26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen

10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151


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Quelle: http://achimlandwehr.wordpress.com/2014/09/28/26-todesanzeigen-oder-zeit-zu-gehen/

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26. Todesanzeigen oder Zeit, zu gehen

10.000 Jahre im Dunkel

Todesanzeige

Der Tod, ja sicherlich. Über so etwas kann man eigentlich nur Plattheiten von sich geben. Es sei denn, man macht es wie Elias Canetti [1] und gräbt sich hinein in dieses Thema, widmet sein ganzes Leben diesem Tod, in der beständigen Weigerung, ihn als das zu akzeptieren, was er ist: nicht einfach nur das Ende des Lebens, sondern die einzige, die wirklich einzige Gewissheit, die wir über unsere Zukunft besitzen. Eigentlich wäre eine solche Sicherheit schon ganze Menge, wenn da nicht an die Stelle der Ungewissheit über zukünftige Entwicklungen, die wir immer schnell zu beklagen bereit sind, eine Gewissheit treten würde, die ihr tödliches Finale kaum zu verbergen vermag. Es sei denn, man nimmt Zuflucht zu einem Gedicht von Jorge Luis Borges mit dem Titel „Jemand“ („Alguien“), in dem folgende eingeklammerte Erkenntnis zu lesen ist:

„(die Beweise für den Tod sind nur statistisch,

und jeder läuft Gefahr,

der erste Unsterbliche zu sein)“ [2]

Im Gegensatz zu den vielen Unsterblichkeitsphantasien, die durch sämtliche fiktionale Genres geistern, hat diese Überlegung den Charme der Statistik auf ihrer Seite. Anstatt sich auf Jungbrunnen, genetische Mutationen oder Auserwähltheitsfantasien zu verlassen, bezieht sich Borges auf die Gewissheit der großen Zahl: Irgendwann kann es passieren… Aber er spricht zurecht auch von der Gefahr der Unsterblichkeit. Wollte man das wirklich anstreben? Ich habe neulich von dem vermutlich ältesten Lebewesen der Welt erfahren: einem Riesenschwamm, der in den Gewässern der Antarktis beheimatet ist und mutmaßlich bis zu 10.000 Jahre alt wird. Das Geheimnis seines langen Lebens? Bewegungslos in durchschnittlich zwei Grad kaltem Wasser in ewiger Dunkelheit existieren und dabei die überlebenswichtigen Funktionen auf ein absolutes Minimum reduzieren. Wem’s gefällt …

Mein bester Freund ist Tod

Aber auch wenn wir wissen, dass der statistische Ausnahmefall der Unsterblichkeit uns nicht treffen wird, und auch wenn wir es nicht wirklich erstrebenswert finden, mehrere tausend Jahre alt zu werden: Dem Tod möchte man am liebsten doch aus dem Weg gehen. Und in eben dieser lebensgeschichtlichen Zwickmühle, eingezwängt zwischen der Gewissheit und ihrer Verweigerung, versagen nicht selten die Worte, die eigenen wie die fremden, und nehmen Zuflucht zu Floskeln, die man allerorten schon einmal vernommen hat. Finden Sie mal die passende Formulierung für eine angemessene Beileidsbekundung, die nicht mit den üblichen gestanzten Schablonen daherkommt! Da wird der Tod dann unausweichlich, aber zugleich unerwartet, da findet das lange Leben ein plötzliches Ende, da wird man vom Herrn gerufen oder auch heimgeholt, und da wird dann Abschied genommen in tiefer Trauer und großer Bestürzung.

Über die sprachliche Unbeholfenheit von Todesanzeigen wurden schon diverse Bücher veröffentlicht, Zeitungsartikel geschrieben und Internetseiten eingerichtet. Sie alle zeugen von der sprachlichen Hilflosigkeit angesichts des Existentiellen. Wenn man sich ein wenig mit den stilistischen Ausrutschern beschäftigt, die in diesen Ablebensbenachrichtigungen versammelt sind, dann kann man eigentlich nur hoffen, niemals in die Situation zu kommen, eine eben solche verfassen zu müssen. Schließlich handelt es sich um einen außergewöhnlichen und einmaligen Anlass, eine gravitätisch aufgeladene Situation, die durch einen besonderen Text gewürdigt werden soll – der dann aber auch schon einmal besonders daneben gehen kann. Manch mortale Stilblüte könnte es auch in den allgemeinen Sprachschatz schaffen. So wenn beispielsweise der Verstorbene „überraschend sanft entschlafen“ ist oder die sprachliche Bestürzung sich in dem Ausruf Bahn bricht: „Mein bester Freund ist Tod.“ Aber spätestens wenn eine „Persönlichkeit von ungeschmälerter Gültigkeit“ betrauert oder der Tod mit einem „Meteoriteneinschlag“ verglichen wird, dessen „Krater nie zu schließen“ ist, sollte man die Reisepässe bereithalten, weil die Grenze zur Peinlichkeit näher rückt.

