischen Schiffes Lusitania und die Erschießung der britischen Krankenschwester Edith Cavell aufgreift, wurde vor allem durch den niederländischen Zeichner und Karikaturisten Louis Raemaekers stark beeinflusst. Dessen Kriegszeichnungen waren derweil so erfolgreich, dass sie während des Krieges in zahlreichen internationalen Ausstellungen der Öffentlichkeit präsentiert wurden – sehr zum Ärger der deutschen Reichsführung. Diese übte sich indes in Partizipation der Bevölkerung. Was heute wohl unter den neudeutschen Begriff „Crowdfunding“ fallen würde, fand damals in Massenveranstaltungen als sogenannte „Nagelungen“ von hölzernen Heldenfiguren statt.

Je nach finanziellen Möglichkeiten konnten Nägel unterschiedlichen Materials erworben und in die Holzfigur geschlagen werden. Auch diejenigen, die nicht mit der Waffe kämpften, konnten auf diese Weise etwas zum Krieg beizutragen. So entstand beispielsweise auch der „Isern Hinnerk“ aus Hannover. Darüber hinaus bediente sich die Kriegspropaganda schon im Alltag einfachster Methoden. Spielzeug und Geschichten wie „Max und Moritz – eine Soldatengeschichte“ verdeutlichen, dass der Werbefeldzug bereits im Kinderzimmer begann.

Atmosphärisch und grotesk

Die Ausstellung lässt den Besucher zunächst verschiedene Propagandastationen durchlaufen. Dabei folgt sie dem Narrativ der damaligen Zeit und stellt dadurch eine gewisse Distanz zwischen Objekt und Betrachter her. Sie transportiert allerdings auch eine emotional aufgeladene Atmosphäre, die der Besucher unweigerlich aufgreift. So sollte der Beginn der Ausstellung zu denken geben. Viele Ausstellungsstücke mögen heute grotesk und brachial erscheinen. Im zeitlichen Abstand wird Propaganda häufig mit ihrer für den „modernen“ Betrachter empfundenen Absurdität gleichgesetzt. Das Verbreiten weltanschaulicher Ideen zur Beeinflussung des allgemeinen Bewusstseins oder das Ausnutzen von Vertrauen und Anleiten einer nicht-hinterfragenden Öffentlichkeit erscheint befremdlich.

In hundert Jahren hat sich das Verhältnis zu Staat, Heimat und Vaterland wie auch das Verständnis von Menschlichkeit und Menschenwürde verändert. Mit dem Wandel in Denken und Moral geht auch ein technischer Fortschritt einher, der – oft wenig hinterfragt – unser mediales Zeitalter entscheidend prägt. Alles lässt sich heute minutiös medial-visuell in Form von Bildern begreiflich machen: royales Baby im Blazer, Wrackteile eines abgestürzten Flugzeugs, Kinder im Bombenschutt. Die Macht der Bilder leitet die Emotionen der Öffentlichkeit. Wie bei dem Bild im Eingang der Ausstellung stellt der Betrachter seine Echtheit kaum in Frage, bis er eines Besseren belehrt wird. Was wir sehen, ist real. Wie wirklich aber ist die abgebildete Realität, wie konstruiert ihr Rahmen und was sehen wir alles nicht? Ich denke, also bin ich. Ich seh’s, also stimmt’s?

 Informationen zur Ausstellung:

  • Die Ausstellung „Krieg und Propaganda 14/18“ läuft noch bis zum 2. November im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (Steintorplatz, direkt am Hauptbahnhof, Öffnungszeiten: Di-Do 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr).
  • Der Eintritt beträgt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro, donnerstags ab 17 Uhr erhalten alle Besucher ermäßigten Eintritt. Für bis unter 18-Jährige ist der Eintritt frei.
  • Der Katalog zur Ausstellung (224 Seiten, 180 Abbildungen in Farbe, in deutscher Sprache) ist im Museum für den Kaufpreis von 25 Euro erhältlich.
  • Weitere Informationen zur Ausstellung gibte es auf der Hompage des MKG oder im Medien-Portal der Ausstellung und telefonisch unter 040 / 428 134 – 880.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1675

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Schlachtjubel am Tor zur Welt

Autoren: Falk Wackerow, Johannes Valentin Korff.

Eine Stille nach dem Sturm, denn nur sechs Wochen sollten es nicht werden. Eine Stille, erbracht vor gar hundert Jahren an der Marne. Doch bevor sich der Sturm, ein Gewitter des Jubels, in Hamburg legte, sollte der August des Jahres 1914 verstreichen. Zuvor, in den letzten Wochen des krisenreichen Juli besagten Jahres, während die Bedrohung eines modernen Massenkrieges zunehmend spürbar wurde, stellten Mittel- und Außenmächte, Staaten wie Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich auf der einen, Serbien und das Russländische Reich auf der anderen Seite, einander Ultimaten. Mobilmachungen wurden ausgerufen, worauf zum Trotz Gegenmobilmachungen folgten. Kriegserklärungen mündeten final in den bis dato größten Konflikt der Menschheitsgeschichte. Die Rede ist vom Ersten Weltkrieg.

In vielen Städten Europas wurde frenetisch gefeiert, bevor die Schlacht an der Marne am 12. September 1914 diese Euphorie beendete. Zumindest war es bis vor zwanzig Jahren so in den populärwissenschaftlichen und fachlichen Publikationen zu lesen. Mittlerweile hat sich die Sicht der Dinge deutlich geändert: anstelle des Bildes einer allumfassenden Kriegsbegeisterung, die sämtliche Bevölkerungsschichten in chauvinistische Verzückung und bisweilen Raserei versetzte, ist eine neue Betrachtungsweise getreten. Die jüngsten Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass dieser Kriegsjubel, das sogenannte „Augusterlebnis“, in der Tat nicht alle Schichten betraf, sondern, im Gegenteil, der Krieg sehr unterschiedliche Reaktionen im Gefolge hatte. Besonders die Arbeiterklasse in den großen Städten war anfänglich eher kritisch eingestellt.

Hier wird sich nicht damit beschäftigt, ob es ein Augusterlebnis in Hamburg gab, denn die Vielzahl unterschiedlicher Quellen bestätigt diese Annahme recht eindeutig. Vielmehr soll erläutert werden, wie diese Augusttage tatsächlich in den verschiedenen Hamburger Schichten wahrgenommen wurden, denn das Bild der jubelnden Mengen an sich, wie in der älteren Forschung angenommen, ist lückenhaft. Die größten Volksmassen versammelten sich stets, um an Informationen in Form von Extrablättern zu gelangen, nicht um zu protestieren oder chauvinistische Parolen von sich zu geben. Es gilt zwischen der traditionellen Forschung bis etwa Anfang der 1990er Jahre, welche die These einer allumfassenden Kriegsbegeisterung vertreten hat, und jüngeren Ergebnissen, die sehr stark nach Schichtzugehörigkeit differenzieren, zu unterscheiden. Doch sei gesagt: Die Stimmung in der Bevölkerung Ende Juli/Anfang August 1914 zu erfassen, ist angesichts der Komplexität menschlicher Regungen eine Sisyphosarbeit, weswegen es schwerfällt, den Begriff des Augusterlebnisses hinreichend aufzuklären.

Verteidiger von Krieg und Frieden

Am 3. August drang eine aufgebrachte Menge in den beliebten Alsterpavillon. Ursprünglich als ein Hort des Hurrapatriotismus, wurde er vollkommen verwüstet. Der Direktor des Pavillons musste fast mit dem Leben bezahlen. Hätte er nicht das erneute Verlesen eines schon bekannten Extrablattes unterbinden wollen, es wäre vielleicht nicht so gekommen. Dieser und andere Zwischenfälle verdeutlichen die aufgeheizte Atmosphäre, in der häufig ein falsches Wort genügte, um sich dem Schimpf und oft genug den Prügeln der Umstehenden auszusetzen. Auch wenn die Kriegsbegeisterung, ihre gewalttätigen Züge inklusive, längst nicht jeden erfasste, so liegen doch erstaunlich viele Zeugnisse vor, in denen die Verfasser eine allgemeine öffentlich gelebte Freude über den Kriegsausbruch konstatierten, obgleich sie die Lage offensichtlich selbst nüchterner betrachteten als die von ihnen beobachteten Massen. Immer wieder fielen in diesem Zusammenhang Sätze, wie „das Ende der Katharsis des Friedens“, welche scheinbar einigen nationalistischen Kreisen eine Qual war. Möglicherweise liegt dem Phänomen Kriegsbegeisterung also eine Art von Masseneuphorisierung zugrunde, von einer sich immer weiter aufschaukelnden chauvinistischen Stimmung, welche zumindest in den ersten Tagen überwog. Erst allmählich sollte diese Euphorie einer Ernüchterung weichen.

