Personalauswahl: Das A und O

Führen in (interkulturellen und interdisziplinären) Teams. 5. Exzellenzform der Universität München, Senatssaal, 20. Januar 2016

Das Wort Resilienz ist keinmal gefallen an diesem Abend. Dabei geht es um Teams, um interdisziplinäre und interkulturelle Teams, und um Bedrohungen. Um das Babel der Disziplinen, um die Zwänge akademischer Karrieren und damit zwangsläufig auch um die Fachzeitschriften-Kultur, um DFG- und EU-Gutachter, die zwar die besten in ihrem Feld sind, aber wenig verstehen vom Bauern nebenan, um Fluktuation und um Menschen, die schon morgens um acht den ganzen Reichtum der asiatischen Küche auffahren, wenn die deutsche Kollegin eigentlich nur Kaffee will. Wie schaffe ich es als Chef, diese Leute zusammenzuhalten? Ja mehr noch: Wie komme ich zu den „Quantensprüngen“, die innerhalb einer Disziplin gar nicht zu haben sind, wenn man Dieter Frey glaubt, der das LMU Center for Leadership and People Management leitet und durch den Abend führt. Unterschiedliche Perspektiven integrieren: Darauf komme es an.

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Quelle: https://resilienz.hypotheses.org/620

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Die Welt von RT

Der gute, alte Journalismus ist lange tot, sagt Alexej Nikolov. Seit 2008, mindestens. Web 2.0. Heute schreibe doch niemand mehr einfach Nachrichten, nicht mal über unseren Besuch hier bei ihm. „Geben Sie das in Google ein und Sie bekommen sogar Bilder!“

Nikolov ist Chef-Manager von RT in Moskau und hat alles erlebt, was sein Beruf zu bieten hat: in der Sowjetunion Sportreporter, in den Perestroika-Jahren politisiert, ab 1990 am Mikrofon der ersten unabhängigen russischen Radiostation, seit 1994 im Fernsehen und 2005 dabei, als Russia Today aus der Taufe gehoben wurde. Objektivität und Ausgewogenheit hält Alexej Nikolov für Ideen von gestern. „Wer sagt, dass er alle Seiten eines Themas abdeckt, der ist entweder naiv oder nicht ehrlich.

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Quelle: http://medialogic.hypotheses.org/416

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Der Mythos vom mediatisierten Zentrum


Nick Couldry: Media, Society, World. Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge: Polity Press 2012.

couldryDie Idee Medialisierung ist Nick Couldry suspekt. Erstens sei es kaum möglich, gesellschaftlichen Wandel direkt auf Medien zurückzuführen, wenn man wisse, wie viele Prozesse miteinander zusammenhängen und sich überschneiden (S. 133, vgl. Nassehi 2015). Zweitens würden die Medien selbst sich ändern (erst recht in der Gegenwart, S. 136), und drittens könne man nicht im Ernst von einer einzigen Medienlogik ausgehen, diese dann zum Dreh- und Angelpunkt von Medienwirkungen machen und auch noch annehmen, dass eine solche Logik überall die gleichen Folgen habe (S. 136).

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Quelle: https://medialogic.hypotheses.org/378

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Zauberwort Resilienz. Gedankensplitter eines Außenstehenden

Von Mattias Kiefer

Vorausgeschickt: Dies sind Eindrücke eines Außenstehenden zu einer Tagung, die Ende Februar 2015 an der Evangelischen Akademie in Tutzing stattfand. Das Wort außenstehend gilt dabei im doppelten Sinn: Ich bin weder Mitglied des Forschungsverbunds, noch selbst aktuell wissenschaftlich aktiv. Mein persönlicher Zugang: Das Verfolgen der Resilienzdebatte vor allem im Kontext gesellschaftlicher Transformationsdiskurse. Da es ein Ziel des Forschungsverbunds ist, in den Dialog mit der Gesellschaft einzutreten, ist aber vielleicht auch die Veröffentlichung auf diesem Blog zu rechtfertigen, so jedenfalls die Meinung der Tagungsveranstalter, die um diesen Beitrag gebeten haben.

Ich verzichte dabei darauf, die Tagung insgesamt zu beschreiben oder gar die Vorträge zusammenzufassen, sondern beschränke mich auf Splitter zu einigen der Vorträge. Die Texte oder die Präsentationen sind im Netz verfügbar.

Wenn Markus Vogt bei seiner Explikation von Resilienz aus geophysikalischer Sicht diese in Verbindung setzt mit dem „planetary boundary concept“ und ihr dabei den Status einer funktionalisierten  bzw. operationalisierten Nachhaltigkeit zuerkennt, dann meine Rückfrage: Was ist dabei der Mehrwert im Vergleich zur einfachen Weiterverwendung von „Nachhaltigkeit“ – vorausgesetzt, Nachhaltigkeit wird im ursprünglichen Sinn eines Hans Carl von Carlowitz oder des Brundlandt-Berichts verwendet und nicht als weithin sinnentleerte semantische Black Box heutigen Marketings?

Julian Nida-Rümelin versteht unter Resilienz Widerständigkeit und sieht sie damit im Unterschied zu reiner Anpassungsfähigkeit; zusammengedacht mit Amartya Sens Capability-Ansatz ergibt sich eine normative Füllung von Resilienz als persönliche Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung, eine Art „Autorschaft“ über das eigene Leben. Die Rückfragen an dieses für mich intuitiv überzeugende Konzept: Wo ist Resilienz anzusiedeln auf der Bandbreite zwischen reaktiv und proaktiv? Ist Autorschaft jenseits des Individuellen für Kollektive sinnvoll denkbar? Gibt es einen Konnex zu gesellschaftsverändernden Konzepten, und wenn ja, worin bestünde er?

Beim Versuch, systemisches bzw. institutionelles Handeln (Markt, Politik, Governance) auf ihre Resilienzfähigkeit hin zu untersuchen, stellt sich mir die Frage, was dabei der Mehrwert ist? Worin wäre dabei zum Beispiel der widerständige Charakter zu sehen, den es nach Nida-Rümelin braucht?

Für Martin Schneider ist Resilienz im klassischen Verständnis ein reaktives Konzept, das sich auszeichnet durch Sicherheits- und Schutzmaßnahmen, eine Orientierung am Status Quo und Vulnerabilitätsvermeidung. Dieses Verständnis ist ihm nur bedingt sympathisch, daher sein Bestreben: Resilienz, traditionell konservativ interpretiert, auch fruchtbar machen für transformative Prozesse. Sein Versuch: Mittels einer von ihm so genannten reflexiven Resilienz die Einführung von Ziel-Perspektiven in die Konzeptualisierung.

Meine Einwand: Im klassischen Verständnis reagiert Resilienz auf von außen induzierten Wandel. Gesellschaftliche Transformation aber ist Wandel, der selbst verursacht wird oder werden soll. Um eine dergestalt transformative und dabei notwendigerweise interpersonale Perspektive überhaupt in einen Resilienz-Ansatz integrieren zu können, braucht es das Einziehen einer neuen „reflexiven“ Ebene, ein zwar theoretisch spannendes, aber auch aufwändiges Unterfangen. Und auch hier wieder die Frage: Zu welchem Zweck? Was kann besser damit besser erklärt werden als mit bisherigen Ansätzen sozialen Wandels?

Als ganz knappes persönliches Tagungsresümee: Offenkundig besteht innerhalb des Forschungsverbunds kein einheitlicher Resilienzbegriff, der sich für mich während der Tagung in einer dreifachen Spannung bewegte: zwischen funktional-deskriptiv und normativ, zwischen reaktiv-konservativ und transformativ, zwischen Widerständigkeit und  Anpassungsfähigkeit. Diese Uneinheitlichkeit erschwert den gewünschten Dialog mit der Öffentlichkeit, der zusätzlich dadurch behindert wird, dass aus den spezifischen Wissenschaftssemantiken herauszutreten offenkundig schwierig ist.

