THEODULUS: Ecloga. Mit Komm.
Leipzig: Konrad Kachelofen, 1492.
[...]
Die Häute des Hippopotamus
Ein Flusspferdfötus mit Nabelschnur auf einem Tisch, daneben chirurgisches Instrumentarium und ein hohes Glas mit Flüssigkeit zum Einbalsamieren. Im Hintergrund ein Blick aus dem Fenster in eine Landschaft mit Palme, Affenbrotbaum und Teddybär.
Fötus mit Teddybär
Als George-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788), französischer Naturforscher und Direktor des Königlichen Botanischen Gartens in Paris, seiner seit 1749 erstellten monumentalen Histoire naturelle générale et particulière die „Beschreibung des Flusspferdes“ hinzufügte, hatte er für seine Betrachtungen den Fötus, “entfleischte Köpfe” und Fußknochen aus dem Naturalienkabinett seines Königs Ludwigs XV. vor sich1 – und die Bücher, dabei unter anderem die Ekphrasis des neapolitanischen Naturforschers und Botanikers Fabio Colonna (1567-1640) von 16062. Buffon hat niemals ein lebendes Geschöpf dieser Art, ein Hippopotamus amphibius, gesehen.
Der Hintergrund der Tafel III zur Darstellung des Hippopotamus in seiner natürlichen Umgebung zeige, so sagt Buffon, eine „Copey“ der „Figur“ Colonnas, und er stellt dazu fest: „Ungeachtet diese Figur für eine von den besten gehalten wird, die es von dem Flußpferde giebt, so kommt sie mir doch ungemein fehlerhaft vor.
[...]
Gebrauchsspuren
Bücher werden beim Lesen ständig auf- und zugeklappt, mit nicht gewaschenen Händen ungeduldig umgeblättert, mit Lesezeichen versehen, die allerlei Spuren hinterlassen. Seiten werden für Kommentare sowie persönliche Einträge benutzt, gelegentlich auch beschädigt und wieder repariert. Jahrhundertealte Bücher zeigen zahlreiche solche Gebrauchsspuren, die heute nicht nur vom wissenschaftlichen Bibliotheks- und Archivwesen, sondern auch von der Geschichtsforschung zunehmend als wertvolle Quellen erachtet werden. Sie gelten als Zeugen eines längst vergangenen und uns heute unbekanntes Alltags.
Das Header-Bild dieses Blogs – als Ausschnitt aus einem größeren Foto (Quelle) etwas unscharf – zeigt an den Buchrücken deutliche Spuren eines häufigen Gebrauchs der Drucke aus dem 16. Jahrhundert zur griechischen und lateinischen Literatur der Antike. Am unteren Ende der Rücken, besonders in der Mitte des abgebildeten Regalbretts, lässt sich eine Verdunkelung erkennen. (Read more...) Es handelt sich um Verschmutzungen der zeitgenössischen Einbände aus Schweinsleder durch Hautfett, das den Lesern gehörte. Schweinslederne Einbände sind porig und speicherten im Laufe der Zeit den durch Feuchtigkeit und Fett der zugreifenden Hände gebundenen Staub. Gelegentlich halten ungeübte Augen diese Griffspuren für unschön oder für Schimmel; auf einem sonst intakten Einband bezeugen sie heute vielmehr den Grad der Beschäftigung mit einem Werk, mit einem Buchexemplar: es wurde von den Lesern mehr oder weniger begriffen.
Die Quart- und Oktavformate der Frühen Neuzeit wurden mit einer Hand gehalten, mit der anderen Hand wurde umgeblättert. Warum die Bücher beim Lesen nicht auf dem Tisch lagen, erklärt sich, wenn man sie heute öffnet: die originalen Einbände des 16. Jahrhunderts sitzen stramm, ohne Gewalt lässt sich ein Buchblock nur bis maximal 90° aufblättern. Die Signaturfähnchen der Bände in unserem Header-Bild sind auf den verschmutzten Stellen der Rücken angebracht und zeigen die Handschrift von Dr. Hans Haupt (1911-1993), ab 1947 Lehrer am Christianeum in Hamburg und bis zu seiner Pensionierung 1976 auch Bibliothekar.1
Heute markieren wir uns im Buch gelegentlich am Rand Stellen durch einen Strich. Die Leserschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bevorzugte die Ausführlichkeit (die Lust?) ihrer Schreibfedern: sie malte sich gern einen Zeigefinger an der Text. Mit oder ohne Talent gebar das durchaus komplexe Zeichen, genannt manicula, kreative Lösungen, wie zum Beispiel die Anmutung eines umgestülpten Pilzes.2
Unübertrefflich ist die Vielfalt, in der sich Leser im Laufe von Jahrhunderten in den gedruckten Büchern seit der Frühen Neuzeit (gar nicht so selten auch in den handschriftlichen Werken des Mittelalters) zu verewigen wussten. Den Glossen produzierenden Händen, die man zuweilen Personen namentlich zuordnen kann, wird heute angesichts Aufsehen erregender Entdeckungen gedankt, wie zum Beispiel im Fall der Annotationen in einer Heidelberger Inkunabel: Die handschriftlichen Einträge auf dem unbedruckten Rand neben dem Satzspiegel belegen die Identität von Leonardo da Vincis weltbekannter Mona Lisa, einer Florentiner Dame der Gesellschaft.3
Bücher sind gewandert, sowohl als sie noch mit der Hand geschrieben wurden, aber auch insbesondere als sie gedruckt und deshalb sensationell beweglich geworden waren. Infolge wurden Bücher zu einem wertvollen persönlichen Eigentum und deshalb für ihre Besitzer ebenso zum Geschenk wie zum verkäuflichen Wertobjekt. Von der nicht selten langen Reise eines Buchs zeugen die oft zahlreichen Einträge seiner Besitzer, die außer ihrem Namen gelegentlich auch die Umstände ihres Besitzes dokumentierten und damit heute über die persönlichen Beziehungen einer nicht nur gelehrten Welt seit Jahrhunderten Aufschluss geben können.4
Leser neigen dazu, nicht ins Bett zu finden und überm Buch einzuschlafen, zu Zeiten des Lesens bei Kerzenlicht mit manchmal fatalen Folgen. Davon zeugen die Brandlöcher in zahlreichen Handschriften und alten Drucken: die Kerze fällt um, stolpert übers aufgeschlagenen Buch und die Flamme verzehrt unverzüglich Pergament wie Papier. Das verrußte Loch durch viele Seiten hindurch bleibt. Manchmal setzte das Malheur umgehend die Feinmechanik der Reparatur in Gang. Im Codex Altonensis, der italienischen Pergamenthandschrift der Comedia des Dante aus dem 14. Jahrhundert, findet sich ganz hinten im Paradies ein Flammenfraß gleich durch mehrere Lagen; er wurde bei jedem Blatt durch Pergamentflicken mit Textergänzung repariert.5 Dieser vor Jahrhunderten enstandene und offenbar zeitnah versorgte Schaden könnte die Erklärung (und damit auch eine Datierung) bergen, warum die Pergamentlagen eine opulente Illustration des Inferno von einer Hand zeigen, das Purgatorio erkennbar von mehreren Händen illustriert wurde und das Paradiso nach einer Reihe von Vorzeichnungen am Ende gänzlich unbebildert blieb. Heute bietet uns der Schaden einen Beleg für die Arbeitsweise norditalienischer Skriptorien des späten Mittelalters: der Text wurde zuerst erstellt bis zum Schlußvermerk des letzten Schreibers, und zwar mit Freiplatz für die Illuminierung, die Malerei indes folgte zeitlich in deutlichem Abstand.