Auch die Medien trugen als Repräsentationsorgane der, vor allem, bürgerlichen Schichten großen Anteil an der aufgeheizten Atmosphäre. In der Woche des 25. Juli, dem Tag der partiellen Ablehnung des österreich-ungarischen Ultimatums durch die serbische Regierung, bis zum deutschen Kriegseintritt am 1. August kam es zu vielen gewaltsamen Ausschreitungen und Zusammenstößen zwischen hurrapatriotischen und pazifistischen Gruppierungen. Tendenziell lassen sich deren Mitglieder nach ihrer Schichtzugehörigkeit klassifizieren. Studenten und ältere Höhergebildete aus dem bürgerlichen Milieu gehörten eher ersterer Gruppe an, während zu letzterer vor allem Arbeiter und Sozialdemokraten zu zählen sind. Besonders in den ersten Tagen fanden nationalistische Randalierer viel Zuspruch in der Presse, während Gegendemonstranten häufig als Vaterlandsverräter verunglimpft wurden. Es gab allerdings auch schon früh kritische Stimmen, beispielsweise vom Hamburger Echo. Wenig überraschend standen auch die sozialdemokratischen Blätter, allen voran der Vorwärts, aufseiten der Antikriegsdemonstranten. In einer Ausgabe wurden die Ausschreitungen auf die Trunkenheit und den jugendlichen Leichtsinn der Beteiligten zurückgeführt.Ein Ende der zusehends gewaltbereiten Demonstrationszüge gab es erst am 31. Juli, als die Polizei sämtliche öffentlichen Versammlungen untersagte. Zu diesem Zeitpunkt fanden solche allerdings ohnehin kaum noch statt, da an die Stelle des aufgeregten Hurrapatriotismus eine ernste, angespannte Stimmung getreten war, wie aus vielen Zeitungsberichten zu entnehmen ist. So hatten die Menschen eher mit Erregung auf die neusten Nachrichten gewartet, da der Krieg immer näher rückte.

Es lässt sich also sagen, dass keinesfalls nur hurrapatriotische Umzüge stattfanden. Ebenso marschierten Kriegsgegner durch die Straßen. Dabei ist die auf beiden Seiten zahlenmäßig nicht besonders starke Vertretung von Interesse. Die meisten Demonstrationen umfassten ein- bis zweitausend Teilnehmer, die größten einige zehntausend. Diese Zahlen sind weit entfernt von dem, was spätere Massendemonstrationen erreichen sollten und relativieren für sich allein stehend schon sämtliche Aussagen von umfassender Kriegsbegeisterung. Die meisten Hamburger blieben, schichtenübergreifend, während der Proteste zu Hause.

Dort standen die Sozialdemokraten

Anders als die liberalen und konservativen Kräfte des Reichstags wie der Hamburger Bürgerschaft, hatten die Sozialdemokraten seit ihren Gründungstagen immer ihren strikt pazifistischen Standpunkt bewahrt. Ambivalent ist jedoch das Verhalten vieler Sozialdemokraten und ihrer Sympathisanten in den letzten Juli- und ersten Augusttagen 1914. Auch an ihnen war die Radikalisierung eines deutschen Nationalstolzes – insbesondere nach der Reichsgründung 1871 – nicht spurlos vorübergegangen.

Die große Mehrheit führender SPD-Politiker, wie beispielsweise Karl Liebknecht und selbst vehemente Verfechter des Pazifismus, wie Rosa Luxemburg, sahen, wie auch konservative Kreise, in den militärischen Auseinandersetzungen einen Verteidigungskrieg der Mittelmächte und hielten daher zu ihrem Heimatland. Diese Perspektive liegt der kaiserlichen Propaganda zugrunde.

Dieser Umschwenk hin zur „patriotischen Vaterlandsverteidigung“, der sich in der sozialdemokratischen Öffentlichkeit entspann, kann nur durch eine Mischung verschiedener Motivationen erklärt werden. Zum einen darf der Einfluss des Nationalismus nicht unterschätzt werden. Zum anderen sahen wohl viele Sozialdemokraten die Möglichkeit, sich in einem „gerechten Krieg“ endlich vom Makel des „Vaterlandsverrats“ reinzuwaschen und ihren Teil dazu beizutragen, die Heimat gegen ausländische Aggressoren zu verteidigen. Zudem hegten auch die Anhänger der Klassenkampftheorie Ressentiments gegen das zaristische Russland, welches den ersten Gegner des Deutschen Reiches darstellte. Überlegungen, das unterdrückerische Zarenregime durch den Krieg zu stürzen, mögen also auch eine Rolle gespielt haben.

Auszug in Uniform

Die Entwicklungen wurden in der Bevölkerung höchst unterschiedlich aufgenommen und die Meinungen der Bürger blieben keinesfalls über den gesamten Betrachtungszeitraum unverändert. Als am 31. Juli tatsächlich der Ernstfall eintrat und die Bevölkerung per kaiserlicher Proklamation vom Kriegszustand in Kenntnis gesetzt wurde, waren die Reaktionen noch einmal überschwänglich. Dieses Mal schlossen sich auch zunehmend Sozialdemokraten dem Jubel an, seit der Patriotismus offiziell in die Parteilinie aufgenommen worden war. Allerdings endete der Rauschzustand, mit welchem sich die Erleichterung, dass es nun endlich losging, Bahn brach, ebenso abrupt, wie er aufgetreten war. An seine Stelle trat eine sorgenvolle Anspannung. Solange der Krieg ein vages, entferntes Konstrukt gewesen war, das sehr wenige direkt betroffen hatte, war das Säbelrasseln von großen Teilen der Gesellschaft gefeiert worden. Mit der Gewissheit, dass nun aber jeder einzelne persönlich betroffen war und viele Männer womöglich nicht zurückkehren würden, wich in Hamburg die Freude einer eher bedrückten Stimmung. Besonders die englische Kriegserklärung am 3. August wirkte sich negativ auf den Gefühlszustand aus, da man sich nunmehr drei Großmächten, gegenüber sah. Trotz der weit verbreiteten Ansicht, der Krieg sei in sechs Wochen zu beenden, schlichen sich Zweifel ein. Hier unterschied sich Hamburg von vielen anderen Großstädten des Reiches, in denen die Proklamationen enthusiastisch gefeiert wurden. Die Hamburger blieben, wie es ihrem Stereotyp entsprach, erstaunlich ruhig. Ein Stimmungsbild der Situation wirkt seltsam schizophren, da gleichzeitig Ausrufe der Erleichterung und schweigende Ernsthaftigkeit festgestellt werden können. „Die meisten Menschen waren niedergeschlagen, als wenn sie am nächsten Tag geköpft werden sollten“, schrieb beispielsweise der Bürgerliche Wilhelm Heberlein in sein Tagebuch.

Bei der Mobilmachung und vor allem bei der Verabschiedung der Soldaten, beim Auszug in den Krieg, kam noch einmal Festtagsstimmung auf. Dass diese allerdings von einer anderen Qualität als in den Tage zuvor und mit Resignation gemischt war, dürfte wenig überraschen. Der Auszug der eigenen Ehemänner, Söhne, Verwandten und Bekannten geschah unter Tränen, Solidaritätsbekundungen und Glückwünschen der Zurückbleibenden. Die Furcht aber blieb.

Weitere Jubelstürme gab es unter dem Eindruck der ersten Siege in Flandern, an denen das Hamburger 76. Infanterieregiment beteiligt war, auch wenn diese nicht mehr mit den ersten gleichgesetzt werden können.