Persönlich überzeugt hat mich die Anwendung des Resilienzbegriffs am meisten auf der individuellen Ebene: Resilienz in der Bandbreite zwischen Widerständigkeit und Anpassung, personale Identität voraussetzend, perspektivisch im Sinne von Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des eigenen Lebens durch die Zeit erhaltend (Nida-Rümelins „Autorschaft“), Kultur dabei als wichtig mitbeachtend.

 

 

 

 

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/475

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Resilienz als diskursive Formation: Was das neue Zauberwort für die Wissenschaft bedeuten könnte

Ein Versprechen geht um in den Korridoren zwischen den akademischen Disziplinen: Resilienz. Geschlüpft Anfang der 1970er Jahre bei den Ökologen, wenig später aufgenommen, gehegt und gepflegt bei den Entwicklungspsychologen und dann still und heimlich aufgebrochen zu den Sozialwissenschaftlern (vgl. Endreß/Maurer 2015). Resilienz: ein „buzzword“ (Walker 2013), das Natur- und Gesellschaftsforscher zusammenbringen, den Elfenbeinturm öffnen und der Wissenschaft dabei zugleich helfen soll, das zu bekommen, was man gerade selbst untersucht. Das Lateinwörterbuch bietet für „resilire“ drei sinnvolle Übersetzungen an: abspringen, schrumpfen und zurückprallen. Im Englischen ist daraus „resilience“ geworden (Belastbarkeit, Elastizität, Durchhaltevermögen). Kleinster gemeinsamer Nenner: etwas ohne Schaden überstehen können. Ganz folgerichtig steht Resilienz längst in den Lebenshilfe-Regalen (vgl. Berndt 2013), gleich daneben in der Abteilung mit den großen Welterklärern (vgl. Zolli/Healy 2013) und inzwischen hin und wieder auch in den Leitmedien, obwohl Latein dort eigentlich tabu ist.

„Ein neues Wort“, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende 2013. Unter dieser Überschrift ging es dann aber nicht um irgendeine Sprachschöpfung, sondern um Resilienz als Alternative zum Konzept der Nachhaltigkeit. Achtung, Kursänderung: Nicht mehr den Status quo erhalten wollen, sondern mit dem Scheitern rechnen und mit dem Unerwarteten. „Gefährdungen und Verlustängste“ thematisieren und so „alle Bürger“ aktivieren (und nicht nur „wenige Ordnungshüter“). „Was, wenn es für ‚Nachhaltigkeit‘ schon zu spät ist?“ FAZ-Autor Robert Kaltenbrunner sprach von einem „Zauberwort“ und einer „Art Modebegriff“ und lieferte gleich eine eigene Übersetzung mit. Resilienz bedeute „so viel wie Unverwüstlichkeit, Zuverlässigkeit und Widerstandsfähigkeit“ – alles Dinge, die jeder haben möchte und kaum jemand schlechten finden kann. Kaltenbrunner erzählte dann vom Flughafen München, der Anfang 2010 kollabierte, als ein Reisender mit Laptop träumend durch die Sicherheitskontrolle lief, von Bienenvölkern, die „im Zuge der Evolution“ gelernt hätten, „dank ausgeklügelter Arbeitsteilung“ zu überleben, und von der „Überschwemmungskultur“ im vormodernen Europa, in der große Wassermengen „eher Alltag als Ausnahmezustand“ gewesen seien. Resilienz: Lernt von den Bienen und von Menschen, die sich im Zustand der Bedrohung eingerichtet haben. Baut mehr „Sicherheitsstufen“ ein. Übersteht „antizipierte Schäden“ – indem ihr „schnell wieder den Ursprungszustand“ erreicht („Stehauf-Strategie“) oder weil ihr in der Lage seid, „interne Strukturen zu verändern und einen konstanten Zustand der Anpassungsfähigkeit zu kultivieren“ (Kaltenbrunner 2013).

Bienenvölker, das Leben am Fluss, Mobilität: Resilienz ist erwachsen geworden und könnte eine Universalmedizin werden – eine Reaktion auf die Erfahrung, dass das Prinzip Nachhaltigkeit nach ein paar Jahrzehnten Gebrauch an Strahlkraft verloren hat und dass es eine Illusion ist, den Ist-Zustand bewahren zu wollen und nicht mehr zu verbrauchen als nachwächst oder wieder bereitgestellt werden kann (die ursprüngliche Bedeutung von Nachhaltigkeit, vgl. Grunewald/Kopfmüller 2006). Sich ändern, um zu überleben: Was passt besser in eine Welt, in der alles mit allem zusammenzuhängen zu scheint und niemand wirklich weiß, was der nächste Tag bringt?

Wie Nachhaltigkeit und jeder andere Begriff, mit dem man Gesellschaft beschreiben, untersuchen oder sogar Ziele vorgeben kann, hat allerdings auch Resilienz Implikationen (das ist die erste These dieses Beitrags), die man sich bewusst machen sollte und die weit über den Vorwurf hinausgehen, man dürfe Konzepte aus den Naturwissenschaften nicht einfach auf soziale Phänomene übertragen (Cannon/Müller-Hahn 2010: 623). Diese Implikationen reichen von der Absage an die Idee, menschliches Zusammenleben sei plan- oder steuerbar, über eine Tendenz zur Stabilität und einen Optimierungsfetischismus bis hin zu normativen Entscheidungen: Was genau bedroht eine soziale Einheit (ein Individuum, eine Organisation, eine Gemeinschaft, ein Funktionssystem) und welche Funktionen dieser Einheit sind es wert, in jedem Fall erhalten zu werden? Dass es sich lohnt, solche Implikationen der diskursiven Formation Resilienz zu diskutieren, hat einen einfachen Grund, der zur zweiten These dieses Beitrags führt: Die Befunde der Resilienzforschung sind stets Werbung für die Wissenschaft. Anders ausgedrückt: Wissenschaft hat ein starkes Interesse, Resilienz tatsächlich zu einem gesellschaftlichen Leitbegriff zu machen. Dies hätte, so lässt sich dieser Beitrag zusammenfassen, Folgen nicht nur für die Wissenschaft (für ihren Blick auf Gesellschaft genauso wie für ihre Methoden), sondern auch für die Politik. In der Entwicklungspsychologie zum Beispiel hat der Siegeszug des Resilienzkonzepts sowohl die Prävention als auch die Behandlung von Heranwachsenden erheblich verändert und der „Positiven Psychologie“ den Rang eines Alternativ-Paradigmas beschert (vgl. Masten 2001: 34f.).

Implikationen des Resilienzbegriffs

Egal welches der drei Herkunftsgebiete man sich anschaut: Resilienz beschreibt die Fähigkeit, unter widrigen äußeren Bedingungen oder in Krisenzeiten stabil zu bleiben und die jeweilige Funktionalität zu erhalten. Das gilt in der Werkstoffphysik für Materialien, die man ohne Folgen zusammendrücken oder dehnen kann (etwa Gummi), in der Umweltwissenschaft für Ökosysteme und in der Psychologie für Menschen (vgl. Maier 2014, Folke et al. 2010, Masten 2001). Um dies nur mit sechs wichtigen Definitionen zu belegen (vgl. Brand/Jax 2007):

  • „measure of the persistence of systems and their ability to absorb change and disturbance and still maintain the same relationships between populations or state variables“ (Holling 1973: 14);
  • the „capacity of a system to absorb disturbance and re-organize while undergoing change so as to still retain essentially the same function, structure, identity and feedbacks“ (Walker et al. 2004: 4);
  • „the ability of groups or communities to cope with external stresses and disturbances as a result of social, political, and environmental change” (Adger 2000: 347);
  • „the ability of the system to withstand either market or environmental shocks without losing the capacity to allocate resources efficiently“ (Perrings 2006: 418);
  • „the ability of a social system (society, community, organization) to react and adapt to abrupt challenges (internal or external) and/or to avoid gradually drifting along destructive slippery slopes“ (institutional resilience, Aligica/Tarko 2014: 56);
  • „the capacity of a system, enterprise, or a person to maintain its core purpose and integrity in the face of dramatically changed circumstances“ (Zolli/Healy 2013: 7).