Bei der Frage, wie man den Tod eines Menschen in angemessene Worte fassen soll, um dem gewesenen Leben halbwegs gerecht zu werden, ist die Option nicht ganz aus dem Auge verlieren, es vielleicht einfach zu lassen. Wenn die Worte versagen, kann man diesem Unvermögen auch ruhig einmal nachgeben.

Grenzbeschreitungen

Eine wichtige Funktion von Todesanzeigen lässt sich an einer anderen standardmäßigen Formulierung ablesen. Es geht um die paradoxe Angelegenheit, dass die Trauerfeier im „engsten Familienkreis“ stattfinden werde (also wurde selbst der enge Familienkreis noch einmal ausgedünnt, wohl um missliebige Verwandte erst gar nicht zu dieser Veranstaltung zuzulassen), diese angeblich sehr private Angelegenheit dann aber gleichzeitig möglichst öffentlichkeitswirksam verkündet wird. Am besten ist das natürlich bei halbwegs prominenten Menschen: Anzeige in die Süddeutsche und die FAZ und noch in ein paar andere Zeitungen, so dass es einige hunderttausend Menschen lesen können, aber zum Leichenschmaus wird dann nur eine Handvoll eingeladen. Guten Appetit.

Abgesehen von der befremdlichen Verwendung des Superlativs wäre damit eine zentrale Funktion dieser eigentlich doch seltsamen Textgattung auf den viel beschworenen Punkt gebracht: Todesanzeigen sollen ganz offensichtlich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit vermitteln, wie sich bei einem Blick in deren Geschichte erweist. In dem Maße, in dem Sterben und Tod nicht mehr als weitgehend öffentliche Angelegenheiten zumindest in einem lokalen Kontext zelebriert werden konnten, in dem Maße also, in dem der Tod zu einer privaten und eigentlich sogar verschämten Angelegenheit wurde, mussten Todesanzeigen die Stelle der dahingeschiedenen Öffentlichkeit beim einst öffentlichen Dahinscheiden übernehmen.

Die Todesanzeige gibt den Noch-nicht-Toten, vulgo: Hinterbliebenen, die Möglichkeit, den Lesern das Lebensende als letztlich recht einschneidendes Ereignis mit unbestreitbar liminalem Charakter in seiner ganzen Grenzen aufzeigenden Existentialität vor Augen zu führen: Nicht nur die Sagbarkeits- und Peinlichkeitsgrenzen der Sprache spielen hier eine Rolle, auch nicht nur die allzu offensichtliche Begrenzung des Lebens oder die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem werden in Todesanzeigen be- und verhandelt – es ist auch die Grenze zwischen den Zeiten, die hier immer wieder sichtbar wird.

Wir haben es mit einem aussagekräftigen Medium zu tun, in dem Kulturen die Zeit und die Zeiten behandeln, in dem Lebenszeit, Dauer, Schnelligkeit oder Ewigkeit (die ja bekanntlich recht lange dauert) thematisiert werden. Da sterben dann über 90-Jährige nicht nur plötzlich und unerwartet, sondern auch noch viel zu früh, gehen aber gleichzeitig in die Ewigkeit ein (zuweilen begleitet von dem Wunsch, den bereits Verstorbenen im Jenseits einen Gruß auszurichten). Da wird unmittelbare Gegenwärtigkeit evoziert, wenn Anzeigen mit dem Satz beginnen: „Ich bin gestorben“ oder „Mein Leben ist zu Ende und ich bedanke mich bei allen.“ Da wird (Individual-)Historisches kenntlich, wenn die Verwandten eines Verstorbenen dem „Rauchclub Germania“ für die Anteilnahme danken und man Mutmaßungen über die Todesursache anzustellen beginnt. Und da zeigt sich ganz fatal die Überschneidung der Zeiten, wenn ein noch Lebender kübelweise Beileidsbekundungen erhält, weil im selben Ort ein Namensidentischer das Zeitliche gesegnet hat. Diesseits und Jenseits. Jetzt und Einst, Immer-Noch und Nicht-Mehr liefern sich hier ein lustiges Stelldichein.

