Ist zur Dreyfusaffäre nicht schon alles gesagt? Nein, da waren sich die Teilnehmenden bei der Buchvorstellung des neuen, 1504-seitigen monumentalen zweibändigen Werks von Philippe Oriol einig: Nicht nur, dass mit einer systematischen Presseauswertung sowie Tagebüchern und Papieren einiger Protagonisten wie des Anwalts von Dreyfus bisher nicht ausgewertete Quellen für diese Darstellung herangezogen wurden. Auch gilt es nach wie vor, so die Meinung des Autors, die von den Anwesenden geteilt wurde, Aufmerksamkeit zu zeigen und alles zu tun, damit sich die Werke und Interpretationen der Anti-Dreyfusards nicht durchsetzen, sondern die vielfach belegte Wahrheit: Der Staat war schuldig, der Führungsstab des Militärs war Komplize, Dreyfus war unschuldig.
Die von der Fondation pour la Mémoire de la Shoah organisierte Buchvorstellung ist zwar schon eine Weile her. Sie – und nicht die beiden Neuerscheinungen zur Dreyfusaffäre1 – soll hier aber trotzdem Gegenstand eines Blogbeitrags sein, da sie zum einen jetzt online als Video verfügbar ist und zum anderen in mehrerer Hinsicht bemerkenswert war. Schon der Ort der Buchpräsentation war symbolisch und eindrucksvoll: Sie fand im Musée de l’Armée statt, das sich im Hôtel national des Invalides befindet. Um zur Veranstaltung zu gelangen, musste man also den berühmten Innenhof (siehe Foto) überqueren, in dem Dreyfus am 5. Januar 1895 degradiert wurde. Darüber hinaus saßen im ersten Teil des Abends, der von Le Monde-Journalist Nicolas Weill moderiert wurde, u.a. neben dem Autor auch Charles Dreyfus, der Enkel von Alfred Dreyfus sowie Martine Le Blond-Zola, die Urenkelin von Zola, mit auf dem Podium. Die Zeit der Dreyfusaffäre hatten beide nicht miterlebt, wohl aber die Anfeindungen, Verleumdungen und Auseinandersetzungen der Zeit danach.
Alfred Dreyfus: ein warmherziger Großvater
Charles Dreyfus erinnerte sich an seinen Großvater, den er entgegen vielfach in der Forschung auftauchenden Einschätzungen als warmherzig beschrieb. Auf den Roman „Intrige“ von Robert Harris angesprochen2, der demnächst von Roman Polanski verfilmt wird, äußerte er sein Missfallen an manchen Stellen im Roman, in denen sein Großvater aus seiner Sicht zu negativ dargestellt werde, während Georges Picquart, der Leiter des militärischen Geheimdienstes, die Heldenrolle einnehme. Charles Dreyfus erzählte, dass er Robert Harris und Roman Polanski getroffen und einige Änderungen im Drehbuch vorgeschlagen habe, die aus Respekt vor Alfred Dreyfus auch berücksichtigt worden seien.
Es war nicht das erste Mal, dass Charles Dreyfus bei Darstellungen über die Ereignisse eingriff: Als ein weiteres Beispiel erzählte er, dass auf dem Titelbild des gut 600-seitigen Buchs von Jean-Denis Bredin, 1983 erschienen und viele Jahre das Standardbuch zur Dreyfusaffäre, Alfred Dreyfus bei der Degradierung im Innenhof des Hôtel des Invalides mit gesenktem Kopf abgebildet war (siehe Abbildung links). Alle Erzählungen würden aber belegen, so Charles Dreyfus, dass sein Großvater Alfred während der gesamten Zeremonie mit erhobenem Kopf aufrecht da stand und stets geradeaus schaute. In einer neuen Auflage des Buches aus dem Jahr 1993 änderte Bredin dann aufgrund der Intervention der Familie die Abbildung. Auf dem Titel ist dort die bekannte Abbildung von Roger-Viollet aus dem Petit Journal. Dreyfus ist darauf in derselben Szene zu sehen, aber mit dem Blick geradeaus gerichtet.