Natürlich: Wie die jüngeren Definitionen zeigen, sind nicht einmal die Ökologen bei der Ausgangsformel von Crawford Holling (1973) stehengeblieben. Hollings Persistenz wurde durch Anpassung und Transformation ergänzt („adaptive cycle“, Keck/Sakdapolrak 2013: 7) – eine Folge der Übertragung des Begriffs auf soziale Systeme und seines Potenzials, die Norm Nachhaltigkeit abzulösen. Für diese Ausweitung stehen die vielen Adjektive, die in Verbindung mit Resilienz inzwischen verwendet werden (etwa: personal, organisational, institutionell, sozial), und eine Debatte, in der eine klare Trennung gefordert wird – ein operationalisierbarer Begriff für die Umweltwissenschaft auf der einen Seite („descriptive concept“) und ein Kommunikationsmittel für den interdisziplinären Dialog sowie für den Austausch zwischen Forschung und Praxis auf der anderen („boundary object“, vgl. Brand/Jax 2007).

Trotzdem: Am Kern des Begriffs ist nicht gerüttelt worden. Wer von Resilienz spricht, hat erstens eine Bedrohung im Sinn. Diese Bedrohung kann von außen kommen, von innen oder aus beiden Richtungen gleichzeitig, sie kann sich langsam entwickeln oder plötzlich (als Schock), man kann vorher von ihr gewusst haben oder überrascht worden sein: Es wird immer eine Bedrohung vorausgesetzt sowie die Notwendigkeit, darauf reagieren zu können. Damit unterscheidet sich Resilienz grundsätzlich von Konzepten sozialen Wandels, die den Zielzustand entweder kennen (Revolution) oder sogar irgendwo auf der Welt schon gefunden haben (in den 1960er Jahren zum Beispiel Modernisierung für Afrika und Asien sowie in den 1990ern Transformation für Osteuropa) und damit wie Nachhaltigkeit einen komplexen Bewertungsmaßstab mitliefern (so sollte die Welt aussehen oder so sieht sie schon aus). Zugespitzt formuliert: Wird Resilienz zum Leitgedanken gesellschaftlicher Entwicklung, dann ist (anders als bei Revolution, Transformation oder Modernisierung) jede Ankunft ausgeschlossen. Zum einen weiß man nicht, wann und wie sich die Umstände ändern (nur dass sie sich ändern, scheint unausweichlich), und zum anderen können Personen oder soziale Systeme gegenüber manchen Bedrohungen resilient sein und gegenüber anderen nicht. Möglicherweise führt sogar die Stärkung des einen Bereichs zur Schwächung eines anderen (vgl. Walker 2013).

Für die Forschung bedeutet das zweitens: Man muss zunächst die Funktion(en) bestimmen, die (zum Beispiel) ein soziales Funktionssystem für die Gesellschaft hat oder ein Unternehmen für seine Mitarbeiter, für eine Region, für den Wirtschaftszweig, für die Volkswirtschaft oder für andere Systeme, dann nach Schwachstellen von System oder Unternehmen suchen und dort schließlich nachbessern: „identifying its potential sources of vulnerability, determining the directonality of ist feedback loops, mapping ist critical thresholds, and understanding, as best as we can, the consequences of breaching them“ (Zolli/Healy 2013: 260).

Wer nach Verwundbarkeit fragt, nach Schwellenwerten und nach den Folgen des Überschreitens, der verliert den Alltag und die ‚Normalität‘ aus dem Blick. Um das am Beispiel des Systems Massenmedien zu illustrieren: Resilienzforschung würde hier und heute sicher Alternativen zur Werbefinanzierung vorschlagen (etwa: Crowdfunding, Stiftungsmodelle, Bürgerreporter, Social Media) sowie Einrichtungen, die Vielfalt, Offenheit und Partizipation sichern, aber nicht mehr die aktuelle Berichterstattung untersuchen und vermutlich auch nicht die Beziehungen zwischen Medien, Politik und Wirtschaft. Wichtig wäre nur noch, dass das System weiter existiert und zur Meinungs- und Willensbildung beitragen kann (wenn das denn die Funktion ist), und nicht, wie genau dieser Beitrag eigentlich aussieht. Resilienzforschung beginnt mit der Annahme, dass die jeweilige soziale Einheit ihre Funktion(en) im Moment erfüllt, und möchte, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Nimmt man die Punkte eins und zwei zusammen (die Bedrohung von außen und die Suche nach Schwachstellen, die auch in eine Betonung der Stärken umschlagen kann), dann konzentriert sich Resilienzforschung (wie gerade schon angedeutet) drittens auf Systemerhalt und Überleben. Brian Walker (2013), einer der Pioniere im Feld und Chef der einflussreichen Resilience Alliance in Stockholm, behauptet zwar, das Konzept sei für sich genommen weder „gut“ noch „schlecht“, aber das ist erkennbar Taktik, weil natürlich auch Diktaturen oder Salzlandschaften resilient sein können (das sind die beiden Beispiele, die Walker nennt). Sein Vorschlag, die Resilienz solcher Systeme zu verringern, geht am Problem vorbei. Die Literatur zeigt, dass Resilienzforschung sehr wohl von Krankheitserregern, Kriminellen oder Terroristen lernt (zum Beispiel von Netzwerken, denen ein einziger großer Anschlag genügt hat, um den Feind jahrelang in Atem zu halten, und die sich manchmal sogar darauf beschränken können, eine Aktion anzukündigen, vgl. Zolli/Healy 2013). Und: Wer wollte entscheiden, welche sozialen Einheiten wertvoll sind und welche nicht? Das Resilienzkonzept weiß damit doch, was gut ist und was schlecht, und konzentriert sich auf das, was beim Überleben hilft. Selbst Katastrophen sieht man durch diese Brille nicht mehr schwarz, sondern als Gelegenheit zum Lernen (vgl. Keck/ Sakdapolrak 2013: 9).

Eine Bedrohung ausmachen oder antizipieren, Schwächen schwächer und Stärken stärker machen und so die Existenz sichern: Alle oben genannten Definitionen zielen auf Verbesserung und damit (das ist eine vierte Implikation des Begriffs) auf Messbarkeit, egal ob es um allgemeine Resilienz geht (die Fähigkeit eines Systems, sehr verschiedene Bedrohungen auszuhalten und trotzdem in allen Aspekten weiter zu funktionieren, Walker 2013) oder sehr konkrete Bedrohungen. Bei Holling (1973: 14) wird diese Implikation nicht verschleiert („measure“), aber auch „ability“ oder „capacity“ rufen nach Quantifizierung. Die Frage nach der Resilienz einer sozialen Einheit erlaubt keine philosophische Antwort und offenkundig nicht einmal eine, die sich auf Material stützt, das mit qualitativen sozialwissenschaftlichen Methoden erhoben wurde. „There are no absolutes in resilience, no binaries, just measures of more or less” (Zolli/Healy 2013: 260). Dieser Fokus auf Zählen und Rechnen lässt sich leicht über die Herkunftsdisziplinen erklären. Quantifizierung wird sowohl bei Ingenieuren groß geschrieben, die sich mit Materialeigenschaften beschäftigen, als auch bei Ökologen und Psychologen. Kein Text zur Resilienz, der nicht Crawford Holling nennt oder Brian Walker. Zieht das Konzept in die Sozial- und Geisteswissenschaften ein, stärkt dies neben den drei Ursprungsdisziplinen zugleich die Position der Naturwissenschaften und ihres Wissenschaftsideals.