Die ersten Verlustlisten waren noch kurz, der Vormarsch verlief nach Plan, und so warteten die Hamburger hoffnungsvoll auf ein schnelles Ende des Krieges. Der siegreiche Ausgang der Schlacht von Tannenberg belebte die Hochstimmung erneut. Das definitive Ende aller Augusterlebnisse brachte die Schlacht an der Marne Anfang September. Mit dem Stillstand der Westfront wurde ersichtlich, dass der Schlieffenplan nicht aufging und der Krieg nicht in den angesetzten sechs Wochen zu gewinnen war. Es kam in Hamburg zu einer Stille nach dem Sturm.

Dies geschah also

Aufgrund der schier unendlichen Vielzahl an persönlichen Augusterlebnissen ist es schwierig, ein zutreffendes Gesamtbild wiederzugeben. Auffällig ist, dass die Jubelstürme immer mit bestimmten Ereignissen zusammenhingen und danach relativ schnell wieder abebbten. Ein einzelnes, kontinuierliches Augusterlebnis hat es nie gegeben. In Bezug auf die Schichtzugehörigkeit muss die Aussage der neueren Forschung dahingehend relativiert werden, dass die Zuordnung einer bestimmten Reaktion zu einer Schicht als zu pauschal abzulehnen ist. Vielmehr gab es auch unter Bürgerlichen kritische Stimmen, und die Arbeiterschaft, anfangs kritisch und pazifistisch, stellte sich schnell auf den neuen Kurs der SPD-Parteiführung um und nahm die Fahnen der Vaterlandsverteidigung auf.

Weiterführende Literatur

Bendikowski, Tillmann: Sommer 1914. Zwischen Begeisterung und Angst – wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten, München 2014.

Kruse, Wolfgang: Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Entstehungszusammenhänge, Grenzen und ideologische Strukturen, in: van der Linden, Marcel; Mergner, Gottfried (ed.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 73- 88.

Meinssen, Heiko: Zwischen Kriegsbegeisterung, Kriegsfurcht und Massenhysterie. Hamburg im Juli/August 1914, Hamburg 2005.

Molthagen, Dieter: Das Ende der Bürgerlichkeit. Bürgerfamilien aus Liverpool und Hamburg im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2004 (=Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 42).

Münch, Phillip: Bürger in Uniform. Kriegserfahrungen von Hamburger Turnern 1914 bis 1918, Freiburg 2009.

Rojahn, Jürgen: Arbeiterbewegung und Kriegsbegeisterung. Die deutsche Sozialdemokratie 1870 – 1914, in: van der Linden, Marcel; Mergner, Gottfried (ed.): Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, S. 57-72.

Ullrich, Volker: Kriegsalltag. Hamburg im ersten Weltkrieg, Köln 1982.

Ullrich, Volker: Vom Augusterlebnis zur Novemberrevolution. Beiträge zur Sozialgeschichte Hamburgs und Norddeutschlands im Ersten Weltkrieg, Bremen 1999.

Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1526

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Versandhausgründer Otto mit Straße geehrt

Für den Hamburger Otto Konzern ist dieser August ein geschichtsträchtiger Monat: Der Geburtstag des 2011 verstorbenen Firmengründers Werner Otto jährt sich zum 105. mal – die Grundsteinlegung des Firmensitzes in der „Wandsbeker Straße“ im Stadtteil Bramfeld kann immerhin mit einem 55. Jahrestag gefeiert werden. Dieses Jubiläum nimmt der Senat zum Anlass, die „Wandsbeker Straße“ am heutigen 15. August in „Werner-Otto-Straße“ umzubenennen. Otto, der zu Lebzeiten nicht nur wichtiger Arbeitgeber sondern auch großzügiger Mäzen der Stadt war, gelingt es auf diese Art, auch noch nach seinem Tod Spuren in Hamburg zu hinterlassen.

Werner Otto ist im Bewusstsein vieler Menschen ein Ur-Hamburger und fest mit der Stadt verbunden. Tatsächlich hat er aber nur einen geringen Teil seiner Lebenszeit in der Hansestadt verbracht. Einer Anekdote zufolge, sollte er anfangs nicht einmal einen Gewerbeschein bekommen. Angeblich konnte man sich in der Stadt nicht vorstellen, wofür ein Schuhversand nützlich sein sollte.

Preußische Tugenden treffen auf Hanseatisches Unternehmertum

Geboren wird Werner Otto in der Mark Brandenburg, in der Gemeinde Seelow, etwa 80 Kilometer östlich von Berlin, wo er die ersten Jahre der Kindheit verbringt. Später zieht die Familie in die Uckermark, wo er das Gymnasium besucht und eine kaufmännische Lehre beginnt. Nach Zwischenstationen in Stettin, Berlin und dem westpreußischen Kulm kommt Otto erst zu Ende des zweiten Weltkriegs nach Hamburg. Wie er in seinem Buch „Die Otto-Gruppe“ schreibt, lediglich mit einem „Koffer mit Papiergeld“ sowie Ausweisen als Flüchtling, Schwerkriegsbeschädigter und politischer Häftling – nichts, was als Startvorteil dienlich gewesen wäre. Otto: „Es hieß wieder neu zu beginnen, gleichgültig wie und wo.“[i] Warum er ausgerechnet in Hamburg strandete, bleibt unklar und kann vermutlich dem Zufall zugeschrieben werden. Beziehungen oder Geschäftskontakte in der Stadt besitzt er nicht. 1948 eröffnet Werner Otto auf einem Grundstück in Hamburg-Schnelsen eine Schuhfabrik, die aber bald wieder schließen muss. Ein Jahr später gründet er schließlich im Alter von 40 Jahren die Firma „Werner Otto Versandhandel“, die am 17. August 1949 bei der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr eingetragen wird. Als Unternehmenssitz dienen zwei kleine Baracken in Schnelsen, in denen zu Beginn drei Mitarbeiter beschäftigt sind.

Doch bereits Anfang der 70er Jahre kann Werner Otto dem feuchten Klima in Hamburg nur noch wenig abgewinnen und entschließt sich, seinen Lebensmittelpunkt von der regnerischen Hansestadt nach Garmisch-Partenkirchen zu verlegen. Laut Michael Otto, dem ältesten Sohn des Versandhausgründers, sei sein Vater durch die zahlreichen Ortswechsel in seiner Jugend innerlich nie wirklich an eine bestimmte Stadt gebunden gewesen.[ii] So zieht es Werner Otto direkt nach der Wiedervereinigung zurück in die Hauptstadt Berlin, an der er vor allem das Schnelle und Quirlige liebt. Dort verbringt er seine letzten Lebensjahre. Hingegen stellt der frühere Bischof Professor Wolfgang Huber in seiner Predigt anlässlich der Trauerfeier zum Tode Werner Ottos heraus, dass dieser auf verschlungenen Wegen ein „überzeugter“ Hamburger geworden sei und erst in den letzten Lebensjahren wieder zum Berliner.[iii]

Der aufstrebende Unternehmer Anfang der 1950er Jahre an seinem Schreibtisch (Quelle: Otto Group)

Der aufstrebende Unternehmer Anfang der 1950er Jahre an seinem Schreibtisch (Quelle: Otto Group)

Der erste Katalog von "W. Otto" mit selbst eingeklebten Produktfotos (Quelle: Otto Group)

Der erste Katalog von “W. Otto” mit selbst eingeklebten Produktfotos (Quelle: Otto Group)

„Ich bin Hamburger geworden, ohne es richtig zu merken.“

Jedoch ist die Firma OTTO selbst seit jeher ein „Hamburger Kind“, wozu sich das Unternehmen über viele Jahre mit dem Slogan „Otto Versand – Hamburg“ bekannt hat. Werner Otto hatte erkannt, dass Kunden mit der Stadt Weitläufigkeit und Offenheit sowie die traditionelle Verlässlichkeit der Hanseaten verbanden. Er schrieb einmal dazu, Hamburg sei ein Begriff für die meisten Menschen in Deutschland, ein Begriff von Weltstadt und pulsierendem Leben, Hafenstadt, Tor zu Welt, Solidität und Korrektheit.[iv] Dabei steht 1958 auch der Standort in der Hansestadt in Frage. Ein neues Gelände für den Firmensitz wird gesucht, weil das alte zu klein und ohne Ausbaureserve ist. Während es in Hamburg keine geeignete Fläche zu geben scheint, kommen zahlreiche attraktive Angebote aus Schleswig-Holstein. Das Land hätte sogar verschiedene Steuervorteile versprochen, schreibt Otto später.[v] Schließlich fällt Werner Otto die Entscheidung für Hamburg, u.a. weil der Transfer der Mitarbeiter nach Schleswig-Holstein damals nicht möglich gewesen wäre. Zu seiner Standortwahl sagt er später: „Ich bin Hamburger geworden, ohne es richtig zu merken.“ Und: „Hamburg, das hat was.“[vi]