Manchmal scheinen die Bücher irgendwann in den Dornröschenschlaf gefallen zu sein; eingelegte Halme und andere pflanzliche Merkhilfen bildeten über Jahrhunderte, gewichtig gepresst, die eigenen Schatten aufs Papier. Lesezeichen in Form von Zetteln, insbesondere solchen aus jüngerer Zeit, wirkten indes zerstörerisch: unbemerkt zerfraß deren Säuregehalt innerhalb von Jahrzehnten das alte Hadernpapier.6
Bücher waren nicht selten der Gewalt ausgesetzt. In einer Inkunabel hat jemandem ein Holzschnitt gefallen (oder eventuell auch nicht gefallen?), und er hat ihn hastig herausgerissen, ein Eckchen blieb. Anschließend hat jemand (derselbe oder ein anderer?) den Schaden mit einem leeren Blatt repariert und den fehlenden gedruckten Text, einschließlich des Seitenkopfs und der am Rand gedruckten Marginalien liebevoll mit der Hand nachgemalt; das leere Bildformat wurde mit dem Lineal aufgezeichnet. Die Handschrift verweist auf eine Reparatur des 18. Jahrhunderts. Das vom Bild verbliebene Eckchen macht anhand heutiger Digitalisate den Verlust sichtbar und eindeutig identifizierbar. 7
Kleiner Epilog
In einer Inkunabel fand ich mal ein platt gequetschtes, vollständig vertrocknetes, für mich nicht mehr erkennbares, aber anscheinend ursprünglich dickliches, zeckenartiges kleines Insekt, das eine Saftaura um sich herum hinterlassen hatte. Ich vergaß, mir die Fundstelle zu notieren; ich habe sie niemals wiedergefunden. 8
Weiterführende Lektüre
Moulin, Claudine, Am Rande der Blätter. Gebrauchsspuren, Glossen und Annotationen in Handschriften und Büchern aus kulturhistorischer Sicht, in: Quarto, Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 30/31, 2010; S. 19-26 (online bei: academia.edu)
Schumacher, Meinolf, …der kann den texst und och die gloß. Zum Wortgebrauch von ‚Text‘ und ‚Glosse‘ in deutschen Dichtungen des Spätmittelalters, in: Ludolf Kuchenbuch und Uta Kleine (Hrsg), Textus’ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006
Blogs mit Bildern
Erik Kwakkel: Voices on the Medieval Page (1): The Reader
Biblos: Manicula
Bibliotheca Altonensis: Marginalien
Flavorwire: Classic Books Annotated by Famous Authors
Abbildungen
Header: Quelle und Lizenz siehe Impressum dieser Seite
Alle übrigen: Bibliothek des Christianeums Hamburg, Archiv des Christianeums Hamburg, public domain
- Archiv des Christianeums Hamburg: Die Bibliothekare
- Abbildung und Erläuterung: Manicula, in: Melber, Johannes: Vocabularius praedicantinum. Nürnberg: Peter Wagner, 18.VIII.1483 GW M22708; bei: Bibliotheca Altonensis
- Armin Schlechter: Ita Leonardus Vincius facit in omnibus suis picturis. Leonardo da Vincis Mona Lisa und die Cicero-Philologie von Angelo Poliziano bis Johann Georg Graevius, 2008; bei: IASLonline
- Abbildung: eine Seite von mehreren mit Besitzereinträgen in Francisco de Enzinas, Historia de statu Belgico et religione Hispanica. Wittenberg 1545; Handschrift, Bibliothek des Christianeums Hamburg
- Codex Altonensis, ital., 14. Jahrhundert; Abbildung Bl. 141v; Bibliothek des Christianeums Hamburg. Siehe auch: Bilder aus der Bibliothek: Flickwerk, 2009; Literatur zum Codex: Degenhart, Bernhard, Die kunstgeschichtliche Stellung des Codex Altonensis, in: Divina commedia. Codex Altonensis (Faksimile), Bd. 2, Mann, Berlin 1965; S. 67-126
- Siehe dazu: Lesezeichen, bei: bibliotheca.gym
- Siehe dazu: Holzschnitt gefällig? bei: Bibliotheca Altonensis und das verlorene Bild
- Liste der Inkunabeln in der Bibliothek des Christianeums Hamburg, via Schulhomepage: Zum Bestand und dessen Erfassung
Zwei Quellen zur Gymnasialgeschichte der Stadt Kassel mit 150 Büchern
Claudie Paye veröffentlicht in ihrem Blog Napoleon auf der Spur die Transkription von Quellen zur napoleonischen Ära in den deutschen Landen, stets versehen mit einem Kommentar. Jüngst erschienen in Payes Quellenblog zwei ministeriale Schreiben des frühen 19. Jahrhunderts zur Schulentwicklung der Stadt Kassel:
In den beiden Schreiben geht es um das 1779 von Landgraf Friedrich II. gegründete Lyceum Fridericianum zu Cassel, eine höhere Lehranstalt nebst angeschlossener Bürgerschule. Das Lyceum basierte auf einer vormaligen Lateinschule und führte sich in ihren Annalen Mitte des 19. Jahrhunderts daher auf das Gründungesdatum 1599 zurück. Die beiden Quellen dokumentieren, dass man zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach einer Neuordnung der Anstalt gesucht hatte. Infolge wurde die Bürgerschule vom Lyceum abgetrennt und letzteres später nach Kurfürst Wilhelm I. (1743-1821) als Kurfürstliches Gymnasium Fridericianum zu Cassel geführt, heute das Friedrichsgymnasium Kassel.