Bevor es soweit kommt, hat qualitative Forschung Konjunktur. Wer sonst soll die Grenzen von sozialen Einheiten bestimmen, ihre Funktionen ausmachen (sowohl empirisch als auch normativ) und (vorhandene oder potentielle) Bedrohungen ermitteln? Um zum Beispiel Mediensystem zurückzukommen: Die Debatte über ‚Entgrenzung‘ läuft hier längst (vgl. Neuberger 2009, Karidi 2014). Heißt das soziale Funktionssystem Journalismus, Publizistik oder Öffentlichkeit? Was ist mit Public Relations und was mit den sozialen Medien? Und bedrohlich sind keineswegs nur das Ende des herkömmlichen Werbemarkts, das vollkommen veränderte Nutzungsverhalten oder die Gegenöffentlichkeiten im Internet und auf der Straße (Stichwort Medienkrise). Der Erfolg der Handlungslogik, nach der die Massenmedien arbeiten („Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit“, Meyen 2015), frisst das System – von außen, weil der Ausbau und die Professionalisierung von PR und Medientraining in nahezu allen sozialen Funktionssystemen auch mit Medienpersonal vorangetrieben werden, und von innen, weil Medialisierung so die Recherchemöglichkeiten verändert, die Ressourcen, den Arbeitsalltag sowie das Selbstverständnis von Journalisten und damit letztlich die Möglichkeiten zur Meinungs- und Willensbildung (vgl. Meyen 2014). Resilienzforschung identifiziert hier zunächst System(e), Funktion(en) und Bedrohung(en) und bereitet so nicht nur den Boden für Anpassung und Transformation (aus dem System selbst oder politisch angestoßen), sondern möglicherweise auch für ‚Messungen‘ der Resilienz.

Resilienz als Werbung für die Wissenschaft

Natürlich könnte man sagen: Für die Wissenschaft insgesamt wäre mehr Naturwissenschaft doch gar nicht schlecht. Fakten, Fakten, Fakten. Das, was eine datenhungrige Tempo-Gesellschaft verlangt. Eindeutige Antworten auf die Angst vor Bedrohungen aller Art. Selbst als Fernziel hilft das Resilienzkonzept der Wissenschaft. Das beginnt mit dem Begriff selbst. Während sich jede Hausfrau etwas unter Nachhaltigkeit vorstellen konnte, braucht sie für Resilienz in der Regel einen Übersetzer. Wissenschaft kann nicht nur Begriffe erklären, sondern auch Bedrohungen benennen. Worauf genau Politiker, Führungskräfte oder wir selbst uns vorbereiten werden und was wir glauben, dabei verändern zu müssen, hängt davon ab, was im Diskurs als Bedrohung und Systemfunktion ausgemacht wird. Das wertet wissenschaftliches Wissen gegenüber anderen Wissensformen auf (etwa: Religion, Tradition). Wissen ist Macht, vor allem wenn es Resilienz verspricht.

Das wichtigste Argument für den Ausbau wissenschaftlicher Forschung (an Universitäten und darüber hinaus) ist das, was bisher herausgekommen ist auf der Suche nach der Resilienz, auch wenn sich die Befunde auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen. So heißt es bei Andrew Zolli und Ann Marie Healy (2013) nach einem Gewaltritt durch die Literatur:  Was in einer Organisation funktioniere, könne in einer anderen schief gehen (S. 259), und wo ein System als dezentrales Netzwerk mit Einheiten, die sich selbst koordinieren, gute Erfahrungen mache, könne ein anderes genau das Gegenteil erleben – positive Clustereffekte (S. 93). Einen Imperativ gibt es im Schlusswort dann aber doch (S. 261): „Surprisingly few communities or organizations have any kind of structure in place to think broadly and proactively about the fragilities and potential disruptions that confront them. This has to change.”

Breit und kritisch denken, Wissen gegen den Strich bürsten, dabei in Bereiche vordringen, die keinen schnellen Gewinn bringen, und Dinge vorwegnehmen, die heute noch niemand sieht: Wer wäre dafür prädestiniert, wenn nicht die Wissenschaft? Armin Reller und Heike Holdinghausen (2014), die an eine Zukunft „nach dem Öl“ glauben und dafür Stoffgeschichten aufgeschrieben haben (etwa: Raps und Lein, Weizen und Holz, Eisen, Gallium und Abfall), legitimieren ihr Buch damit, dass man leichter an „resilienten Technologien und Verhaltensweisen“ arbeiten könne, wenn man die „Geschenke des Planeten“ kenne (S. 8, 17). Wissen für die Zukunft. Und wenn Bernd Sommer und Harald Welzer (2014) „Transformationsdesign“ sagen, meinen sie eigentlich: Jemand muss sagen, wo es hingehen soll, wenn der Überfluss zu Ende ist und auch der Letzte begriffen hat, dass wir in „struktureller Nicht-Nachhaltigkeit“ leben („Klima, Krisen und Katastrophen“, S. 27-37). Transformation besser „by design“ als „by disaster“ (S. 11). Wissenschaft als „Mittel zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Widerstandsfähigkeit“ und als „Resilienzgenerator“ (S. 116). Resilienz: Das heißt auch, die Dinge in die Hand zu nehmen und nicht auf den Zusammenbruch zu warten. Wissenschaft ist ein Resilienzgewinner und wird dieses Konzept schon deshalb vorantreiben.