Welche Erkenntnisse kann die Geschichtswissenschaft aus diesen Erläuterungen für die historische „Wahrheit“ – was auch immer das sein mag – ziehen? Eigentlich keine. Für den Ablauf der Ereignisse und für die Interpretation, deren Schwerpunkte je nach Autor auf den antisemitischen, politischen, militärischen oder medialen Vorkommnissen liegt – ist es unerheblich, ob Dreyfus ein warmherziger Großvater war und ob er nicht vielleicht während der Degradierung doch den Kopf einmal kurz gesenkt hat, auch wenn es nur für eine Millisekunde war. Man kann aber etwas anderes aus diesen Aussagen lesen:
Die integre Persönlichkeit von Alfred Dreyfus als Teil der Verteidigungsstrategie
Wer Jahrzehnte lang und darüber hinaus um die Anerkennung der Unschuld und gegen Verleumdungen gekämpft hat, für den wird jede Einzelheit zum Pars pro Toto. Wird ein Detail angezweifelt, so wird das als Angriff auf die gesamte Wahrheit gesehen. Das ist verständlich, denn von diesen Angriffen und Umdeutungen gab es zahlreiche. Daher wird es als so wichtig erachtet, auch in kleinsten Punkten nicht nachzugeben. Das Eingreifen von Charles Dreyfus steht darüber hinaus in einer Tradition der Verteidigung durch die Familie. Schon nach der ersten Verurteilung sammelte Mathieu Dreyfus Beweise für die Unschuld seines Bruders Alfred und versuchte, andere von dieser Unschuld zu überzeugen. Besonders wichtig für die Verteidigung war, dass ein Motiv für die Tat fehlte, war Alfred Dreyfus doch ein treuer Ehemann, der weder spielte noch trank noch auf andere Weise Geld brauchte, das er sich mit einem Vaterlandsverrat zu verdienen versucht haben könnte. Seine persönliche Integrität und militärische Ehre standen daher bei der Verteidigung im Vordergrund. Das erklärt, warum es so wichtig war und ist, dass er ein warmherziger Großvater war und bei der Degradierung erhobenen Hauptes dastand – und nicht etwa Kopf und Augen senkte, wie ein Verräter es getan haben könnte.
Dass Alfred Dreyfus als Jude und Elsässer vor allem als Person angegriffen wurde, war auch in der historischen Forschung aufgegriffen worden. Beispielgebend dafür ist das richtungsweisende Buch „L’affaire sans Dreyfus“ von Marcel Thomas, der 1961 die Dreyfusaffäre ohne den Hauptprotagonisten erzählte. Erst 2006 wurde das gemeinhin unsympathische Bild, das über Alfred Dreyfus verbreitet wurde, von Vincent Duclert in einer Biographie mit dem Titel „L’honneur d’un patriote“ grundsätzlich revidiert3.
Der Kampf um die Wahrheit macht aus Sicht der Familie die Protagonisten unantastbar, auch auf Nebenschauplätzen. Das wurde ebenso im kurzen Beitrag von Martine Le Blond-Zola deutlich, in dem die Worte „vérité“ und „heroïsme“ am häufigsten vorkamen. Auf die Bemerkung des Moderators, die letzten Werke von Zola zählten nicht zu seinen besten, hatte die Urenkelin nur einen wegwerfenden Blick übrig. Hier ließ sich erahnen, wie schwer es für die Familie im einzelnen sein mag, sachliche Kritik von persönlicher Anfeindung zu unterscheiden.
Die Buchpräsentation und anschließende Podiumsdiskussion wurden aufgezeichnet und können auf der Website Akadem als Video angesehen werden.
Buchvorstellung, 13. November 2014, 17h-19h30
Philippe Oriol, L’histoire de l’Affaire Dreyfus de 1894 à nos jours, 2 Bde., Paris (Les Belles Lettres) 2014, ISBN: 978-2-251-44467-3.
Vortragende: Philippe Oriol, Charles Dreyfus, Martine Le Blond-Zola
Podiumsdiskussion: Philippe Oriol, Vincent Duclert, Henri Mitterand, Alain Pagés, moderiert von Nicolas Weill
Programm: http://www.fondationshoah.org/FMS/Conference-autour-de-L-histoire-de
Video-Aufzeichnung der Veranstaltung: http://www.akadem.org/sommaire/themes/histoire/affaire-dreyfus/les-pouvoirs-politiques/histoire-de-l-affaire-dreyfus-par-philippe-oriol-28-10-2014-64167_89.php
- Neben dem Buch von Oriol siehe auch: Bertrand Joly, Histoire politique de l’affaire Dreyfus, Paris (Fayard) 2014, ISBN 978-2-213-67720-0.
- Engl.: An officer and a spy. Siehe dazu die Rezension in der FAZ vom 26.10.2013: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/eine-begegnung-mit-robert-harris-der-spion-der-nicht-siegte-12634290.html.
- Vincent Duclert, Alfred Dreyfus. L’honneur d’un patriote, Paris, Fayard 2006