Die Quelle von 1811 erwähnt eine Bibliothek:
[…] Ein [Text durchgestrichen] mathematischer und physicalischer Apparat und Bibliothek fehlen dem Lyceo bis jetzt noch gänzlich; nur bey dem Seminario findet sich eine kleine Sammlung pädagogischer Schriften von etwa [verso] 150 Bänden, und eine Sammlung von Musikalien von den besten Meistern. […]1
Karl Friedrich Weber (1794-1861), Direktor des Gymnasiums von 1835 bis 1852, berichtet 1846 in seiner „Geschichte der städtischen Gelehrtenschule zu Cassel“ von Paul Veit (auch Veith oder Vith), dem Rektor der Lateinschule von 1772 bis 1779, verstorben 1781. Dieser habe 1781, „wo er 76 Jahr 9 Monat alt den 22. October starb“, zuvor „zum Zeichen seiner Anhänglichkeit an die Schule, laut Testament vom 21. Mai 1780, seine Bibliothek dem Lyceum vermacht“.2
Weber vermutet an späterer Stelle in einem Kapitel über die „Lehrmittel“, dass diese Sammlung kurz nach 1800 verkauft worden sei und übernimmt dabei auch die Formulierung der Quelle 1811 nahezu wortgetreu:
„So viel für die Verbesserung des Schulwesens durch die Einrichtung des Lyceums geschah, so wenig dachte man daran, die geringen Lehrmittel der früheren Zeit zu vermehren. Daher gab es weder einen physikalischen Apparat, noch Hülfsmittel zum naturhistorischen Unterricht, außer was etwa die Lehrer selbst an Kupferwerken besaßen. Nur bei dem Seminar befanden sich (1808) ohngefähr 150 Bände pädagogischer Schriften und eine Sammlung Musikalien. Die Bibliothek des Rectors Veit, welche derselbe dem Lyceum vermacht hatte, wurde vermuthlich ihrer geringen Brauchbarkeit wegen 1802 versteigert und der Erlös mit 84 Thlr. 23 Alb. 4 Hlr. zur Schulcasse genommen.“3
Die Homepage des Friedrichgymnasiums in Kassel beschreibt die Geschichte der Anstalt verborgen hinter dem Menuepunkt “Schule” und dem Unterpunkt „Schulleitung“4. Die vorhandenen „Bibliotheken“ (im Plural, ebenfalls erst auf den zweiten Klick hinter dem Menuepunkt „Lernen“ zu finden) werden mit einem Foto vorgestellt, das anhand der Einbände auf Bestände des 18. und 19. Jahrhunderts verweist.5
Die Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel hält laut Katalog Schulschriften des Lyceums und des Gymnasiums Fridericianum seit 1803, darunter auch sogenannte „Schulprogramme“, die jährlichen Schulberichte über Lehrinhalte, Prüfungen und Ereignisse. Die Schulschriften sind erst teilweise erschlossen, folgt man dem digital abrufbaren Katalog, der bei zahlreichen Titeln die eingescannten Kärtchen zeigt. Jubiläumsschriften und weitere Publikationen stehen als bibliographische Angaben aus Harvard Library Bibliographic Dataset zur Verfügung.6
Die Kasseler Gymnasialbibliothek ist, wie’s scheint, noch im Dornröschenschlaf. Zu vermuten ist, dass nach der Reorganisation des Lyzeums/Gymnasiums in Kassel, von der die beiden oben genannten Quellen zeugen, die Bibliothek in den verschiedenen Sachgebieten modern bestückt wurde, d.h. die Bestände im wesentlichen der Zeit des Massenbuchdrucks seit ca. 1840 entstammten. Inwieweit Bestände der Buchsammlung über die Schulschriften hinaus in die Murhardsche Bibibliothek gelangt sein könnten, ist bisher unbekannt. Über den Altbestand in ihren Bibliotheken gibt leider die Homepage des Friedrichsgymnasiums keine Auskunft, spendiert lediglich ein Bücherfoto vom Regal.
Literatur
Karl Friedrich Weber, Geschichte der städtischen Gelehrtenschule zu Cassel, Cassel 1846 (google books)
Ders., Geschichte der städtischen Gelehrtenschule zu Cassel von 1599-1709, Schulprogramm 1844 (Titelnachweis)
Links
Digitalisierte Schulprogramme des Gymnasium Fridericianum, Kassel (Universitätsbibliothek Giessen)
Friedrichsgymnasium Kassel, Bibliotheken
Friedrichsgymnasium Kassel, Geschichte
Homepage des Friedrichsgymnasiums Kassel
Abbildungen
Gebäude des ehemaligen Lyceum Fridericianum um 1900 (Festschrift für das 150. Jubiläum des Staatlichen Friedrichsgymnasiums zu Kassel 1779–1929, Kassel 1929; S. 9); Schulprogramm 1840 (Quelle); Gedenktafel (Quelle + Lizenz)
- „Cassel [soll] Lehranstalten haben, welche der Hauptstadt des Königreiches würdig sind“ – Reorganisation des Schulwesens in Kassel (Juli 1811)
- Karl Friedrich Weber, Geschichte der städtischen Gelehrtenschule zu Cassel, Cassel 1846; S. 267
- Weber, 1846, S. 348
- Friedrichsgymnasiums Kassel, Geschichte
- Friedrichsgymnasium Kassel, Bibliotheken
- Katalogsuche Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Schlagworte lyceum cassel, gymnasium fridericianum cassel
„Quo vadis?“ Eine fremdgestellte Frage, zwei Aufrufe und keine Lösungen #wbhyp
So wie Mareike König fragt – quo vadis? - , fällt mir als erstes der Historienschinken gleichen Titels von Henryk Sienkiewicz (1895) ein und das Hollywood-Kintopp der 1950er Jahre, in dem Peter Ustinov den Nero als eine rundliche Mischung aus Macbeth und Richard III. gibt: so brutal traurig mit seinem schick abgefackelten Rom.
Davon ausgehend, lässt sich gleichwohl direkt ins Thema „Gymnasialbibliothek“ einsteigen, denn so etwas wie der Sienkiewicz stand da schon mal 'rum. Nur deshalb gleich ein Blog? Das fragte ich ja bereits schon auf dieser Seite, wenn auch, zugegeben, einige Leser dort Ironiesignale gesehen haben wollten. Wirklichkeit ist eben manchmal ironisch.
Warum ein Blog wie „bibliotheca.gym“? Zunächst, weil's das nicht gab und weil nur eine einzige Gymnasialbibliothek bloggte, die's unterdessen aber eingestellt zu haben scheint. Und warum in einem Wissenschaftsportal? Grund waren Erkenntnisse, die ich aus dem 2012 als Causa Stralsund bekannt gewordenen Verkauf einer umfangreichen gymnasialen Buchsammlung aus einem Stadtarchiv gewonnen zu haben meinte und die ich mir in zwei Arbeitshypothesen goss:
1. Wissenschaft und Bibliothekswesen haben zwar durchaus Kenntnis von dieser speziellen, über Jahrhunderte dicht verbreiteten Sammlungsform, aber sie ist kein eigenes wissenschaftliches Thema geworden und in den Bibliotheken ein internes geblieben. Zwei externe Gutachter in Stralsund kamen ins Regionalprogramm; Tagungen zu diesem Komplex oder DFG-Förderungen wurden bislang nicht bekannt. Das wissenschaftlich orientierte Weblog Kulturgut erschien infolge der Causa.
2. Die breite Öffentlichkeit hat keinerlei Kenntnis von dieser Sammlungsform und in welch einmaliger Weise sie die Bildungsgeschichte (insbesondere die in unserem Land) zu repräsentieren vermag: eine nicht nur wissenschaftliche, sondern auch eine publizistische Brache, und deshalb eine Herausforderung. Über die Causa Stralsund berichtete die Regionalpresse, 1 (in Worten: ein) nennenswerter Artikel erschien in einer überregionalen Tageszeitung. Hier war allein das Internet der maßgebliche Motor gewesen, Verantwortliche in Bewegung zu setzen.
Was tat ich? Ich stellte zwei kleine Artikel ein (zur gymnasialen Bibliothek, zum gymnasialen Archiv), die wohlwollende Reaktionen erbrachten seitens derer, die's bereits wussten. Ich stellte eine zerzauste, unfertige Liste ein, die als Arbeitsliste schon seit einigen Jahren auf meiner Festplatte herumdümpelte, mit der Idee, a) überhaupt erst einmal irgendwo in der Literatur und im Internet bekannt gewordene vorhandene, umgesiedelte und zerstörte Bestände von Gymnasialbibliotheken zu erfassen, wobei b) ich fest davon überzeugt war (und bin), dass dies einem Einzelnen, ja auch einer Gruppe an einem einzigen (und sei es: universitären) Ort nicht in absehbarer Zeit gelingen könne, sondern dass c) ein allgemein zugänglicher Ort, den ein Blog darstellt, eventuell Personen mit ihrem Wissen herbeilocken könne. Ich legte Köder aus, auch die kleinen Entdeckungen nicht zu missachten.