Literaturangaben

  • Neil Adger: Social and ecological resilience: Are they related? In: Progress in Human Geography Vol. 24 (2000), S. 347-364.
  • Paul Dragos Aligica, Vlad Tarko: Institutional resilience and economic systems: Lessons from Elinor Ostrom’s work. In: Comparative Economic Studies Vol. 56 (2014), S. 52-76.
  • Christina Berndt: Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2013.
  • Fridolin Simon Brand, Kurt Jax: Focusing the meanings of resilience: Resilience as a descriptive concept and a boundary object. In: Ecology and Society (online) Vol. 12(1) (2007): 23.
  • Terry Cannon, Detlef Müller-Hahn: Vulnerability, resilience and development discourses in context of climate change. In: Natural Hazards Vol. 55 (2010), S. 621-635.
  • Martin Endreß, Andrea Maurer: Resilienz im Sozialen. Wiesbaden: VS-Verlag 2015.
  • Carl Folke et al.: Resilience thinking: Integrating resilience, adaptability and transformability. Ecology and Society (online) Vol. 15(4) (2010): 20.
  • Armin Grunewald, Jürgen Kopfmüller: Nachhaltigkeit. Frankfurt am Main: Campus 2006.
  • Crawford Holling: Resilience and stability of ecological systems. In: Annual Review of Ecology and Systematics Vol. 4 (1973), S. 1-23.
  • Robert Kaltenbrunner: Ein neues Wort: „Resilienz“. Was, wenn es für „Nachhaltigkeit“ schon zu spät ist? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 258 vom 6. November 2013, S. N3.
  • Maria Karidi: Dinosaurier, Journalismus und Resilienz. In: Resilienz (online) 2014. http://resilienz.hypotheses.org/239 (12. Januar 2015).
  • Markus Keck, Patrick Sakdapolrak: What is social resilience? Lessons learned and ways forward. In: Erdkunde Vol. 67(1) (2013), S. 5-19.
  • Simone Maier: Der Resilienzbegriff in der Wirtschaftskommunikation. Masterarbeit. Universität München: Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung 2014.
  • Ann S. Masten: Ordinary Magic. Resilience Processes in Development. In: American Psychologist Vol. 56(3) (2001), S. 227-238.
  • Michael Meyen: Medialisierung des deutschen Spitzenfußballs. Eine Fallstudie zur Anpassung von sozialen Funktionssystemen an die Handlungslogik der Massenmedien. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 62. Jg. (2014), S. 377-394.
  • Michael Meyen: Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit. Eine qualitative Inhaltsanalyse zur Handlungslogik der Massenmedien. In: Publizistik 60. Jg. (2015), Nr. 1 (im Druck).
  • Christoph Neuberger: Internet, Journalismus und Öffentlichkeit. Analyse des Medienumbruchs. In: Christoph Neuberger, Christian Nuernbergk, Melanie Rischke, Melanie (Hrsg.): Journalismus im Internet: Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 19-105.
  • Charles Perrings: Resilience and sustainable development. In: Environment and Development Economics Vol. 11 (2006), S. 417-427.
  • Armin Reller, Heike Holdinghausen: Der geschenkte Planet. Nach dem Öl beginnt die Zukunft. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2014.
  • Bernd Sommer, Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom verlag 2014.
  • Brian Walker: What is Resilience? Project Syndicate, 5. Juli 2013. (7. Januar 2015).
  • Brian Walker, Crawford Holling, Stephen Carpenter, and Ann Kinzig: Resilience, adaptability and transformability in social-ecological systems. In: Ecology and Society (online) Vol. 9(2) (2004): 5
  • Andrew Zolli, Ann Marie Healy: Resilience: Why Things Bounce Back. New York: Simon & Schuster Paperbacks 2013.

Empfohlene Zitierweise

Michael Meyen: Resilienz als diskursive Formation. Was das neue Zauberwort für die Wissenschaft bedeuten könnte. In: Resilienz (online) 2015. http://resilienz.hypotheses.org/365 (Datum des Zugriffs)

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/365

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Paradies per Knopfdruck

Jeremy Rifkin: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt am Main: Campus 2014.

Resilienz war gestern und jede Sorge um die Zukunft verfehlt. Okay, zwei Probleme gibt es noch: Klimawandel und Cyberterrorismus. „Die beiden großen Unbekannten der Apokalypse“ (S. 416). Aber sonst? Sonst ist es rosarot, das Zeitalter, das gerade heraufdämmert. Weg mit den Unterschieden zwischen Arm und Reich, fort mit Oligarchen und Tyrannen, gesund und sauber die Flüsse, die Luft, die Wälder. Und das Schönste daran: Wir müssen nichts dafür tun. Glaubt man Jeremy Rifkin, dann ist die „Nahezu-null-Grenzkosten-Zukunft“ in die Betriebslogik des „kapitalistischen Systems“ eingebaut und damit unvermeidlich (S. 21). Argument eins: Der Kapitalismus ökonomisiert „jeden Aspekt menschlichen Daseins“ (S. 11). Okay. Und Argument zwei: Geld verdient, wer die Produktivität steigert und die Grenzkosten minimiert – den Aufwand für eine neue Produktkopie.

9783593399171Damit ist Rifkin beim Internet und in einer Zukunft, die von einer „neuen Energieordnung“ und „neuen Kommunikationsmitteln“ bestimmt wird (S. 42) und so ganz zwangsläufig auch unser Denken verändert: Strom mehr oder weniger gratis (Sonne, Wind, Kompost, Erdwärme). Konsumgüter, Kleidung und vermutlich auch alles andere, was der Mensch so braucht, aus dem 3-D-Drucker. Und Technik, die mit sich selbst kommuniziert. Das führerlose Auto also, das den „Millenniums-Kindern“ erlauben wird, auf Lenken und Gas geben zu verzichten und stattdessen dort zu sein, wo es sie am stärksten hinzieht – nämlich bei den „interessanteren Aktivitäten im virtuellen Raum“ (S. 337). Viel gefahren werden muss ohnehin nicht mehr. Das Pendeln zum Arbeitsplatz entfällt (da daheim ‚produziert‘ wird), und wer krank ist, geht nicht mehr zum Arzt, sondern vertraut sich der kollektiven Weisheit des Netzes an. Dieser „nächste Sprung in der Menschheitsgeschichte“ beschert uns etwas, was Rifkin „Biosphärenbewusstsein“ und „kollaboratives Zeitalter“ nennt. Jeder ist mit jedem verbunden, klatscht mit Millionen anderen auf Twitter, teilt Autos, Wohnungen und Kleidung und sieht so die ganze Menschheit als „evolutionäre Großfamilie“ (S. 440).

Jeremy Rifkins Null-Grenzkosten-Gesellschaft steht in der Tradition von Medium-Theoretikern wie Harold Innis oder Marshall McLuhan, die Geschichte als Geschichte der Kommunikationsmittel geschrieben haben. Zeig mir die Medien, die du nutzt, und ich sage dir, wie du lebst, arbeitest und denkst. McLuhans Understanding Media, vor genau einem halben Jahrhundert erschienen, hat das Fernsehzeitalter ähnlich rosarot gemalt wie Rifkin das, was 2050 sein wird. Natürlich gibt es längst Mediumtheorien für das Internet – die Netzwerkgesellschaft von Manuel Castells zum Beispiel, der anders als Innis oder McLuhan nicht eine technische Erfindung an den Anfang setzt, sondern die Eigenschaften des Kanals über die Bedürfnisse der Menschen erklärt, die ihn nutzen (zunächst Wissenschaftler und Hacker, Unternehmer und Spieler). Rifkin geht einen Schritt weiter, weil er den Kapitalismus einbaut und die Allmende über viele, viele Seiten als Alternative preist (das, was allen gehört und gemeinsam bewirtschaftet wird). Seine Prognose (die Allmende siegt) stützt sich dann aber auf die „Betriebslogik“ des Internet („dezentralisiert, kollaborativ und lateral skaliert“, S. 260) und folgt so dem Muster der Mediumtheoretiker.

Das heißt nicht, dass die Null-Grenzkosten-Gesellschaft keine spannende Lektüre wäre. Rifkin hat unglaublich viel Material gesammelt, um seine Vision schon in der Gegenwart zu finden. Wer wissen will, wie weit das Internet der Dinge ist und all das andere, was uns von Technikern versprochen wird, der findet hier den neuesten Stand. Rifkin dekonstruiert außerdem die Narrative, die offenbar jedes ökonomische Paradigma braucht, um sich zu legitimieren. So ganz von allein aber wird die Zukunft nicht rosarot, und das nicht nur wegen Klimawandel und Cyberterrorismus.

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/342

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Visionen aus der Studierstube

Bernd Sommer, Harald Welzer: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. München: oekom verlag 2014.