Und tatsächlich, durch sein Engagement hat es Werner Otto geschafft, sich selbst in die Geschichte und das Stadtbild Hamburgs einzuschreiben. Am augenscheinlichsten wird dies am Jungfernstieg, dessen Neugestaltung er mit vier Millionen Euro unterstützt, damit der Boulevard an der Hamburger Binnenalster in altem Glanz erstrahlen kann. „Hamburg braucht den Jungfernstieg, er ist wichtig für die Entwicklung der Stadt“[vii], erklärt Werner Otto am Rande der Jungfernstieg-Gala 2003. An anderer Stelle, im Rahmen eines Projekts der 1969 gegründeten “Werner Otto Stiftung”, wird das wissenschaftliche Behandlungszentrum für Krebskrankheiten im Kindesalter an der Universitätskinderklinik Hamburg-Eppendorf eröffnet. 1974 gründet Werner Otto das „Werner Otto Institut“ auf dem Gelände der Stiftung Alsterdorf in Hamburg, die erste und bisher einzige Spezialeinrichtung Norddeutschlands, die sich ausschließlich mit der Früherkennung und Behandlung entwicklungsgestörter oder behinderter Kinder und Jugendlicher befasst.

13. August 1959: Grundsteinlegung für den Neubau des Otto Versands in Hamburg-Bramfeld (Quelle: Otto Group)

13. August 1959: Grundsteinlegung für den Neubau des Otto Versands in Hamburg-Bramfeld (Quelle: Otto Group)

V.l.n.r.: Dr. Michael Otto mit Frau Christel, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren und Alexander Otto mit seiner Frau Dorit bei der Einweihung des Jungfernstiegs im Mai 2006 (Quelle: ECE)

V.l.n.r.: Dr. Michael Otto mit Frau Christel, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren und Alexander Otto mit seiner Frau Dorit bei der Einweihung des Jungfernstiegs im Mai 2006 (Quelle: ECE)

Der Heimat treu geblieben

Doch auch seine Heimat vergisst Werner Otto nie. Wie sein Sohn Alexander Otto beschreibt, hat sich Werner Otto gegen Lebensende immer stärker mit dem Osten Deutschlands verbunden gefühlt, mit den Orten, in denen er seine Jugend verbracht hat.[viii] Beispielsweise unterstützt er die Restaurierung seiner Taufkirche in Seelow, die im 2. Weltkrieg zerstört wurde. Als der Seelower Superintendant Roland Kühne schriftlich fragt, ob Werner Otto Ehrenmitglied des Fördervereins für den Wiederaufbau des Turms werden wolle, antwortet dieser: „Nein, damit ist Ihnen ja nicht gedient. Aber ich übernehme die Hauptkosten.“[ix] So erklingt nach 53 Jahren in Seelow wieder ein Glockengeläut, was eine ganz besondere Bedeutung für Werner Otto hatte.

Ähnlich pragmatisch geht Werner Otto bei der Restaurierung des Potsdamer Schlosses „Belvedere“ vor. Zunächst hatte er 2,3 Millionen Euro zugesagt, eine Summe, die gerade für die Instandsetzung des Westturms der Anlage ausreicht. Bei der Eröffnung 1992 sagt Werner Otto fast beiläufig zur damaligen brandenburgischen Finanzministerin Wilma Simon: „Wir sollten das jetzt mal fertigbauen, ich übernehme auch noch den anderen Turm.“[x] In Berlin spendet Werner Otto u.a. dem Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt 4,5 Millionen Euro für die Gestaltung eines Werner-Otto-Saals, der heute für Kammerkonzerte, Bankette oder Proben genutzt wird.

An fast jedem Ort, an dem er lebte, hat Werner Otto seine Spuren hinterlassen und ist auf diese Weise Teil der jeweiligen Stadt geworden. Wie Wolfgang Peiner, früherer Mitarbeiter Werner Ottos und ehemaliger Finanzsenator Hamburgs, beschreibt, steht dieser auch für die Stadt an sich. „Er ist Großstädter aus Überzeugung und setzt sich für eine menschengerechte Stadtentwicklung ein.“[xi] Werner Otto selbst erklärt, Menschen seien ihm wichtiger als Bilanzen[xii]. Für Hamburgs ehemaligen Bürgermeister Ole von Beust besteht darin seit jeher ein Teil des Selbstverständnisses der Hamburger Bürgerrepublik. Wenn es darum geht, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen, hätten Persönlichkeiten wie Werner Otto Maßstäbe gesetzt. „Kaum eine Person, kaum eine Familie nimmt sowohl hanseatische Tradition als auch Unternehmerverantwortung so ernst wie Werner Otto, wie die Hamburger Unternehmerfamilie Otto.“[xiii] Sicher kommen Werner Otto, der sagt, er habe die Merkmale der Mark verinnerlicht[xiv], dabei auch seine preußischen Wurzeln und Tugenden zugute.

Bundespräsident Johannes Rau und seine Frau Christiane mit Werner Otto (v.l.) im Juni 2003 bei der Einweihung des restaurierten Belvedere. (Quelle: ECE)

Bundespräsident Johannes Rau und seine Frau Christiane mit Werner Otto (v.l.) im Juni 2003 bei der Einweihung des restaurierten Belvedere. (Quelle: ECE)

11.08.2009: Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit  V.l.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren (Quelle: Trenkel/BExclusive)

11.08.2009: Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit
V.l.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren (Quelle: Trenkel/BExclusive)

Ehre, wem Ehre gebührt

Für sein unternehmerisches und soziales Engagement erhält der Versandhausgründer verschiedene Auszeichnungen, z.B. das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, die Ehrendenkmünze in Gold des Hamburger Senates, den Ehrentitel Professor der Freien und Hansestadt Hamburg, die Ernst-Reuter-Plakette des Senates Berlin, den Verdienstorden des Landes Brandenburg sowie die Ehrenbürgerwürde in Berlin und seiner Geburtsstadt Seelow. Zur Verleihung der höchsten Auszeichnung des Hamburger Senats, der Bürgermeister-Stolten-Ehrenmedaille, erklärt Ole von Beust, das von Werner Otto gegründete Unternehmen habe längst Weltgeltung erlangt und ergänzt scherzhaft: „Einziger Wermutstropfen, Sie sind kein Hamburger.“[xv]

Letztlich hat diese Tatsache Werner Ottos Ansehen und Gedenken aber nicht geschadet. Mit der Ehrung durch die eigene Straße beweist Hamburg mehr als nur Gastfreundschaft. Mit ihr ist Werner Otto nun im wahrsten Sinne des Wortes Teil der Stadt.


[i] Otto, Werner: Die Otto-Gruppe, S. 35

[ii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 43

[iii] Vgl. Huber, Wolfgang: Predigt in der Trauerfeier. http://www.wolfganghuber.info/predigten/112-zur-trauerfeier-fuer-werner-otto.html

[iv] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 72

[v] Otto, Werner: Die Otto-Gruppe, S. 65

[vi] Mattner, Dr. Andreas /Robert Heinemann: Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3, S. 16

[vii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 189

[viii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 149

[ix] Mattner, Dr. Andreas /Robert Heinemann: Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3, S. 14

[x] Mattner, Dr. Andreas /Robert Heinemann: Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3, S. 15

[xi] http://www.werner-otto.info/zitate.html

[xii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 201

[xiii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 209

[xiv] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 14

[xv] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 210

 

Literaturhinweise:

  •  ECE Projektmanagement G.m.b.H. & Co. KG: Zitate. http://www.werner-otto.info/zitate.html. 11.08.2014
  • Huber, Wolfgang: Predigt in der Trauerfeier für Werner Otto am 19. Januar 2012 in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin. PDF http://www.wolfganghuber.info/predigten/112-zur-trauerfeier-fuer-werner-otto.html. 11.08.14
  • Mattner, Dr. Andreas/Heinemann, Robert; Stiftung Lebendige Stadt (Hrsg.): Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3: Die menschliche Marktwirtschaft. Unternehmer übernehmen Verantwortung. Frankfurt am Main 2004.
  • Schmoock, Matthias: Werner Otto. Der Jahrhundert-Mann. Frankfurt am Main 2009.
  • Otto, Werner: Die Otto-Gruppe. Mit 12 Unternehmerprinzipien zum Erfolg. Düsseldorf und Wien 1983.