Nun, ein paar kamen, schnupperten, gingen aber nicht in die Falle – gingen wieder fort und blieben fort. Ich schaute mir an, wie andere Blogs aussehen (zum Beispiel bei de.hypotheses) auf der Suche nach der Melodie des Rattenfängers. Ich habe noch keinen Klang im Kopf. Die „Öffentlichkeit“ dieses Blogs ist wohlwollend, nett – und anscheinend allein im Internet zuhause. Bürger, die als Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung signifikant Einfluss nehmen könnten, sind mir bloggend unerreichbar (auch da fehlt mir noch die betörende Melodie).
Ich bin indes der festen Überzeugung, dass Bloggen zum Thema Gymnasialbibliothek und -archiv sich dennoch lohnt, und zwar wissenschaftlich und publizistisch für ein noch zu interessierendes Publikum. Hoffnung hat sich noch niemals entlohnt:
1. Ich halte es nach wie vor für vordringlich, dass die Wissenschaft sowohl den inhaltlichen als auch den methodischen Wall aufbaut, der dieses fragile Kulturgut, das sich landauf landab nicht mal gar so selten noch an seinen angestammten Orten befindet, vor unbedarftem und unkontrolliertem Umgang beschützt.
2. „Bildung“, vor allem auch die schulische, befindet sich unterdessen fest in den Händen politischer Parteien und wurde längst für Wahlkämpfe zurechtgeschnitzt. Dringend erforderlich erscheint mir, zum Beispiel gegen abenteuerliche, aber gern unter die Leute gebrachte Missverständnisse die Kanonen der Aufklärung in Stellung zu bringen. Wörter wie „humanistisch“ und Namen wie „Humboldt“ müssen nicht zur wohlfeilen Propaganda aller Couleur zusammengedampft und so auch noch tradiert werden.
Wie haben allerdings keinen Anlass, uns zum Beispiel gegenüber einer Causa Stralsund auf ein hohes Ross zu setzen. Die DDR hatte 40 Jahre lang daran gearbeitet, die bürgerliche Geschichte zu tilgen; derlei dauert in den Köpfen. Der Westen fügte sich derweil der Diktatur der Zahl („brauchen wie das?“) - kein Anlass also zu triumphieren, wenn das Pekuniäre das Denken und Handeln bestimmt.
Versuchen wir's doch einfach mal mit der Hoffnung - einem der Leitgedanken der Aufklärung und den Ideen der Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts gar nicht mal so fern. Als eine der Leitideen der Gymnasien wurde sie angesichts politischer Umgebungen nicht selten vergessen. Auch von den dunklen gymnasialen Perversionen der Zeitläufte zeugen die Buch- und Dokumentensammlungen der Anstalten gelegentlich noch.
Zurück in die Zukunft war ein hübscher Filmtitel; dann aber, so fordert der Oberlehrer, auch bitte gleich richtig und ad fontes, ihr Gesellen!
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Beitrag zur Blogparade: Wissenschaftsbloggen: zurück in die Zukunft - ein Aufruf zur Blogparade #wbhyp
Abbildung: Kite by Mario, CC BY-NC 2.0.
Abenteuer Archiv
"Kulturaffin". Das Wort gefällt mir. Ich fand's fett gedruckt in der Ausschreibung des Siwiarchiv zur Blogparade (die sind schon drei!). Zu den anderen ihrer Fragen kann ich doch so wenig sagen: ich bin nicht NRW, ich lese das Blog "Siwiarchiv" nur gelegentlich gern, weil's vielfältig ist und mir - archivisch gesehen - stets 100%ig unbekannt, gut fand ich immer die Beiträge mit Fotos (ob's die besten waren, weiß ich nicht), und überhaupt finde ich klasse, dass bei denen gar nicht auffällt, dass da mehrere Blogger am Werk sind.
Ich hingegen kämpfe gegen Zeitmangel, ausbleibende Ideen - und vor allem gegen bloggische Einsamkeit: bei "mir" schreibt kaum jemand mit zur "Gymnasialbibliothek" und zum "Gymnasialarchiv". Nun schrieb aber Mareike König im Redaktionsblog von de.hypotheses soeben in einem folgenschweren Satz, dass sie sich bei den (wissenschaftlichen) Bloggern "mehr Reflexion, mehr Kreativität, mehr Witz, mehr Zweifel" wünsche und jenes "nicht immer in regelrechten Forschungsbeiträgen geschehen" müsse. Das nehme ich mal als Ablassbrief, zum Archiv etwas zu schreiben, ohne damit gleich aus diesem Portal zu fliegen befürchten zu dürfen.
Abenteuer Archiv
Wussten Sie schon, wie die temporäre Auslagerung eines Gymnasialarchivs wegen Bauarbeiten geht? Dann lesen Sie gern nicht weiter. Siwiarchiv wird vermutlich gähnend beiseite schauen, denn die kennen Neubau und haben mehr aus- und umzulagern gehabt als wir mit "meinen" ca. 800 Archivkartons, beinhaltend Dokumente seit 1700.
Das geht so: du hast auf einmal viel weniger Platz im Zwischendomizil. Nicht ganz gelungen überdies ist die räumliche Andersverteilung der Lagerung entsprechend der im Findbuch aufgeführten Repositorien. Umräumen gestaltet sich gefahrensportlich, da jemand die stabilen Tritte und Leitern vergessen hat. Die zwei kleinen Tischchen (immerhin!) hat jemand unterdessen als Ablage benutzt, so dass du mit den umzubalancierenden Kartons irgendwie in der Luft hängst. Dir fällt ein, dass der Beton dein Handy nicht durchlässt, malst dir aus, das Wochenende in deinem Blute inmitten der Geschichte des Geistes und der Bildung einer Stadt zu verbringen und lässt das mit der Stuhlakrobatik und wendest dich den gesundheitlich unbedenklicheren Erschließungsfragen zu.
Es fehlt der Laptop mit der Erschließungssoftware. Macht nichts, früher hatten die auch nur Zettel & Bleistift. Nur wo sind denn jetzt die Kartons mit den von dir als "varia" gekennzeichneten noch nicht erfassten Einheiten? Nachdem du den Slalom durch die eng gestellten Metallregale durch bist: wie zu erwarten, sind die "varia" ganz oben gelandet. Gut. Kontrollieren wir unübersehbare Einheiten unten: die Gemälde. Da kommst du nur grad schlecht dran, weil der Durchgang mit den vollgestapelten Tischchen den direkten Zugriff im Augenblick nicht erlaubt. Du verwirfst den Gedanken an einen bodystarken Gehilfen, weil der ohnehin nicht mehr reinpassen würde, und kraxelst selbst. Die Gemälde sind alle da, und du findest nebenbei auch noch zwei der insgesamt vier kleinen Thermometer mit Feuchtigkeitsanzeige und kannst noch etwas wirklich Sinnvolles tun: diese an den relevanten Stellen platzieren. Dabei stellst du fest, dass von den mobilen Klimageräten noch welche fehlen und beschließt, dir endlich einen Zettel zu machen, damit du bis zum nächsten Mal nicht vergisst, dich vorher um das Notwendige gekümmert zu haben.