Transformationsdesign verstehe sich auch als „Resilienzforschung und Resilienzgenerator“, schreiben Bernd Sommer und Harald Welzer auf Seite 116 – „als Mittel zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Widerstandsfähigkeit“. Die Diagnose, auf die sich dieses Buch stützt, ist nicht neu: „Die zukunftsvergessene und innovationsversessene Kultur des unbegrenzten Wachsens und Konsumierens ist ein Endzeitphänomen“ (S. 10). Mit etwas weniger Fremdwörtern: Es geht zu Ende mit dem Überfluss, in dem wir leben. Kaufen, kaufen, kaufen und jeden Euro, der übrig bleibt, jede gewonnene Kilowattstunde, jedes gesparte Stück Material in eine neue Reise, ein neues Gerät investieren: Damit ist es vorbei. Sommer und Welzer sprechen von „struktureller Nicht-Nachhaltigkeit“ und widmen „Klima, Krisen und Katastrophen“ folgerichtig ein ganzes Kapitel (S. 27-37), gefolgt von einem Abschnitt über die „imperiale Lebensweise“ (S. 37-43). So weit, so bekannt.

Sommer-Welzer-2014-TransformationsdesignWas dann folgt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Aufruf zur Revolution von oben. Da der Crash unausweichlich sei, bleibe nur eine Frage offen: Transformation „by design or by desaster“ (S. 11)? Antwort eins gibt der Buchtitel. Antwort zwei: Wir (also die aufgeklärten Eliten) müssen uns darauf einigen, wie die Zukunft aussehen soll. Sommer und Welzer schlagen eine Art Quadratur des Kreises vor (S. 47): den „Zivilisierungsstandard“ bewahren, den uns die „kapitalistische Wachstumswirtschaft“ beschert hat (ein Standard, zu dem offenbar auch eine komplexe Sprache gehört), und trotzdem wegkommen vom Immer-weiter-Wachsen. Voraussetzung: die Bereitschaft, „sich selbst zu deprivilegieren“ (S. 49). Puh. Bei Armin Reller, der sich für seine Stoffgeschichten mit der Journalistin Heike Holdinghausen verbündet hat, wird ausgesprochen, was das bedeutet: keine Bockwurst mehr für 1,50 Euro, nur alle paar Jahre ein neues Handy und öfter beim Schuster um die Ecke als im Designerladen, der den neuesten Schrei aus Italien oder Asien anbietet. Der geschenkte Planet oder Wir konsumieren uns zu Tode informieren besser über „Transformationsdesigns“ als das Buch, das diesen Namen trägt.

Immerhin: Sommer und Welzer bieten einen schönen Abriss über Umwälzungen in der Vergangenheit (neolithische und industrielle Revolution, Abolitionismus, Frauen- und Gleichstellungsbewegungen). Und (noch besser): Sie nehmen die Visionen auseinander, die den Diskurs im Moment beherrschen. Technik, alles verrechnen (auch die Umweltschäden), grünes Wachstum: Nichts davon wird funktionieren. Nicht mal Müll trennen, Radfahren und vegan essen. Alles umsonst, was in „ein verändertes Bewusstsein“ investiert wurde, sagen Bernd Sommer und Harald Welzer, solange eine „gesellschaftliche Gesamtpraxis“ regiere, „in der nichts nachhaltig ist“ (S. 38).

Wer ohnehin Probleme mit Veggie-Day und grünen Besserwissern hat, mag sich über solche Sätze freuen. Zu Ende gedacht ist das aber nicht, schon gar nicht in dem Theoriekontext, in dem sich dieses Buch bewegt. Sommer und Welzer beschreiben sozialen Wandel mit der Soziologie von Norbert Elias. Das passt einerseits, weil es bei Elias um Macht geht, um Pfadabhängigkeit und um Positionsverluste. Wenn eine Gruppe aufsteigt, verliert unweigerlich eine andere. Andererseits lassen sich „die Strukturen der menschlichen Psyche“ in dieser Theorie nicht ohne „die Strukturen der menschlichen Gesellschaft“ verstehen – und umgekehrt: Die „Praktiken und Normen einer jeweiligen Gesellschaftsformation“ prägen „auch die Innenwelten ihrer Mitglieder“ (S. 105). Übersetzt: Es lohnt sich doch, in das Bewusstsein zu investieren. Die vielen Beispiele im zweiten Teil des Buchs (von Linux über Wikipedia bis zum Spindelrasenmäher, von dem Sommer und Welzer gar nicht genug bekommen können) zeigen, dass die Transformation längst läuft, ganz ohne Design aus den Studierstuben.

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/334

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Ist die Demokratie resilient?

Abendstau in Kampala, 6. Oktober 2014

Abendstau in Kampala, 6. Oktober 2014

Neu Delhi und Kampala sind überall. Vielleicht nicht in München, okay. Aber selbst am beschaulichsten Ort der Welt lassen sich Unsicherheit und Krise kaum noch verdrängen. Klimawandel, Finanzkollaps, Islamischer Staat: Die Politik hetzt von einer Herausforderung zur nächsten, getrieben von der Aufmerksamkeitslogik der Medien, omnipräsent und scheinbar ohnmächtig zugleich. Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Diskutieren? So knapp wie die Luft in Kampala und der Lebensraum in Neu Delhi.

„Schneller als die Demokratie erlaubt?“ fragt der Bayerische Forschungsverbund Fit for Change am 20. November im Münchner Kompetenzzentrum Ethik (18 Uhr, Geschwister-Scholl-Platz 1). Zugespitzt formuliert: Verlangen „Zeiten radikalen Wandels“ andere Formen der Macht und der Entscheidungsfindung? Dauert es nicht viel zu lange, alle zu hören und am Ende doch nur einen Kompromiss zu haben, der keinem wirklich hilft? Und: Braucht es nicht eine starke Frau (oder einen starken Mann), um Dinge durchzusetzen, die jedem Einzelnen wehtun, aber am Ende allen helfen? Auf dem Podium sitzen Julian Nida-Rümelin und Markus Vogt (beide Mitglieder des Forschungsverbunds) sowie Armin Nassehi. Moderation: Franz Mauelshagen.

Um die Herrenrunde zu unterstützen und vorzubereiten, soll schon vorher diskutiert werden – am besten hier in diesem Blog, mit allen, die dazu Lust haben. Basis sind Texte von Hans Jonas und Amartya Sen (Tyrannis vs. Demokratie), Wolfgang Haber und Ute Eser (Nachhaltigkeit und gutes Leben) sowie von Thomas Assheuer, Armin Nassehi und Hartmut Rosa, die sich vor zwei Jahren in der Wochenzeitung Die Zeit über Gesellschaftsdiagnosen gestritten haben. Gemeinsamer Nenner aller drei Debatten: Die Antwort hängt vom Menschenbild ab.

Hans Jonas hat 1979 über den „Vorteil totaler Regierungsgewalt“ nachgedacht, über die „wohlwollende, wohlinformierte und von der richtigen Einsicht beseelte Tyrannis“. Schön. 1979 konnte man das noch – in einem Atemzug nicht nur die „Schattenseite zentralistischer Macht“ erwähnen, sondern auch die Nachteile des „kapitalistisch-liberal-demokratischen Komplexes“. Das „Eigeninteresse der Betroffenen“, meint Jonas, erschwere im „demokratischen Prozess“ das, was eigentlich nötig sei. Seine Lösung: Eliten an die Macht. Bei Amartya Sen sieht die „Zukunftsverantwortung“ (Jonas) 14 Jahre und einen weltgeschichtlichen Wimpernschlag später ganz anders aus. Demokratie, öffentliche Wohlfahrt, Beschäftigungsprogramme. Und Sen hat Fakten: Wenn Geld in Gesundheit und Bildung fließe, gehe es den Menschen besser, und keine Demokratie habe je eine Hungersnot gesehen. Wer herrsche, habe immer genug zu essen. Um die Ärmsten der Armen werde sich nur da gekümmert, wo es eine Opposition gibt, eine halbwegs freie Presse und die Möglichkeit, abgewählt zu werden.