Zum Weiterschauen:

WDR: Deutsche Dynastien. Otto. https://www.youtube.com/watch?v=vgVGzWh78w0

 

 

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1485

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BallinStadt: Zerstörtes Lebenswerk

Im Sommer 2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal. Ab Juli thematisiert das Auswanderermuseum BallinStadt in einer Sonderausstellung die Auswirkungen des Krieges auf die Auswandererhallen auf der Veddel. Diese Pavillon-Anlage gewährte europäischen Emigranten den Aufenthalt vor ihrer Abreise in die neue Welt. Um einen Vorgeschmack auf die Geschichte der Hallen zu geben, werfen die Hamburgischen Geschichten schon jetzt einen Blick auf die Entstehung und Entwicklung der Auswandererhallen.

Das Auswanderungsgeschäft war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein wichtiger Wirtschaftsfaktor Hamburgs. Die Stadt entwickelte sich zum größten Auswandererhafen Deutschlands – ein Nadelöhr auf dem Weg in die neue Welt. Von hier aus starteten die Schiffe der Reederei Hapag (Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft).

Die Hamburg-Amerika-Linie hatte im Jahr 1892 Auswandererbaracken am Amerika-Kai errichtet. Im Jahr 1901 folgte der Umzug auf die Veddel. Die neuen Auswandererhallen boten Platz für mehr als 1000 Personen und beherbergten eine eigene Infrastruktur. Die Anlage bestand zunächst aus 15 Gebäuden: ein Empfangsgebäude, fünf Schlaf- und Wohnpavillons, zwei Hotels, eine Speisehalle, eine Kirche, ein Musikpavillon, ein Verwaltungsgebäude, ein Lazarett, ein Gepäckschuppen sowie ein Stall. Da der Andrang groß war, wurden die Auswandererhallen auf der Veddel nach drei Jahren erweitert. Auf dem Gelände von etwa 55.000 Quadratmeter standen nun mehr als 30 Gebäude, die bis zu 5.000 Menschen aufnehmen konnten.

Mit den Auswandererhallen, die 1901 fertig gestellt wurden, entwickelte die Hapag im Auswanderergeschäft ein gut funktionierendes und gewinnbringendes System. Die Reederei warb von nun an mit „All-inclusive-Angeboten“ um die Auswanderer: Mit dem Kauf des Schiffstickets erhielten diese auch die Karte für die Fahrt in Zügen von den Grenzkontrollstationen zu den Hafenstädten und die Unterbringung und Verpflegung in den Auswandererhallen. Von den 156.000 Auswanderern, die im Jahr 1907 Hamburg verließen, übernachteten rund 113.000 auf der Veddel.

Die Idee und Planung dieser Hallen fiel auf Albert Ballin zurück, weshalb das Museum heute seinen Namen trägt. Ballin wurde am 15. August 1857 geboren. Sein Vater Samuel Joel Ballin, der sich später Joseph Ballin nannte, war Gründer der unabhängigen Auswandereragentur Morris & Co. Die Agentur warb Auswanderer an und organisierte den Transport der Emigranten zum Hamburger Hafen. Als Albert Ballins Vater 1874 starb, übernahm der junge Ballin die Führung der Auswandereragentur.

Um mehr Kundschaft zu gewinnen, änderte Ballin das Konzept der Agentur und organisierte nun auch die Überfahrt selbst. Dieses Angebot fand so viel Zuspruch, dass seine Firma scharfe Konkurrenz für die Hapag wurde. Um die Hapag zu retten, kaufte die Reederei im Jahr 1886 Ballins Firma. Zwei Jahre später wurde Albert Ballin in den Vorstand der Hapag gewählt.

Zu diesem Zeitpunkt besaß die Reederei keine ernst zu nehmende Führung und befand sich in einer Krise. Dank Ballins Fähigkeit Marktlücken zu erkennen, gelang es, die Wende für die Hapag herbeizuführen. 1897 war die Reederei unter Ballins Leitung zur größten der Welt geworden – und blieb dies bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Die Niederlage Ballins durch den Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg änderte die Situation für die Hapag grundlegend, denn mit der Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich brach die Hapag zusammen: Anfang November 1914 erklärte die britische Admiralität die gesamte Nordsee zur Kriegszone, sperrte sie und den Kanal zwischen Norwegen und Schottland für die deutsche Schifffahrt. Die Auswanderung über Hamburg war von nun an nicht mehr möglich.

Mit Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im April 1917 wurden zudem 35 Hapag-Schiffe beschlagnahmt, die in den US-Häfen vor Anker lagen. Damit waren die Auswanderer- und Kreuzfahrtschiffe nicht mehr in der Hand der Hapag, was einen großen Einbruch für die Reederei bedeutete.

Die Auswandererhallen auf der Veddel, die für die Auswanderer nicht mehr von Nutzen waren, wurden zu einem Marine-Lazarett umfunktioniert. Hamburg verlor einen großen Wirtschaftszweig.

Unter Ballins Führung wurde die Hapag zur größten Reederei der Welt – das Tor zu dieser Welt wurde Hamburg. Durch den Ersten Weltkrieg verlor Ballin dieses Lebenswerk jedoch. Am 8. November 1918 nahm er eine Überdosis Beruhigungsmittel, an denen er einen Tag später, am 9. November 1918, starb.

Nähere Informationen zu den Auswandererhallen im Ersten Weltkrieg sind ab Juli 2014 in der Sonderausstellung der BallinStadt zu entdecken.

 

Zum Weiterlesen:

  • Gerhardt, Johannes: Albert Ballin. Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung (Hrg.), Hamburg 2009.
  • Wiborg, Susanne: Albert Ballin. Hamburger Köpfe, Herausgegeben von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg 2000.

 

Katharina Reissmann ist Studentin an der Universität Hamburg am Historischen Seminar.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1415

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Reemtsma: Ein Stück frühe Werbegeschichte

Als der Erfurter Zigarettenhersteller Reemtsma in den 1920er-Jahren seinen Sitz nach Altona verlegte, revolutionierte das Unternehmen mit seinem neuen und professionellen Auftreten erst den Hamburger und schließlich den gesamtdeutschen Zigarettenmarkt. Damit legte der Konzern den Grundstein für die Herausbildung vieler prominenter Marken, die der Firma langjährigen Erfolg bescherten: 2010 konnte das Traditionsunternehmen 100-jähriges Bestehen feiern.

Die Firmengeschichte des Zigarettenherstellers Reemtsma beginnt 1910, als der Kaufmann Bernhard Reemtsma die Erfurter Zigarettenfabrik Dixi aufkauft, die lediglich sechs Mitarbeiter beschäftigt. Das Unternehmen schafft es, den Ersten Weltkrieg finanziell zu überleben. Alle Söhne Bernhard Reemtsmas steigen nach dem Krieg in das Unternehmen ein und ermöglichen so einen Neuanfang, begünstigt durch das Marktvakuum, welches durch das Fehlen von qualitativem Rohtabak während des Krieges entstand.

1923 zog das Familienunternehmen, inzwischen geführt von den Brüdern Alwin, Hermann und Philipp Reemtsma, auf ein ungenutztes Kasernengelände in Altona-Bahrenfeld um. Die Firma hatte viele Neuerungen mit im Gepäck: ein neues Logo, ein professionelles und einheitliches Auftreten des Unternehmens sowie die Möglichkeit zur industriellen Massenfertigung. Damit unterschied sich Reemtsma deutlich von den meisten anderen Hamburger Zigarettenherstellern, die zum großen Teil noch in Handarbeit in Hinterhoffabriken und ohne die Absicht eines markenbewussten Auftretens produzierten.