Herausforderungen, an die du seit Jahren nie dachtest, Stromschnellen für ein Paddel, das sich bislang bequem ins "Kulturaffine" pendelte, Ungewissheit der Zeit, die du in 800 Kartons für die Ewigkeit behütet sahst.
Nachwort
Dies ist (noch) kein Teilnahmebeitrag zu: Wissenschaftsbloggen: zurück in die Zukunft - ein Aufruf zur Blogparade von de.hypotheses; Siwiarchiv war eher dran.
Francisco de Enzinas und Andreas Reinhard. Die Geschichte einer Digitalisierung 2006
Francisco de Enzinas (* 1. November 1518 in Burgos; † 30. Dezember 1552 in Straßburg), auch bekannt als Franciscus Dryander, Françoys du Chesne, Quernaeus, Eichmann, van Eyck (nach span. encina = [Stein-] Eiche), war ein spanischer Humanist und Protestant, der als Erster das Neue Testament aus dem Griechischen ins Spanische übersetzte. Francisco de Enzinas lebte als spanischer Protestant im 16. Jahrhundert auf der Flucht. Er hinterließ eine womöglich bis heute noch nicht in vollem Umfang erfasste Zahl von Übersetzungen antiker, insbesondere griechischer Autoren ins Spanische sowie zum Teil unter Pseudonym verfasste selbstständige Schriften. [...]
(aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia; Verfasserhistorie)
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http://de.wikipedia.org/wiki/Francisco_de_Enzinas
Ende 2004 stieß ich auf einen Bibliotheksbericht von 1878, in dem Prof. Dr. Lucht, Direktor des Christianeums und Bibliothekar, die 17 Handschriften des Donum Kohlianum beschrieben hatte; eine reizte mich durch eine ausführliche Inhaltsangabe und den Bericht über ihre Herkunft besonders: Historia de statu Belgico et religione Hispanica von 1545; ich fand in der Bibliothek eine deutsche Übersetzung dieser lateinischen Schrift von 1893, die ich in im Frühjahr 2005 in einem Zug durchlas – so spannend war die autobiographische Erzählung des jungen, spanischen Griechischstudenten Melanchthons in Wittenberg namens Francisco, der mit seiner für den Druck vorbereiteten Fassung einer Übersetzung des neuen Testaments ins Spanische, der ersten in der Geschichte, im niederländischen Löwen 1543 mitten in die Greuel der spanischen Inquisition gerät, wegen des Drucks der Übersetzung anderthalb Jahre im Gefängnis einsitzt und erst 1545 nach geglückter Flucht wieder bei Melanchthon in Wittenberg ist, wo er in wenigen Monaten seine Erlebnisse in elegantem Latein niederschreibt.
Die Recherchen nach dem Verfasser, Francisco de Enzinas, ergaben einen philologischen Krimi und führten nicht nur zu einem fruchtbaren Email-Austausch mit zweien der drei gegenwärtig einzigen Forschern auf der Welt zu diesem Autor, einem Spanier und einem US-Amerikaner, sondern auch zu einem Vortrag im Dezember 2005 an der Carl-Albrechts-Universität zu Kiel, aus dem sich en passant ein Forschungsinteresse ergab zu einer anderen Handschrift aus unserer Bibliothek, dem Codex Christianei, einer frühen Erzählung Giovanni Boccaccios, der daraufhin einmal durchfotografiert wurde, so dass das Digitalisat nunmehr auf einem Rechner in Kiel, unserem Bibliotheksrechner und auf meinem Laptop der Bearbeitung harrt.
Dass ich mein Enzinas-Vortragsmanuskript zwei Gegenlesern geschickt hatte, ergab in der Folge Anfang 2006 , dass ich auf Anregung des einen meiner Lektoren eine Zusammenfassung des Vortrags, entsprechend bearbeitet und mit Bildern versehen, als Artikel in die freie Enzyklopädie Wikipedia ins Internet einstellte; durch die Vermittlung des anderen landete eine Kopie der deutschen Übersetzung der Historia des Francisco de Enzinas von 1893 im Mai 2006 bei einem Verleger.
http://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Ex_Bibliotheca_Gymnasii_Altonani_(Hamburg)
Unterdessen war der Artikel über Francisco in der Online-Enzyklopädie Wikipedia als „exzellent“ eingestuft worden und hatte das Interesse einiger Benutzer und Autoren dieser Enzyklopädie geweckt. In erster Linie angesprochen wurde ich von Vertretern des akademischen Nachwuchses, die sich für die Altbestände der Christianeumsbibliothek interessierten. Wir fertigten im Laufe des Frühjahrs 2006 einige Scans an, die ich gemeinfrei im Internet auf Wikimedia Commons, einer Datenbank mit freien Mediendateien, zur Weiterverwertung hochlud.
http://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Reinhard
Im April 2006 erschien in der Online-Enzyklopädie Wikipedia ein Artikel über Andreas Reinhard, einen erzgebirgischen Rechenmeister des 16. Jahrhunderts, dessen prächtig ausgestattetes Manuskript eines Rechenbuchs von 1599 in der Bibliothek des Christianeums verwahrt wird und das 1988 erstmals von Bernd Elsner beschrieben wurde. Der Verfasser des Wikipedia-Artikels, Frank Schulenburg aus Göttingen, Historiker mit Schwerpunkt auf der Wirtschaftsgeschichte, hatte die Bilder auf Wikimedia Commons gesehen, umfassende Recherchen über „Rechenbücher“ angestellt und eines Tages angerufen. Als Vorstandsmitglied des Vereins Wikimedia Deutschland machte er den Vorschlag, das Rechenbuch des Andreas Reinhard im Digitalisierungszentrum der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (GDZ) digitalisieren zu lassen auf Kosten des Vereins.
http://commons.wikimedia.org/wiki/Rechenbuch_des_Andreas_Reinhard
http://de.wikisource.org/wiki/Drei_Register_Arithmetischer_ahnfeng_zur_Practic
Am 24. Mai 2006, einen Tag vor Himmelfahrt, wurde in Göttingen eine hochauflösende digitale Fassung des Rechenbuchs erstellt und in den folgenden Tagen auf Wikimedia Commons hochgeladen. Gleichzeitig entsteht, unterstützt durch das Material Bernd Elsners, eine textkritische und kommentierte Ausgabe des Rechenbuchs auf Wikisource, einer deutschen Quellensammlung im Internet. Der unterdessen ausgearbeitete Artikel in Wikipedia informiert über den Verfasser des Rechenbuchs, Andreas Reinhard, und den historischen Hintergrund seines Werks.
http://de.wikisource.org/wiki/Wikisource:Pressemitteilungen/Rechenbuchprojekt
Im Dezember 2005 war der alphabetische Zettelkatalog des Altbestandes der Christianeumsbibliothek - ca. 18 000 Kärtchen - ehrenamtlich eingescannt worden; der Katalog ist nunmehr schulintern über den Lesesaal-Rechner in der Lehrerbibliothek jederzeit einsehbar. Im März 2006 hatte im Christianeum ein informelles Treffen von dem Christianeum nahestehenden und an der Bibliothek interessierten Persönlichkeiten stattgefunden, die die Möglichkeiten diskutierten, insbesondere die einmaligen Bestände der Christianeumsbibliothek für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Digitalisierung des Rechenbuchs will einen Weg weisen, wertvolle alte Schriften zu sichern und wissenschaftlich nutzbar zu machen in einer zukunftsweisenden Form. Die am 24. Mai 2006 online abgesetzte Pressemeldung über das Wikisource-Rechenbuchprojekt wurde auf Internet-Fachseiten ebenso wie auf Onlineseiten der Presse publiziert.