Wir haben es hier also mit einer bemerkenswerten Überkreuzung der Zeiten zu tun. Weit davon entfernt, nur das Ende eines individuellen Lebens und damit einer individuellen Zeit zu markieren, kann man Todesanzeigen gerade auch dahingehend bestimmen, dieses Ende der Zeit aufzuheben. Todesanzeigen fungieren als eine Art temporaler Propeller, der sich um die Gegenwart des Todes eines Menschen dreht und die Vergangenheit eines Lebens mit der Zukunft einer Erinnerung zu verbinden sucht. Und gerade weil es so schwierig ist, über den Tod zu reden oder gar zu schreiben, verraten diese Anzeigen viel über ihre Zeit und deren Verzeitungen.

 

[1] Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod, München 2014.

[2] Jorge Luis Borges, Die zyklische Nacht. Gedichte 1934-1965, Frankfurt a.M. 1993, 151


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02. Franziskus und die Frage nach Zeit oder Ewigkeit

Rituale im Flüsterton

Es ist schon ein paar Tage her, dass der katholischen Welt ein neues Oberhaupt beschert wurde und der Rest der Welt einen neuen Papst kennenlernte. Lassen wir an dieser Stelle die vielen Diskussionen um die Reformbedürftigkeit und Reformwilligkeit einer fast zweitausend Jahre alten Institution beiseite, all die Fragen um die Kompatibilität einer Heilsgarantieinstitution samt Alleinvertretungsanspruch mit den Gegebenheiten des frühen 21. Jahrhunderts. Als Unternehmensberater müsste man der katholischen Kirche wohl dringend raten, keinesfalls diesen Aufforderungen zur Anpassung an die Gegenwart nachzugeben, denn damit würde sie ihren unverwechselbaren Markenkern verlieren. Wo findet man so etwas noch, eine weithin etablierte Institution riesigen Ausmaßes mit einer gehörigen Anhängerschaft (wie aktiv oder passiv diese auch immer sein mag), die ganz offensichtlich in der Lage ist, ein bestimmtes menschliches Bedürfnis nach Ritual und Mysterium zu bedienen? Wie groß dieses Bedürfnis immer noch ist, kann man jedes Jahr an Weihnachten und eben bei jeder Papstwahl beobachten. Auch bei der Kür von Franziskus konnte man sich als Mensch mit einem halbwegs aufgeklärten Selbstverständnis nur wundern über die Berichterstattung diverser Medien. Da wurde über geheimnisvolle Rituale geraunt, wurden lateinische Formeln ausgedeutet und Jahrhunderte alte Traditionen mit gravitätischem Unterton auf ihre Bedeutungen hin abgeklopft. Insbesondere bei Fernsehliveübertragungen müssen sich die Berichtenden dann auch noch eines leichten Flüstertons befleißigen, um ja die Aura des Geschehens nicht über Gebühr zu stören. Man kam sich vor wie bei einem dieser schlechten Dan-Brown-Vatikan-Thriller. Sage mir einer angesichts dieses offensichtlichen Bedürfnisses nach dem Numinosen, das die katholische Kirche umgibt (und mit dem sie umgeben wird), sie sei nicht mehr von dieser Welt. Gut, sie ist nicht mehr von dieser Welt, aber gerade deswegen wird sie sich nicht ändern. Man muss sich entscheiden: entweder Mysterium und Weihrauch (inklusive Zölibat, sexuellen Missbrauchsfällen, Homophobie und einer Ungleichbehandlung der Geschlechter) oder eine „moderne“ Kirche, die mit beiden Füßen in der Gegenwart steht – dafür aber ohne Tamtam und Klimbim. Ich denke, die Chancen der katholischen Kirche, sich nicht ernsthaft modernisieren zu müssen, stehen nicht schlecht.

Der Wievielte?