Fußgänger in Kampala, 5. Oktober 2014

Fußgänger in Kampala, 5. Oktober 2014

Noch einmal zwei Jahrzehnte später malt Wolfgang Haber (Jahrgang 1925) eher schwarz. Der Mensch wird von ihm auf einen „Urantrieb“ reduziert: „Wie komme ich auf bequeme Weise zu mehr?“ Und: „Was Menschen einmal erfunden und sogar technisch umgesetzt haben, bleibt in der Welt und lässt sich nicht unterdrücken.“ Siehe Kampala. Lieber im Stau stehen und die Luft verpesten als zu Fuß nach Hause gehen. Mit Blick auf das „Wachstum der menschlichen Biomasse“ hält Haber die Idee der Nachhaltigkeit für gescheitert. Wie könnten „künftige Generationen die gleichen Chancen wie die jetzt lebenden haben“, wenn die ohnehin schon zu knappe Fläche weiter schrumpfe? Zu kurz gesprungen, ruft Habers Schülerin Ute Eser, die deutlich jünger ist und vielleicht auch deshalb an „die Vernunftbegabung von Menschen“ glaubt sowie an „ihre Fähigkeit zur Selbstbeschränkung“.

Geht es bei Eser vs. Haber um Ethik und um Normativität, drehen Armin Nassehi und Hartmut Rosa in der Zeit-Debatte das große Soziologen-Rad. Der Anstoß kam von einem Journalisten. Thomas Assheuer hatte tief im „Mausoleum der Geistesgeschichte“ gewühlt und dort die Post-Theorien der 1980er Jahre ausgegraben: Postdemokratie, Postmoderne und Postsozial, Spätkapitalismus, Spätmoderne und Nachgeschichte. Sein Fazit: Der Markt sei „die letzte verbliebene Großmacht der Moderne; er gibt die Kommandos aus und hält mit ‚unsichtbarer Hand‘ die Gesellschaft fest im Griff“. Nassehi vs. Rosa ist dann auf den ersten Blick eine Schlacht aus dem Elfenbeinturm. Das „Jammern der Ewiggestrigen“ (Nassehi über kritische Theoretiker wie Rosa) gegen die „doppelte Armut“ der Systemtheoretiker (Rosa über die „Epigonen Niklas Luhmanns“). So weit, so langweilig.

Spannend ist das, wo sich beide einig sind: Es gibt keine einfachen Lösungen. „Politische Plausibilität muss sich vor einem Publikum bewähren, das womöglich wollen müsste, was es nicht will“, schreibt Nassehi, der auch sonst nicht an die Steuerbarkeit der Gesellschaft glaubt („Widerständigkeit der Gesellschaft für intervenierende Zugriffe“). Der Systemtheoretiker weiß, dass die Politiker um „das wählbarste Versprechen“ wetteifern und damit einer ganz anderen Logik folgen als (zum Beispiel) die Wirtschaft. Bei Rosa wächst der Pessimismus aus der „Steigerungslogik“, der die Moderne seiner Meinung nach folgt. Das Wachstum müsse weitergehen, auch wenn der Mensch heute von der Angst um den Status quo getrieben werde und nicht mehr von der Hoffnung, dass es seinen Kindern besser gehen möge. Wachstum, das den Planeten zerstört und doch keines der großen Probleme lösen zu können scheint. Trotzdem: Rosa glaubt an „die Gestaltbarkeit der Welt“ und an den Menschen, der dies leisten kann. Die Debatte ist eröffnet.

Literatur
Thomas Assheuer: Die Moderne ist vorbei. Die Zeit vom 26. Juli 2012, S. 52.
Ute Eser: Und sie zählen doch! Warum ethische Argumente für den Naturschutz entbehrlich sind. Eine Replik auf Wolfgang Haber. Natur und Landschaft 7/2014.
Wolfgang Haber: Die unbequemen Wahrheiten der Ökologie. Grünwald 2010, S. 48-65.
Hans Jonas: Prinzip Verantwortung. Frankfurt/Main 1979, S. 262f.
Armin Nassehi: Das „Goldene Zeitalter“ ist vorbei. Die Zeit vom 2. August 2012, S. 50.
Hartmut Rosa: Das neue Lebensgefühl. Die Zeit vom 16. August 2012, S. 52.
Amartya Sen: The Economics of Life and Death. Scientific American, May 1993, S. 40-47.

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/265

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Stoffgeschichten für jedermann

Armin Reller, Heike Holdinghausen: Der geschenkte Planet. Nach dem Öl beginnt die Zukunft. Frankfurt/Main: Westend Verlag 2014.

Reller-Holdinghausen_Der_geschenkte_PlaneEs gibt sie also: die Zukunft. Trotz Klimawandel und Ressourcenmangel. Und obwohl die Menschheit nicht nur wächst, sondern immer mehr Menschen so leben wollen wie wir im Westen. Fleisch essen, auf der Autobahn rasen, Elektroschrott nach Afrika exportieren. Armin Reller, Professor für Ressourcenstrategie in Augsburg, und taz-Journalistin Heike Holdinghausen glauben trotzdem an uns. An unsere Lernfähigkeit, an die Macht des Wissens. Reller und Holdinghausen wollen den Glauben an den Fortschritt nicht aufgeben: „Wo kämen wir ohne ihn hin?“ (S. 16). Ihre Idee: An „resilienten Technologien oder Verhaltensweisen“ arbeitet es sich leichter, wenn man die „Geschenke des Planeten“ besser kennt (S. 8, 17). Reller und Holdinghausen erzählen deshalb die Geschichten von Stoffen. Welche Rolle hat das Öl in der Geschichte der Menschheit gespielt? Wie steht es um Raps und Lein, Weizen und Holz? Was ist mit Kohlendioxid, Algen und Bakterien, was mit Eisen, Gallium und Abfall?

Dieser Ansatz macht Spaß, nicht nur wegen der vielen Fakten, die man so nicht in der Zeitung findet, oder wegen der Aktualität (Stichwort Fracking). Experte und Fachjournalistin: So funktioniert Aufklärung. Reller und Holdinghausen geben nicht vor, jede Stoffgeschichte bis ins Detail zu kennen oder gar auf jede Frage eine Antwort zu haben. Im Gegenteil: Konkurrierende Positionen werden benannt und vorsichtig gegeneinander abgewogen. Der Verzicht auf Eifern schließt dabei konkrete Politikempfehlungen keineswegs aus (zum Beispiel zu alternativen Energien, zu Biodiesel, zu Ökodesign).

Auch der Kommunikationswissenschaftler wird fündig. Was bedeutet es, dass viele Rohstoffe aus Ländern kommen, in denen es keine Pressefreiheit gibt? Wie schafft man es, den Fleischkonsum (für Reller und Holdinghausen ein zentrales Problem) genauso „kampagnenfähig“ zu machen wie den Rapskraftstoff (S. 58)? Warum ist der „Rückzug der Tanne aus Bayern“ in den Medien untergegangen und das „Waldsterben“ nicht (S. 122)? Wie müssen Öffentlichkeit und Mediensystem organisiert sein, damit das Zukunftsbild akzeptiert und legitimiert wird, das Reller und Holdinghausen entwerfen? Nur eine Kostprobe: „Pommesbuden ohne Currywurst, nur alle zehn Jahre ein neues Mobiltelefon und in jedem Stadtteil fünf Schuster (…). Dabei auf lokale Wirtschaftskreisläufe in überschaubaren Gemeinschaften setzten, auf kleine Produktionseinheiten, auf geldlose Tauschwirtschaften – also resiliente Strukturen“ (S. 237). Ein gutes Buch, ein wichtiges Buch.