Das Rechenbuch des Andreas Reinhard ist, wie viele andere Stücke der über 260 Jahre alten Bibliothek des Christianeums, wertvollstes Kulturgut; sie repräsentiert die Historie unserer Anstalt, die es zu bewahren gilt. Für einzelne seltenste Drucke oder die ohnehin einmaligen Handschriften trägt die Schule die Sorge, sie zunächst zu erhalten und zu schützen; nicht wenige Stücke – zum Beispiel alle Inkunabeln, die frühen vor 1500 entstandenen Drucke nach Gutenberg – erlauben in ihrem Zustand, insbesondere dem ihrer originalen Einbände, eine Benutzung derzeit nicht. Die Restaurierung dieser Kostbarkeiten ist teuer. Die Veröffentlichung des Rechenbuchs hat die Schule und die Eigentümerin, die Freie und Hansestadt Hamburg, keinen Cent gekostet; sie war indes nur möglich durch das freiwillige Engagé, insbesondere den Einsatz Frank Schulenburgs, und durch die Neugier nebst den daraus erwachsenen Tätigkeiten aller an diesem Projekt Beteiligten.
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[...] Ein Druck der Historia de statu Belgico et religione Hispanica zu Lebzeiten Francisco de Enzinas’ ist nicht bekannt, eine eigenhändige Niederschrift nicht erhalten. Es existieren zwei handschriftliche Kopien, die vermutlich von de Enzinas sogleich nach Beendigung der Niederschrift im Juli 1545 in Wittenberg in Auftrag gegeben worden sind. Eine dieser Kopien liegt seit 1623 in der Apostolischen Bibliothek des Vatikans, wohin sie mit der Bibliotheca Palatina aus Heidelberg über die Alpen verfrachtet worden war. Bis auf eine Abschrift ihres Anfangs im 19. Jahrhundert ist bislang keine Einsicht in diese Schrift bekannt geworden; ebenso ist unbekannt, wie sie in die Palatina gelangte. Die andere Kopie wird seit 1768 in der historischen Gymnasialbibliothek des Christianeums in Hamburg-Altona verwahrt; diesem Manuskript fehlt die erste Lage und damit auch der Titel, der handschriftlich auf dem Rücken des Pergamenteinbands aus dem 16. Jahrhundert vermerkt ist. Der Autor ist in den zahlreichen Einträgen der Vorbesitzer genannt; erst der Besitzer, der die Handschrift im 18. Jahrhunderts erwarb, verzeichnete das Fehlen der ersten Lage. [...]
(aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia; Verfasserhistorie)
Epilog
Die Handschrift des Francisco de Enzinas harrt auch im Jahr 2015 noch ihrer Digitalisierung, ebenso die einzige, 1893 in nur 100 Exemplaren in Bonn erschienene Übersetzung ins Deutsche von Hedwig Böhmer, Denkwürdigkeiten vom Zustand der Niederlande und von der Religion in Spanien, mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard Böhmer. Die Ausgabe ist weltweit in nur 8 Exemplaren in den Opacs nachgewiesen, das Exemplar in der Bibliothek des Christianeums hat Säuefraß im letzten Stadium. Ein Nachdruck von 1897, von der University of Toronto digitalisiert, zeigt im Vergleich eine Bearbeitung in den Fußnoten und Kommentaren - der "Nachdruck" war tatsächlich eine neue, veränderte Ausgabe der Übersetzung.
Anmerkung: Der Artikel erschien - ohne die beiden Wikipedia-Zitate und den Epilog - erstmals und mit Abdruck der URLn in: Christianeum. Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums in Verbindung mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer, 61. Jg., H. 1. Hamburg, Juni 2006. S. 58-63
Abbildungen: Bibliothek des Christianeums (public domain)
Aus meinem Journal des Luxus und der Moden
Zelle.
(Mai 2003)
Meine Zelle misst knapp fünfzehn Quadratmeter, durch einen Querriegel geteilt. Sie ist aus Stahlbeton, fensterlos und über eine Alarmanlage direkt mit der Polizei verbunden. In ihr herrscht, selbst bei entsicherter und geöffneter Tür, eine Stille, die so absolut ist, dass der Klimaregler sich anhört wie eine startende Boeing. Meine Zelle ist das Herz einer über 260 Jahre alten Bibliothek mit ca. 35-40 000 Bänden, die genaue Zahl weiß man nicht, die letzte Zählung war vor mehr als zwanzig Jahren. Die diese Bibliothek umgebende Lehranstalt, die ebenso so alt ist, hat eine äußere Hülle von 1972, die von dem dänischen Stararchitekten Arne Jacobsen entworfen wurde. Meine Zelle heißt „Bunker“.
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Vor einer Reihe von Jahren bin ich einmal in einer 9. Klasse mit knapp dreißig auf mehrere Beutel verteilten Büchern zu meinem Deutsch-Unterricht erschienen, hatte die Beutel ausgekippt und die Anwesenden aufgefordert, sich eins der Bücher zu nehmen und es zu lesen. Es handelte sich sämtlich um Neuerscheinungen aus den letzten zwei, drei Jahren, Hardcover-Erstausgaben aus meiner eigenen Bibliothek. Die Idee war im Gespräch mit meinem Buchhändler entstanden. Wir hatten uns die Frage gestellt, wie man mehr oder weniger nagelneue und qualitativ überdurchschnittliche internationale Erzählungen und Romane, die man für die Altersklasse geeignet hält, in den Literaturunterricht der höheren Lehranstalten kriegt. Wir sprachen vermutlich, genau erinnere ich mich nicht, unter anderem über Ian McEwan und seinen „Zementgarten“, über Alex Garlands „Strand“ oder Andrzej Zaniewskis „Ratte“. Eine Anschaffung im Klassensatz war aus Kostengründen – und auch denen einer Logik der Lehre – ausgeschlossen. Leseliste? Zu riskant für meine Glaubwürdigkeit: Was ist, wenn sich einer meiner Abhängigen ein Buch für DM 48,- kauft auf meine Empfehlung und es hernach völlig blöd findet? Mit dem Buchhändler war ich kurz durchgegangen, was ich in den letzten Monaten, im letzten Jahr alles erworben hatte. Warum sollten die Sachen eigentlich, einmal gelesen, bei mir als Wandschmuck vergilben?