 

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Leinwand mit dem Firmenlogo, entworfen von Wilhelm Deffke, 1920 / Grafik: Museum der Arbeit (Hamburg) Reemtsma-Archive (im Folgenden: MdA ReeA) MA.D 2012/001.17

 

Domizlaff und Deffke, zwei Ikonen der modernen Werbung

Schlüsselereignis für den Innovationsschub bei Reemtsma war die Bekanntschaft der Unternehmer mit dem Grafiker und Werbefachmann Hans Domizlaff im Jahr 1921. Dieser galt zwar als erfindungsreicher Visionär, aber auch als schwieriger und exzentrischer Charakter. Dennoch wurde Domizlaff Reemtsmas Werbeberater und bleib bis 1958 für das Unternehmen tätig. Seine Ideen formten Reemtsmas Bild nach außen und innen nachhaltig. Bereits durch dieses Anstellungsverhältnis bewies das Unternehmen ein Gespür dafür, Trends in der Konsumindustrie- und gesellschaft frühzeitig zu erkennen. Gezielte Werbung war in den 1920er-Jahren in vielen Branchen noch ein Novum, ebenso eigens Personal zum Entwickeln von Werbestrategien und Unternehmenskommunikation anzustellen.

Domizlaff erschuf ein homogenes und einprägsames Auftreten der Firma in allen Bereichen und war immer um einen Wiedererkennungswert Reemtsmas bemüht. Mit solchen Ansätzen, die Vorläufer der heutigen Corporate Identity[1] waren, kann er als einer der Begründer der modernen Markentechnik gesehen werden.

Bereits vor dem Engagement mit Domizlaff unternahm Reemtsma einen wichtigen Schritt in Richtung eines professionellen Erscheinungsbildes. 1920 führte das Unternehmen ein neues Signet ein, gestaltet vom Gebrauchsgrafiker Wilhelm Deffke. So wie Hans Domizlaff als Begründer der Markentechnik bezeichnet werden kann, so wird Deffke oftmals als Vater des modernen Logos gehandelt. Deffke, vom Bauhaus inspiriert, entwarf für Reemtsma ein stark reduziertes, fast strenges Logo. Es zeigt einen stilisierten Bug eines Wikingerschiffes vor einer roten Sonne.

 

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Werbeplakat Eugen Schmidt mit Wikingerschiff und Reemtsma-Logo, ca. 1921 / Grafik: MdA ReeA MA.D 2012/001.14

 

Ab diesem Zeitpunkt war auf allen Reemtsma-Produkten das neue Logo in angepasster Form zu finden. Dieses Vorgehen bezog sich nicht nur direkt auf die Produkte, also die Zigarettenpackungen, sondern setzte sich auch in Anzeigen und Plakaten fort. Dies war einer der Verdienste Domizlaffs. Mit seiner neuartigen Auffassung von Kommunikation zwischen Unternehmen und Verbraucher war er darauf bedacht, dass alle Marken des Hauses, auch wenn sie unterschiedliche Kundentypen ansprechen sollten, die gleiche Linie verfolgten. In Reemtsmas Fall hieß diese Linie hohe Qualität für den anspruchsvollen Kunden, da das Unternehmen überwiegend höherpreisige Marken für den gehobenen Bedarf herstellte. Domizlaff, der schnell in der Unternehmenshierarchie Reemtsmas aufstieg, war daher besonders darauf aus, ein breites Angebot an Marken zu schaffen, die jedoch den gleichen verlässlichen Standard beibehielten. Das Reemtsma-Logo sollte dies als eine Art Versprechen an den Verbraucher garantieren. Dieses Versprechen gewinnt an Bedeutung, wenn berücksichtigt wird, dass die Qualität von Tabakprodukten während der Kriegsjahre stark abgenommen hatte.

Auch war diese Art der Vermarktung für die Zigarette als einem Produkt ohne oder mit sehr wenigen Eigenschaften bedeutsam; sie ermöglichte es dem Produkt, sich von seiner Konkurrenz abzuheben. So entstanden in den zwanziger Jahren unter der Ägide von Hans Domizlaff beispielsweise Marken wie R6 und Ernte 23, beide in einer schlichten Aufmachung, die für technische Überlegenheit und ausgewählte Qualität stehen sollen. Sie zählen auch heute noch zur Reemtsma Produktpalette.[2]

 

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Zigarettenpackung der Marke Reemtsma Gold, 1920 / Grafik: MdA ReeA MA.O 2007/003.4179

 

Trotz der Strategie, für jeden Kunden die passende Marke anbieten zu wollen, beschränkt sich Reemtsma auf die Herstellung einiger weniger, dafür aber stark charakteristischer Marken. Auch damit hebt sich das Unternehmen von der Masse der Zigarettenproduzenten ab. Anders als heute waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehrere hundert verschiedene Zigarettenmarken auf dem Markt. Viele von ihnen jeweils nur für sehr kurze Zeit. Erreichte eine Marke nicht den gewünschten Umsatz, wurde sie ohne langes Zögern vom Markt genommen. Reemtsma hingegen war eine der ersten Firmen, die bewusst Markenkonzepte entwickelte und diese umsetzte.

Kampf gegen alte Symbolwelten

Das strenge Design Deffkes und die autoritäre Art Domizlaffs schienen als treibende Kräfte des noch jungen Unternehmens gut zu korrespondieren. Die Entscheidung, gleich zwei so visionäre Köpfe zu beschäftigen, mag den Reemtsma-Brüdern dennoch nicht leicht gefallen sein. Obwohl sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Abkehr von der wilhelminischen Wert- und Weltvorstellung vollzog, und damit auch in den Bereichen Konsum, Design und Werbung die Türen für einen Neuanfang offen standen, hielten viele Unternehmen noch lange Zeit an der traditionellen Symbolik des Kaiserreiches fest. Reemtsmas Entscheidung, sich der Strömung der Moderne und Erneuerung anzuschließen, war also mit einem gewissen Risiko verbunden.

 

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Zigarettenpackung Marke Dreiersachsen, 1925 – Steht für die alte Symbolstruktur / Grafik: MdA ReeA MA.O 2007/003.3224
 
 

 

Die Gestaltung typischer Zigarettenpackungen der Vorkriegs- und Kriegsjahre war geprägt von Ornamentreichtum und heraldischen Zeichen wie Wappen, Adler und Flaggen, mit denen Bezug auf das Kaiserreich genommen wurde. Aus heutiger Sicht wirken diese dadurch oft mit Symbolen „überladen“ und standen im Kontrast zu den im Verhältnis schlichten Verpackungen der Reemtsma-Produkte. Das Gleiche gilt auch für die Markennamen. Eine große Anzahl der frühen Marken wie „The Kaiser“, „General Goeben“, „Unsere Marine“ und „v. Hindenburg“, trugen Bezeichnungen, die ganz offen eine Loyalität zur Monarchie sowie einen gewissen Nationalismus bekundeten. Die Reemtsma-Produkte der 1920er-Jahre waren weitgehend frei von solchen Botschaften. Nach dem Ersten Weltkrieg änderten Firmen die Namen ihrer Marken und ähnelten in diesem Punkt dem Reemtsma-Sortiment, doch ihre klassische Vorkriegsoptik blieb zunächst bestehen. Vermutlich auch, um die traditionelle Käuferschaft nicht zu verlieren.

Wie sehr diese noch in den alten Symbolstrukturen und Bildwelten verwurzelt war, zeigen die Reaktionen auf die Veröffentlichung des umgestalteten Reemtsma-Logos. 1920 wurde das Logo erstmals plakatiert – insgesamt 6000-mal entlang wichtiger Bahnstrecken Deutschlands. Viele Käufer zeigten sich empört über dieses als aggresiv[3] empfundene Zeichen. Sogar das Entfernen dieser Reklame wurde mehrfach verlangt. Das Unternehmen hielt jedoch an der Kampagne fest und ließ sich vom Reichkunstwart Edwin Redslob die Funktionalität und damit die Existenzberechtigung für das Logo bestätigen.