Aber das soll hier ja gar nicht interessieren. Am Tag der Wahl von Franziskus, am 13. März 2013, gab es eine andere, marginal erscheinende Gelegenheit festzustellen, wie weit die katholische Kirche und die Welt des frühen 21. Jahrhunderts sich bereits auseinander entwickelt haben. Aufgrund der unsäglichen Unsitte, inzwischen auch recht gute Restaurants flächendeckend mit Flachbildschirmen zu tapezieren, wurde ich während eines Abendessens unfreiwilliger Zeuge der Liveübertragung von der Proklamation des neuen Papstes in Rom. Wie auf Knopfdruck titelten alle Medien, und das offensichtlich weltweit, der Name des neuen Papstes sei „Franziskus I.“. Wie inzwischen bekannt, war das nicht korrekt, widersprach auch den Angaben des Vatikans, der die Zählung an keiner Stelle erwähnte, und wurde innerhalb von 24 Stunden von den gleichen Medien auch als Irrtum erkannt und korrigiert. Es gibt zunächst einmal einen trivialen logischen Grund, warum der Titel „Franziskus I.“ keinen Sinn ergibt. Warum sollte man irgendjemand als den Ersten bezeichnen, wenn es nicht mindestens einen Zweiten gibt, von dem er sich unterscheiden könnte? Wenn man schon unbedingt eine Zählung einführen wollte, dann müsste Franziskus nicht „der Erste“, sondern korrekterweise „der bisher Einzige“ als Namenszusatz führen. Oder wenn wir schon bei unsinnigen Titulaturen sind, dann könnten wir ihn, in memoriam Michael Ende, auch Franziskus den Viertelvorzwölften nennen.

Zeit oder Ewigkeit

Aber mit der Zählung war ja schnell Schluss, schon am Tag nach der Wahl hieß der Papst ganz brav überall nur noch „Franziskus“. Mir scheinen die Medienvertreter weltweit aber nicht nur deswegen spontan mit der Bezeichnung „Franziskus I.“ reagiert zu haben, weil sie in ihrer Ausbildung leider gerade auf einem Betriebsausflug waren, als die Seminare „Logik I und II“ angeboten wurden, sondern weil hier zwei grundsätzlich verschiedene temporale Modelle aufeinandertreffen. Es geht um nichts weniger als den Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Fortschritts- und Heilsgeschichte. Und möglicherweise wird gerade an dieser Marginalie, ob man Franziskus nun als den ersten bezeichnen möchte oder nicht, deutlich, wie sehr sich die katholische und die nicht-katholische Welt unterscheiden. Mit einem säkularen Zeit- und Geschichtsverständnis könnte es durchaus sinnvoll erscheinen, Franziskus als den ersten zu bezeichnen. Schließlich muss und darf man davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit (und der katholischen Kirche) auf Erden noch eine ganze Weile, um nicht zu sagen: unendlich fortgesetzt wird, so dass schon irgendwann ein zweiter kommen wird. Dieses subkutan vorherrschende historische Modell hat, so denke ich, zu den spontanen Tickermeldungen geführt, die den neuen Papst als den ersten seines Namens durchnummerierten. Übersetzt könnte das heißen: Er ist der erste Franziskus, aber ein zweiter wird schon noch kommen, selbst wenn wir ein paar Jahrhunderte warten müssen, aber die Zeit haben wir. Die katholische Kirche hingegen lebt in einer heilsgeschichtlich orientierten Welt, in der es einerseits die Zeit auf Erden gibt, andererseits eine göttliche Ewigkeit, eine transzendente Zeitentrücktheit, auf die Religion im eigentlichen Sinn konzentriert sein muss. Angesichts der Ewigkeit ist die Zeit auf Erden nicht nur eine zu vernachlässigende Marginalie, sondern sie ist auch noch endlich. Schließlich ist die Schöpfung mit einem heilsgeschichtlichen Verfallsdatum versehen, wird irgendwann an ihr Ende kommen, um der Ewigkeit Platz zu machen, wird irgendwann das Jüngste Gericht einberufen, nicht nur um seine Urteile zu fällen, sondern auch um die irdische Zeit in all ihrer Vergänglichkeit abzuschaffen. Und wer weiß, ob es bis dahin einen zweiten Franziskus gegeben haben wird? Sicherlich lässt gerade dieses Ewigkeitsmodell für eine erkleckliche Anzahl von Menschen die katholische Kirche, trotz aller Kritik, immer noch attraktiv erscheinen, weil sie sich einen verschwenderisch-entspannten Umgang mit der Zeit leisten kann, die den meisten Menschen – verstrickt in die Rundum-Ökonomisierung ihres Lebensalltags – abhandengekommen ist. Deswegen kann für die Papstkirche Franziskus eben nicht der erste sein, dem sicherlich ein zweiter nachfolgen wird, sondern muss der bisher einzige sein – der möglicherweise auch der letzte bleiben wird.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/04/06/02-franziskus-und-die-frage-nach-zeit-oder-ewigkeit/

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