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In meiner Zelle bin ich allein mit Lederrücken, die allerlei Absonderlichkeiten bergen. Ich bevorzuge das Prinzip des Zufalls. Der einzige bewegliche Gegenstand ist eine alte Sitzleiter. Ich schiebe sie irgendwohin, steige hinauf, sondiere das erreichbare Karree, greife mir einen kleinen schweinsledernen Schinken, setze mich auf den obersten Absatz der Leiter und untersuche das Fundstück, eine deutsche Sprachlehre von 1700 zum Beispiel. Sie ist nicht wirklich eine Grammatik, aber so etwas Ähnliches, eher ein Wörterbuch mit bereits enzyklopädischem Anspruch, und erweist sich als Anthologie der deutschsprachigen Lyrik des 16. und 17. Jahrhunderts. „Der Aemter Last ist groß / sind schwer die hohen Würden / Drumb pfleget man sie auch / den Eseln aufzubürden“ dichtet Daniel Georg Morhofen, um die Kunst des Epigramms zu verdeutlichen, die sich im 17. Jahrhundert bereits zur improvisierenden, geselligen Dichtung entwickelte und bis auf den heutigen Tag zum Formenschatz „höheren Unsinns“ gehört.
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Der Verleih meiner Erstausgaben in der 9. Klasse hatte einwandfrei funktioniert. Das System war überschaubar gewesen: 1. Das Buch war im selben Zustand zurückzugeben. 2. Wer es innerhalb einer Woche nicht zurückgegeben hatte, musste es a) zuende lesen und b) der Klasse vorstellen, wofür man c) keine Note bekam. Es gab kaum Rückgänge, vielmehr einen lebhaften Tauschbetrieb und einen glücklichen Zufall. Einer der Romane, „Der Strand“, gerade drei Jahre alt, stand zur Verfilmung an, wie ein Mädchen aus „cinema“ zu zitieren wusste, mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle. Das half lesen. Man kann ja nie wissen.
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In meiner Zelle blättere ich in den Briefen von Ludvig Holberg, Erstausgabe der deutschen Übersetzung aus dem Dänischen von 1749. Der Mann befindet sich auf Bildungsreise, schreibt ganz flott und krittelt ziemlich amüsant. „Sehen wir einen Bauern, der in die Hand die Nase schneuzt, und die Unreinigkeit auf die Erde wirft, so nennen wir ihn einen Tölpel; und vielleicht giebt der Bauer den Stadtleuten keinen bessern Tittel, wenn er sieht, dass sie diesen Unflat in ein Tuch legen und in die Tasche aufheben“, sagt er (Bd. III/IV, S.349). Neben den Gesamtausgaben der Briefe und der Komödien steht auch das Buch eines Anonymus in lateinischer Sprache, erschienen in Kopenhagen und Leipzig 1741, auf dessen Rücken jemand mit Feder und Tinte „Holberg“ gemalt hat. Der Titel annonciert die unterirdische Reise eines Herrn Klim. In der deutschen Übersetzung, ebenfalls von 1741, lese ich einen hinreißend komischen und politischen Zukunftsroman.
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Wenn etwas funktioniert, wird man mitunter übermütig. Der Bücherverleih hatte so hübsche Ergebnisse gebracht, dass ich ihn für den Stein der Weisen hielt. Ich wollte mit ihm Geschichte machen. Die Kunstgeschichte ist gut zu lehren, habe ich doch exemplarisch die Bilder, die sofort und als Ganzes erfasst werden können. Mit der Literaturgeschichte geht das nicht so einfach. Kein Mensch, insbesondere wenn er ein Schüler ist, kann so viel lesen in so wenig Zeit. Ich kann Gedichte nehmen. Nur dann sind die Eleven nach einiger Zeit womöglich derer so überdrüssig, dass sie nie wieder welche lesen. Poesie sperrt sich gegen Zielformulierungen.
Ich hatte wieder eine Büchertasche gepackt, sie diesmal vor einem Leistungskurs ausgekippt, zum Zugriff aufgefordert und, nachdem sich jeder mehr oder weniger ratlos ein Buch gegriffen hatte, Nummern für die Titel verlesen, eine Reihenfolge, in der die Bücher dem Kurs vorzustellen seien. Die Vorstellung wurde von mir benotet. Für den Pechvogel mit der Nummer Eins war das gemein gewesen, denn ihm blieb nicht viel Zeit; mir, wie ich hernach feststellen sollte, allerdings auch nicht. Mein ehrgeiziger Plan, auf diese Weise eine kleine Geschichte des literarischen Geistes zu enthüllen, erwies sich als schweißtreibend, denn die Aufgabe, die Fäden aus dem Gewirr zu ziehen, lag bei mir; das daraus Selbstgestrickte hatte kein ordentliches Muster.
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Eines Schulmorgens vor einiger Zeit bin ich aus meinem schwarzen Rennauto gestiegen mit schwarzen Gedanken: Ich geh’ nach Kalifornien. Ein geklauter Spruch, mit dem ich mir das „Kalifornien der Poesie“ von H. C. Andersen zur Drohung verfinstert hatte für den Fall, dass mir mal wieder etwas nicht passt. In der Morgenzeitung war zu lesen gewesen, dass die vorgesetzte Behörde meine Arbeit in Zukunft als Minutentakt mit Stellen hinterm Komma nach Tabelle faktorisieren werde. Ich geh’ nach Kalifornien und bau’ denen im Silicon Valley in ihre Häuser Klos, die aussehen, als hätten sie mal im Château Chambord gestanden. Moderne Zeiten: Statt nach Kalifornien ging ich in die Zelle.
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Planung gerät manchmal durcheinander, wenn man zu schlau sein will. Mein Deutsch-Grundkurs im zweiten Semester kennt „Die Leiden des jungen Werthers“ nicht. Das wirft mein Programm über den Haufen, hatte ich doch diese Pflichtlektüre höherer Lehranstalten als längst erledigt vorausgesetzt. Werther muss sein und das Ganze bekommt ein neues Thema: Debüt. Ich packe wieder Bücher-Tüten. Die Hälfte der Exemplare ist soeben erschienen und kommt von meinem Buchhändler. Ich kenne nur die Klappentexte. Die Rückgabequote ist relativ hoch, denn einige der jungen Leute sind zum Buchhändler gegangen, um sich selbst ihre Erstlinge auszusuchen; andere haben auch ein von Mutter oder Onkel geschenktes Debüt daheim. Die von mir benoteten Buchvorstellungen der Kursteilnehmer erweisen sich als ausschlaggebend dafür, was ich selbst in den Sommerferien lesen werde, die Erstlinge von Gavalda, Kubicek, MacDonell oder Rouaud zum Beispiel.
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Holberg steht gottlob oben im “Bunker” in dem Teil der Bibliothek, den wir „Magazin“ nennen – ein irreführender Name insofern, als dieser Teil, abgesehen vom „Bunker“, ebenso wie der “Lesesaal” unter dem Lehrerzimmer mit den modernen Beständen, eine Präsenz- und Leihbibliothek ist für uns, wenn auch doppelt und dreifach alarmgesichert, so dass Sie zwar hinaus können, aber nicht ohne weiteres hinein. In dieser klösterlichen Anlage soll man, wird mir gesagt, dünne, weiße Handschuhe anziehen, wenn man an die Bücher muss, vor allem an die in den unteren Reihen; dabei gehe es keineswegs um die eigene Haut, sondern darum, dass die Kulturgüter geschont und etwaige Schädlinge nicht weiter in die oberen Etagen verteilt werden. Ich habe mir in der Apotheke ein zweites Paar Allergiker-Handschuhe gekauft, weil eins immer in der Wäsche ist.