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Zigarettenpackung der Marke R6, entwickelt von Hans Domizlaff, ca. 1921 / Grafik: MdA ReeA MA.O 2007/003.4438

 

„Der volkswirtschaftlich so wichtigen Hinwendung zum Markenartikel“, so Redslob, „entspricht hierbei die Notwendigkeit, alle Markenartikel durch Warenzeichen zu kennzeichnen, die sich leicht einprägen. Hierfür bietet das Reemtsma-Warenzeichen eines der besten Beispiele, die mir bisher bekannt geworden sind.“[4]

Diese Einschätzung bestärkte Reemtsma in seinem Kurs und nach den ersten anfänglichen Schwierigkeiten setzte sich das Reemtsma-Logo auch bei den Käufern durch.

Diese Kombination aus einem offen zur Schau gestellten Bekenntnis zu Moderne, Technik und Fortschritt und einer Produktpalette, die dem Käufer suggerierte, für jeden ganz persönlichen Geschmack die perfekte Marke bieten zu können, bescherte den Reemtsma Cigarettenfabriken nachhaltigen Erfolg. Das gezielte Bewerben ihrer Produkte und das Wahren eines hohen Qualitätsanspruchs ermöglichte es dem Unternehmen, das Stigma einer Kleinfirma nach und nach zu überwinden. Gegen Ende der 1920er-Jahre stieg Reemtsma, noch vor seinem 20-jährigen Bestehen, zum Marktführer[5] auf.



[1] Gries, Rainer; Ilgen, Volker, Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995, S. 47.

[2] Böllert, Susanne: 100 Jahre Deutsche Industriegeschichte. 1910-2010. Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Hamburg 2010, S. 34.

[3] Jacobs, Tino: Zwischen Institution und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, S. 148-178. In: Berghoff, Hartmut (Hrsg.): Marketinggeschichte. Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt a.M., 2007, S. 153.

[4] Jacobs: S. 153.

[5] Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen“ Die Erfindung der Markentechnik als Herrschaftsinstrument, in: Forum Schulstiftung (Nr. 45, 12/2006), S. 85.

 

Literaturhinweise

  • Böllert, Susanne: 100 Jahre Deutsche Industriegeschichte. 1910-2010. Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Hamburg 2010.
  • Gries, Rainer; Ilgen, Volker, Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse krichen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995.
  • Jacobs, Tino: Zwischen Institution und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, S. 148-178. In: Berghoff, Hartmut (Hrsg.): Marketinggeschichte. Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt a.M. 2007.
  • Lindner, Erik: Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie. München 2008.
  • Rahner, Stefan; Museum der Arbeit (Hrsg.): Werbewelten made in Hamburg. 100 Jahre Reemtsma. Hamburg 2010.
  • Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen“ Die Erfindung der Markentechnik als Herrschaftsinstrument, in: Forum Schulstiftung (Nr. 45, 12/2006), S. 80-92, URL: http://www.schulstiftung-freiburg.de/de/forum/pdf/pdf_218.pdf.
  • Weisser, Michael: Cigaretten-Reclame. Über die Kunst, blauen Dunst zu verkaufen. Münster 1980.
  • Writes, Houston: Reemtsma. Von der Feldzigarette zur Anti-Wehrmachtsausstellung. Selent 2002.

 

Weiterführende Links

Werbemittelarchiv der Reemtsma Cigarettenfabriken am Museum der Arbeit Hamburg
PolitCIGs – die Kulturen der Zigarette und die Kulturen des Politischen

 

Zur Autorin:
Merle Strunk (B.A.) ist Master-Studentin der Geschichtswissenschaft an der Universität Hamburg und wissenschaftliche Hilfskraft im BMBF- Forschungsverbund “PolitCIGs”.

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1276

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Reemtsma: Ein Stück frühe Werbegeschichte

von Merle Strunk – Als der Erfurter Zigarettenhersteller Reemtsma in den 1920er-Jahren seinen Sitz nach Altona verlegte, revolutionierte das Unternehmen mit seinem neuen und professionellen Auftreten erst den Hamburger und schließlich den gesamtdeutschen Zigarettenmarkt.  Damit legte der Konzern den Grundstein  für die Herausbildung vieler prominenter Marken, die der Firma langjährigen Erfolg bescherten: 2010 konnte das Traditionsunternehmen 100-jähriges Bestehen feiern.

Die Firmengeschichte des Zigarettenherstellers Reemtsma beginnt 1910, als der Kaufmann Bernhard Reemtsma die Erfurter Zigarettenfabrik Dixi aufkauft, die lediglich sechs Mitarbeiter beschäftigt. Das Unternehmen schafft es den Ersten Weltkrieg finanziell zu überleben. Alle Söhne Bernhard Reemtsmas steigen nach dem Krieg in das Unternehmen ein und ermöglichen so einen Neuanfang, begünstigt durch das Marktvakuum, welches durch das Fehlen von qualitativem Rohtabak während des Krieges entstand.

1923 zog das Familienunternehmen, inzwischen geführt von den Brüdern Alwin, Hermann und Philipp Reemtsma, auf ein ungenutztes Kasernengelände in Altona-Bahrenfeld um. Die Firma hatte viele Neuerungen mit im Gepäck: ein neues Logo, ein professionelles und einheitliches Auftreten des Unternehmens sowie die Möglichkeit zur industriellen Massenfertigung. Damit  unterschied sich Reemtsma deutlich von den meisten anderen Hamburger Zigarettenherstellern, die zum großen Teil noch in Handarbeit in Hinterhoffabriken und ohne die Absicht eines markenbewussten Auftretens produzierten.

 

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Leinwand mit dem Firmenlogo, entworfen von Wilhelm Deffke, 1920                      / Grafik: MdA ReeA MA.D 2012/001.17

 

Domizlaff und Deffke, zwei Ikonen der modernen Werbung

Schlüsselereignis für den Innovationsschub bei Reemtsma war die Bekanntschaft der Unternehmer mit dem Grafiker und Werbefachmann Hans Domizlaff im Jahr 1921. Dieser galt zwar als erfindungsreicher Visionär, aber auch als schwieriger und exzentrischer Charakter. Dennoch wurde Domizlaff Reemtsmas Werbeberater und bleib bis 1958 für das Unternehmen tätig. Seine Ideen formten Reemtsmas Bild nach außen und innen nachhaltig. Bereits durch dieses Anstellungsverhältnis bewies das Unternehmen ein Gespür dafür, Trends in der Konsumindustrie- und gesellschaft frühzeitig zu erkennen. Gezielte Werbung war in den 1920er-Jahren in vielen Branchen noch ein Novum, ebenso eigens Personal zum Entwickeln von Werbestrategien und Unternehmenskommunikation anzustellen.

Domizlaff erschuf ein homogenes und einprägsames Auftreten der Firma in allen Bereichen und war immer um einen Wiedererkennungswert Reemtsmas bemüht. Mit solchen Ansätzen, die Vorläufer der heutigen Corporate Identity[1] waren, kann er als einer der Begründer der modernen Markentechnik gesehen werden.

Bereits vor dem Engagement mit Domizlaff unternahm Reemtsma einen wichtigen Schritt in Richtung eines professionellen Erscheinungsbildes. 1920 führte das Unternehmen ein neues Signet ein, gestaltet vom Gebrauchsgrafiker Wilhelm Deffke. So wie Hans Domizlaff als Begründer der Markentechnik bezeichnet werden kann, so wird Deffke oftmals als Vater des modernen Logos  gehandelt. Deffke, vom Bauhaus inspiriert, entwarf für Reemtsma ein stark reduziertes, fast strenges Logo. Es zeigt einen stilisierten Bug eines Wikingerschiffes vor einer roten Sonne.

 

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Werbeplakat Eugen Schmidt mit Wikingerschiff und Reemtsma-Logo, ca. 1921    / Grafik: MdA ReeA MA.D 2012/001.14 

 

Ab diesem Zeitpunkt war auf allen Reemtsma-Produkten das neue Logo in angepasster Form zu finden. Dieses Vorgehen bezog sich nicht nur direkt auf die Produkte, also die Zigarettenpackungen, sondern setzte sich auch in Anzeigen und Plakaten fort. Dies war einer der Verdienste Domizlaffs. Mit seiner neuartigen Auffassung von Kommunikation zwischen Unternehmen und Verbraucher war er darauf bedacht, dass alle Marken des Hauses, auch wenn sie unterschiedliche Kundentypen ansprechen sollten, die gleiche Linie verfolgten. In Reemtsmas Fall hieß diese Linie hohe Qualität für den anspruchsvollen Kunden, da das Unternehmen überwiegend höherpreisige Marken für den gehobenen Bedarf herstellte. Domizlaff, der schnell in der Unternehmenshierarchie Reemtsmas aufstieg, war daher besonders darauf aus, ein breites Angebot an Marken zu schaffen, die jedoch den gleichen verlässlichen Standard beibehielten. Das Reemtsma-Logo sollte dies als eine Art Versprechen an den Verbraucher garantieren. Dieses Versprechen gewinnt an Bedeutung, wenn berücksichtigt wird, dass die Qualität von Tabakprodukten während der Kriegsjahre stark abgenommen hatte.