 

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/220

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Beziehungsspiele: Universität, Wissenschaft und Journalismus

Werkstattgespräch des Bayerischen Forschungsverbundes ForChange,
10. April 2014, Universität München, Kleine Aula, Moderation: Katharina Fuhrin

Nach etwa einer Stunde hat Harald Lesch einen Vorschlag: eine Wissenschaft, die anders funktioniert als die Gesellschaft, die sie finanziert. Ein wissenschaftliches System, das sich dem politischen Druck entzieht. Eine LMU, die einfach nicht an Exzellenzinitiativen teilnimmt, sondern mit Augsburg, Passau, Regensburg Projekte macht. Mit all den kleinen Universitäten rundherum. Wir sind schon Rolls-Royce. Wir haben es gar nicht nötig, uns an solchen Wettbewerben zu beteiligen. Solidarität statt Konzentration und spätkapitalistische Ökonomisierung.

beziehungsspiele

Harald Lesch hat ein Faible für starke Bilder, für Gedankenspiele, für Pointen. Er habe nie für möglich gehalten, dass es an der Universität eines Tages nur noch um „Schotter“ gehen werde. „Ich mache Physik für 30 Millionen. Was machen Sie?“ Wissenschaft sei zur Akquise verkommen. Was man auch tue: Hauptsache eine große Summe. Er, Harald Lesch, Professor in München seit 20 Jahren und Aushängeschild der Wissenschaftssendungen im ZDF, wundere sich, dass sein Präsident nicht längst abends im Büro erscheint und sagt: „Herr Lesch, ich bin enttäuscht von Ihnen!“

Um Universität und Journalismus geht es an diesem Abend in der Kleinen LMU-Aula und damit auch um Resilienz: Was wird aus einer Wissenschaft, die sich an die Selektionslogik der Massenmedien anpasst? Die Präsenz in der Öffentlichkeit mit Leistung verwechselt? Matthias Kohring, Professor für Kommunikationswissenschaft in Mannheim, spricht in seiner Keynote von einer „fatalen“ Entwicklung. New Public Management heiße der Trend, der Universitäten zu Unternehmen werden lasse und öffentliche Legitimation erfordere. Früher habe man sich nur gegenüber dem Wissenschaftsministerium verantworten müssen. Jetzt, ohne diesen „Puffer“, würden die „Stakeholder“ fragen: Gesellschaft, Industrie und Geldgeber, Studierende und Eltern. Antwort eins: Indikatoren erfinden, die von Leistung zeugen. Impact, Drittmittel, Rankings. Antwort zwei: Sichtbarkeit erzeugen. Tag der offenen Tür, Nacht der Wissenschaft, Professoren in der Presse.

Matthias Kohring sagt, dass so etwas inzwischen in Zielvereinbarungen stehe zwischen Hochschulleitungen und frisch Berufenen. Sichtbarkeit als Indikator für Relevanz. In einer großen Studie haben Kohring und sein Kollege Frank Marcinkowski (Münster) die Spitzen der deutschen Universitäten gefragt, wie wichtig ihnen eine gute Presse sei. 8,3 auf einer Skala von null (völlig egal) bis zehn. Noch höher war der Wert, als es um den Zwang zur öffentlichen Profilierung ging (8,5). Massenmedien funktionieren anders als Wissenschaft, sagt Kohring. Was dort erscheint, muss einfach sein und leicht verständlich. Die Folgen: andere Themen und andere Qualitätskriterien, Entsolidarisierung und falsche Erwartungen, vor allem in Sachen Verwertbarkeit. Matthias Kohring bezweifelt, dass sich „die Menschen da draußen“ für „vorgeführte Schaukämpfe“ aus der Wissenschaft interessieren. „Wofür tun wir es dann?“

Patrick Illinger, Leiter des Wissens-Ressorts bei der Süddeutschen Zeitung, weiß, wofür sich niemand interessiert: Wissenschaftspolitik. Bewilligungen, Evaluierungen, Personal. All das, was die Professoren in ihrem Alltag am meisten umtreibt. Illinger beklagt, dass ihm Forscher fast nie erzählen, was sie in den letzten Monaten Spannendes entdeckt haben. Immer nur das eine. Falls jemand mit seinem Thema in die Süddeutsche will: Patrick Illinger hat ein einfaches Kriterium. Was würde er seinen Freunden erzählen, abends beim Bier? Illinger kritisiert die eigene Zunft ein bisschen (zu wenig investigativ, noch zu wenig journalistisch) und lobt die Wissenschaft. Vorbei sei die Zeit der Universitätspostillen, die auf acht Seiten siebenmal den Rektor hatten. Vorbei auch die Zeit der Institutsdirektoren, die Reportern Hausverbot erteilten, auch wenn sich manche Forscher immer noch um ihr Image sorgen würden, wenn Zeitung oder Fernsehen anrufen.

Luise Dirscherl leitet an der LMU die Stabsstelle Kommunikation & Presse und bezweifelt, dass die Themen Wissenschaft und Wissen in den Medien boomen. Ihre These: immer größere Konkurrenz (Universitäten, Netzwerke, Forschungsverbünde) um immer weniger Abdruckplätze. Völlig verschwunden sei die kleine Meldung über eine Entdeckung hier und eine dort. Stattdessen gehe es eher um größere Zusammenhänge, um Politiknähe. Es ist gerade drei Tage her, dass Annette Schavan ihren Rückzug aus dem Hochschulrat der Universität angekündigt hat. Schlechte Presse inklusive. Luise Dirscherl beschreibt, was sich in den zehn Jahren ihrer Amtszeit verändert hat: gezielte Pressemitteilungen und viel mehr eigene Berichterstattung. Ein Forschungsmagazin zum Beispiel, das von Martin Thurau gestaltet werde, einst Wissenschaftsjournalist bei der Süddeutschen Zeitung. Während dort früher Professoren für Professoren geschrieben hätten und Medienauftritte überhaupt argwöhnisch beobachtet worden seien, gehöre es heute zum Selbstverständnis der meisten Wissenschaftler, auch Kommunikator zu sein. Manchmal fehle es noch am Verständnis für die Medienlogik, aber dafür sei eine Pressestelle schließlich da.

Harald Lesch braucht diese Hilfe nicht. „Ich mache das, weil es mir Spaß macht.“ Über die Wünsche der Öffentlichkeit habe er nicht groß nachgedacht. Umso mehr offenbar über das, was mit der Universität passiert. Lesch kritisiert die Jagd nach Schlagzeilen als ein Ausweichmanöver, das sich ganz gut mit dem Begriff Resilienz beschreiben lasse. Der Leistungsdruck und die Drohung Mittelentzug würden von den Kollegen schließlich verlangen, Aufmerksamkeit zu ergattern. Sich selbst sieht Lesch als „Sänger“ und Öffentlichkeitsarbeiter. Er habe aufgehört, Anträge zu stellen und Gutachten zu schreiben, als er zum Fernsehen gegangen sei. „Totale Einflusslosigkeit“ in seinem Bereich: das sei der Preis gewesen. Vielleicht kann er deshalb an diesem Abend auch zum Mahner in Sachen Resilienz des Wissenschaftssystems werden. Das Ausweichen in die Medien sein ein „Fluchtreflex“, und ein Professor, der aus Sorge um Drittmittelanträge darauf verzichte, ein öffentlicher Intellektueller zu sein, habe seinen Beruf verfehlt. Natürlich hat Lesch auch für seine Kollegen eine schöne Metapher: Dackel, die einem Zipfel Wurst hinterher hecheln. „Der schlaue Hund bleibt sitzen, weil er weiß: Die Wurst kommt irgendwann wieder.“

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/16

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