Wenn ich in meiner Zelle mit Ludvig Holberg verabredet bin, trage ich die weißen Handschuhe, weil ich das chic finde, und ich beschließe, einen Artikel zu schreiben über „Nicolai Klims Unterirdische Reise worinnen eine ganz Neue Erdbeschreibung wie auch eine umständliche Nachricht von der fünften Monarchie die uns bisher ganz und gar unbekannt gewesen, enthalten ist. Aus dem Büchervorrathe Herrn B. Abelins anfänglich lateinisch herausgegeben, jetzo aber ins Deutsche übersetzt.“
Meine deutsche Ausgabe ist eine Neuauflage von 1780, die ich habe ausleihen dürfen, weil sie vorne im „Magazin“ steht. Oben. „Ich habe dieses Werk schon öfters durch den Druck gemein machen wollen, es haben mich aber noch jederzeit wichtige Ursachen von diesem Vorhaben zurück gehalten“, hatte Herr B. Abelin, der wie der Roman eine Erfindung ist, bereits 1741 hinzu gefügt.
Nachwort
Das Journal des Luxus und der Moden, erschienen zwischen 1786 und 1827, war eine beliebte Monatszeitschrift für die neuesten Trends. Das Magazin wurde von der Bibliothek des Christianeums in Altona (heute Hamburg) gehalten; dieses und weitere Zeitschriftenbestände gelangten 1946/47 in die Staatsbibliothek Hamburg.
Ich führe seit über zehn Jahren einen Dateiordner mit jenem Titel auf meiner Festplatte, den ich immer mal wieder ergänze. Der oben stehende Text daraus: Zelle. erschien erstmals in: Christianeum. Mitteilungsblatt des Vereins der Freunde des Christianeums in Verbindung mit der Vereinigung ehemaliger Christianeer, 58. Jg., H. 2. Hamburg, Dezember 2003. S. 97ff.; er wurde hier leicht überarbeitet.
Felicitas Noeske
Sieben veritable Gründe, warum Gymnasialbibliotheken und –archive nicht bloggen sollten
Mit Empfehlung an BIÖG und den besten Wünschen für die Tagung!
1. Inkunabel steht nicht im Lehrplan. Genau. Lehrer haben sich dran zu halten und sich nicht öffentlich mit einem Latein aufzuspielen, mit dem sie am Ende sind.
2. Ist das denn was für Schüler? Nein. Manchmal verirren sich welche, z. B. ins Archiv; die bekommen, wenn sie zu bleiben wagen, 15 Punkte und einen Schwung Postkarten mit hübschen Abbildungen.
3. „Das sind doch nur alte verschimmelte Bücher!“ So etwas zeigt man nicht, fasst man auch nicht an. Igitt.
4. „Sei bloß still!“ Sonst kommt noch der Handel und nimmt was weg, so wie z. B. in Stralsund.
5. Das gehört ohnehin in die Staatsbibliothek und ins Staatsarchiv. Das stimmt, denn dann müsste nicht drüber gebloggt werden. Und die Wissenschaftler kämen auch endlich dran. In zehn Jahren, wenn bei den Großen die zigtausend Einheiten katalogisiert sein werden.
6. Eine schicke Büchertapete auf der Homepage tut’s doch auch.
7. Deshalb macht’s (k)einer. Es bloggte (hörte aber auf): die Bismarckbibliothek in Karlsruhe. Es bloggt die Bibliothek mit Archiv des Christianeums in Hamburg. Und wer bitte noch?
Aldine und die Pappe
Der Einband eines Oktavs hat sich gänzlich vom Buchblock gelöst; die Lederstreifen der Bünde, mit deren Verlängerung der Block in den Deckel eingehängt war, sind im Lauf jahrhundertelanger Benutzung gebrochen. Klebereste im Vorderdeckel lassen Vorsätze vorne und hinten vermuten, die indes verloren gegangen sind. Das Werk enthält die Orationes des Kirchenvaters Gregor von Nazianz (um 329-390), gedruckt 1516 in Venedig in griechischen Lettern und in kleinem Format. Der Titel zeigt ein Emblem aus Anker und Delphin, flankiert von den Lettern AL und DVS: die Druckermarke des Aldus Manutius aus Venedig. Im Druckervermerk zeichnete Andrea Torresano (auch Andrea da Asola, 1451-1528), seit 1495 in der Druckerei tätig, „[...] et Andreae Soceri“.
Der aus Bassiano nordwestlich von Rom stammende Aldus Manutius (1449 – 1515) hatte um 1490 mit der Einrichtung einer Werkstatt in Venedig eine Drucker- und Verlegerdynastie begründet, die im 16. Jahrhundert europaweit bekannt wurde. Aldus druckte als erster auf der Welt ab 1498 in griechischen Lettern. Seine Ausgaben der Klassiker, Aldinen genannt, waren bei den Humanisten in ganz Europa begehrt. Das große Interesse an seinen Aldinen bewog Aldus dazu, den Drucken aus seiner Werkstatt die oftmals lange Reise zu erleichtern: er widmete sich dem kleinen Format und ließ diesem entsprechende Typographien entwickeln. Der vorliegende Druck zeigt winzige griechische Lettern, ist gleichwohl hervorragend lesbar und von bemerkenswerter Eleganz im Satz.
Die kleinformatigen, für die Reise vorgesehenen Aldinen waren auch nicht mehr in die im 15. Jahrhundert bevorzugten gewichtigen Holzdeckel eingebunden, sondern in solche aus Pappe; das machte sie nicht nur handlicher, sondern war auch neu. Unser aus den Lederbändern gefallenes Exemplar zeigt, wie diese Pappe aussah. Sie bestand in fest verleimten und gepressten Lagen aus Makulatur, Fragmenten aus den Resten verschiedener Druckproduktionen. Pappe wird heute noch genauso hergestellt: aus Papier- und Zellulosemakulatur werden Vliese gewonnen, die feucht zusammengepresst zur Pappe werden; die Aldinen des 16. Jahrhunderts sind jahrhundertealte Wegweiser ins Recycling.
Wohin die Reise unseres Drucks führte, lassen die Besitzereinträge auf dem Titel vermuten: nach England. Matth[ew] Hutton (1529–1606), Erzbischof von York von 1595 bis 1606, war vielleicht ein erster Besitzer, der seinen Namen über Aldus’ Anker schrieb. Der Erzbischof hatte, anders als sein gleichnamiger und erheblich jüngerer Kollege in Canterbury (1693-1758), einen ältesten Sohn namens Timothy (1569-1629), und der dürfte sich unten auf dem Titel in in der erkennbar jüngeren Hand als „Timo Hutton“ verewigt haben. Der weitere Weg unserer Aldine ist unbekannt; womöglich enthielten die verloren gegangenen Vorsätze Hinweise auf die Stationen ihrer Wanderung in die Bibliothek des Christianeums (Sign. M 192/16). Der kleine Vermerk oben am Rand des Titels, datiert 1592, könnte einen ersten Schritt weisen.
Druck
Gregori Nazanzeni Theologi Orationes Lectissimae XVI. Venetiis: Aldus; Andreas Socer, 1516
Links und Literatur