Auch war diese Art der Vermarktung für die Zigarette als einem Produkt ohne oder mit sehr wenigen Eigenschaften bedeutsam; sie ermöglichte es dem Produkt, sich von seiner Konkurrenz abzuheben. So entstanden in den zwanziger Jahren unter der Ägide von Hans Domizlaff beispielsweise Marken wie R6 und Ernte 23, beide in einer schlichten Aufmachung, die für technische Überlegenheit und ausgewählte Qualität stehen soll. Sie zählen auch heute noch zur Reemtsma Produktpalette.[2]

 

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Zigarettenpackung Marke Dreiersachsen, 1925 – Steht für die alte Symbolstruktur / Grafik: MdA ReeA MA.O 2007/003.3224
 
 

Trotz der Strategie, für jeden Kunden die passende Marke anbieten zu wollen, beschränkt sich Reemtsma auf die Herstellung einiger weniger, dafür aber stark charakteristischer Marken. Auch damit hebt sich das Unternehmen von der Masse der Zigarettenproduzenten ab. Anders als heute waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehrere hundert verschiedene Zigarettenmarken auf dem Markt. Viele von ihnen jeweils nur für sehr  kurze Zeit. Erreichte eine Marke nicht den gewünschten Umsatz, wurde sie ohne langes Zögern vom Markt genommen. Reemtsma hingegen war eine der ersten Firmen, die bewusst Markenkonzepte entwickelte und diese umsetzte.

Kampf gegen alte Symbolwelten

Das strenge Design Deffkes und die autoritäre Art Domizlaffs schienen als treibende Kräfte des noch jungen Unternehmens gut zu korrespondieren. Die Entscheidung, gleich zwei so visionäre Köpfe zu beschäftigen, mag den Reemtsma-Brüdern dennoch nicht leicht gefallen sein. Obwohl sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine Abkehr von der wilhelminischen Wert- und Weltvorstellung vollzog, und damit auch in den Bereichen Konsum, Design und Werbung die Türen für einen Neuanfang offen standen, hielten viele Unternehmen noch lange Zeit an der traditionellen Symbolik des Kaiserreiches fest. Reemtsmas Entscheidung, sich der Strömung der Moderne und Erneuerung anzuschließen, war also mit einem gewissen Risiko verbunden.

 

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 Zigarettenpackung der Marke Reemtsma Gold, 1920                                             / Grafik: MdA ReeA MA.O 2007/003.4179

 

Die Gestaltung typischer Zigarettenpackungen der Vorkriegs- und Kriegsjahre war geprägt von Ornamentreichtum und heraldischen Zeichen wie Wappen, Adler und Flaggen, mit denen Bezug auf das Kaiserreich genommen wurde. Aus heutiger Sicht wirken diese dadurch oft mit Symbolen „überladen“ und standen im Kontrast zu den im Verhältnis schlichten Verpackungen der Reemtsma-Produkte. Das Gleiche gilt auch für die Markennamen. Eine große Anzahl der frühen Marken wie „The Kaiser“, „General Goeben“, „Unsere Marine“ und „v. Hindenburg“, trugen Bezeichnungen, die ganz offen eine Loyalität zur Monarchie sowie einen gewissen Nationalismus bekundeten. Die Reemtsma-Produkte der 1920er-Jahre waren weitgehend frei von solchen Botschaften. Nach dem Ersten Weltkrieg änderten Firmen die Namen ihrer Marken und ähnelten in diesem Punkt dem Reemtsma-Sortiment, doch ihre klassische Vorkriegsoptik blieb zunächst bestehen. Vermutlich auch, um die traditionelle Käuferschaft nicht zu verlieren.

Wie sehr diese noch in den alten Symbolstrukturen und Bildwelten verwurzelt war, zeigen die Reaktionen auf die Veröffentlichung des umgestalteten Reemtsma-Logos. 1920 wurde das Logo erstmals plakatiert –  insgesamt 6000-mal entlang wichtiger Bahnstrecken Deutschlands. Viele Käufer zeigten sich empört über dieses als aggresiv[3] empfundene Zeichen. Sogar das Entfernen dieser Reklame wurde mehrfach  verlangt. Das Unternehmen hielt jedoch an der Kampagne fest und ließ sich vom Reichkunstwart Edwin Redslob die Funktionalität und damit die Existenzberechtigung für das Logo bestätigen.

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Zigarettenpackung der Marke R6, entwickelt von Hans Domizlaff, ca. 1921    / Grafik:  MdA ReeA MA.O 2007/003.4438

 

„Der volkswirtschaftlich so wichtigen Hinwendung zum Markenartikel“, so Redslob, „entspricht hierbei die Notwendigkeit, alle Markenartikel durch Warenzeichen zu kennzeichnen, die sich leicht einprägen. Hierfür bietet das Reemtsma-Warenzeichen eines der besten Beispiele, die mir bisher bekannt geworden sind.“[4]

Diese Einschätzung bestärkte Reemtsma in seinem Kurs und nach den ersten anfänglichen Schwierigkeiten setzte sich das Reemtsma-Logo auch bei den Käufern durch.

Diese Kombination aus einem offen zur Schau gestellten Bekenntnis zu Moderne, Technik und Fortschritt und einer Produktpalette, die dem Käufer suggerierte, für jeden ganz persönlichen Geschmack die perfekte Marke bieten zu können, bescherte den Reemtsma Cigarettenfabriken nachhaltigen Erfolg. Das gezielte Bewerben ihrer Produkte und das Wahren eines hohen Qualitätsanspruchs ermöglichte es dem Unternehmen, das Stigma einer Kleinfirma nach und nach zu überwinden. Gegen Ende der 1920er-Jahre stieg Reemtsma, noch vor seinem 20-jährigen Bestehen, zum Marktführer[5] auf.



[1] Gries, Rainer; Ilgen, Volker, Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995, S. 47.

[2] Böllert, Susanne: 100 Jahre Deutsche Industriegeschichte. 1910-2010. Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Hamburg 2010, S. 34.

[3] Jacobs, Tino: Zwischen Institution und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, S. 148-178. In: Berghoff, Hartmut (Hrsg.): Marketinggeschichte. Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt a.M., 2007, S. 153.

[4] Jacobs: S. 153.

[5] Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen“ Die Erfindung der Markentechnik als Herrschaftsinstrument, in: Forum Schulstiftung (Nr. 45, 12/2006), S. 85.

 

Literaturhinweise

  • Böllert, Susanne: 100 Jahre Deutsche Industriegeschichte. 1910-2010. Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Hamburg 2010.
  • Gries, Rainer; Ilgen, Volker, Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse krichen!“ Werbung und Mentalitätsgeschichte. Darmstadt 1995.
  • Jacobs, Tino: Zwischen Institution und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, S. 148-178. In: Berghoff, Hartmut (Hrsg.): Marketinggeschichte. Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt a.M. 2007.
  • Lindner, Erik: Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie. München 2008.
  • Rahner, Stefan; Museum der Arbeit (Hrsg.): Werbewelten made in Hamburg. 100 Jahre Reemtsma. Hamburg 2010.
  • Schindelbeck, Dirk: „Ins Gehirn der Masse kriechen“ Die Erfindung der Markentechnik als Herrschaftsinstrument, in: Forum Schulstiftung (Nr. 45, 12/2006), S. 80-92,
  • URL: http://www.schulstiftung-freiburg.de/de/forum/pdf/pdf_218.pdf.
  • Weisser, Michael: Cigaretten-Reclame. Über die Kunst, blauen Dunst zu verkaufen. Münster 1980.
  • Writes, Houston: Reemtsma. Von der Feldzigarette zur Anti-Wehrmachtsausstellung. Selent 2002.

 

 

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1238

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