Interview “YouTube macht Geschichte”

Für hier evtl. auch interessant, das Interview auf “RNF Life” am letzten Dienstag. Unter dem Schlagwort ”YouTube macht Geschichte. Stadtarchiv Speyer und Social Media” fand in der Sendung ein gar nicht mal so kurzes Gespräch zum Thema statt. Der Sender hatte gut recherchiert, der Moderator ist selbst übrigens Web20-affin und Twitterer (sowie Historiker)

Aus der Sendungsankündigung: Wenn man sich so durch große Video-Plattformen wie YouTube klickt, dann findet man da neben einer Menge süßer Katzenvideos ambitionierte Kurzfilme und mehr und mehr auch speziell für die Plattform produzierte Sendungen mit eigenen Stars wie Y-Titti oder Gronkh mit seinen Let’s-Play-Videos.

In diesem zunächst einmal fast unüberschaubaren Wust sind wir dieser Tage auf historische Videos aus Speyer aufmerksam geworden.

Tatsächlich ist es so, dass das Stadtarchiv Speyer einen eigenen Video-Kanal mit Filmschnipseln aus dem Archiv aufbaut. Und nicht nur das: Das Stadtarchiv bloggt, twittert, facebookt und öffnet sich so einer breiten Öffentlichkeit.

Über den Nutzen und die Akzeptanz von Social Media für eine Institution wie das Stadtarchiv dreht sich das Gespräch zwischen Moderator Ralph Kühnl und Dr. Joachim Kemper vom Stadtarchiv in Speyer.

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/788

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Eine Archäologie historischer Persönlichkeiten – Trend und Sensations-Hascherei?

Die Archäologie ist ein Fach, das von der Presse gemocht wird. Meistens…Zumindest wenn ein Museumsneubau nicht Millionen von Euro verschlingt oder durch Ausgrabungen Parkplätze in der Innenstadt wegfallen. Der Begriff „Sensation“ ist bei den Schlagzeilen obligatorisch und wird nicht selten von den Archäologen gleich selbst benutzt, um die Bedeutung des Fundes oder Befundes zu unterstreichen.  Presseleute scheinen aber regelrecht auszuflippen, wenn man einen Fund mit einer historischen Persönlichkeit in Verbindung bringen kann.

Kürzlich wurde heftig darüber spekuliert, ob denn das Grab Alexanders des Großen gefunden worden sei. Die zuständigen griechischen Archäologen hatten alle Mühe, diese Behauptungen zu dementieren. Um die Welt ging die Meldung trotzdem.

Begleitet von einer faszinierten Weltöffentlichkeit wurde vor ein paar Wochen das Grab der angeblichen Mona Lisa, Lisa Gherardini, in Florenz geöffnet.

Die Feuilletons waren entzückt von der Exhumierung Richards III in Leicester Anfang dieses Jahres und die beschauliche Schweiz schien Kopf zu stehen, als die angebliche Leiche Jürg Jenatschs, dem Graubündner Volkshelden des Dreißigjährigen Krieges, ausgegraben wurde.

Im letzten Jahr legte man in Duisburg im Rahmen einer Bauvoruntersuchung das Wohnhaus Gerhard Mercators frei, ausgerechnet zum 500. Jubiläum des Kartographen. Die Duisburger waren beglückt.

Zwei große Mittelalter-Ausstellungen in Mannheim und Magdeburg wurden mit Persönlichkeiten überschrieben, Benedikt von Nursia und Kaiser Otto dem Großen. In Erinnerung dürften noch die Ausgrabungen im Elternhaus Martin Luthers sein und nicht zuletzt befasst sich dieses Blog ja mit der Archäologie rund um das Hospital der Heiligen Elisabeth von Thüringen.

Dem geneigten Leser wird eine gewisse Häufung von archäologischen Pressemeldungen bezüglich berühmter Persönlichkeiten in den letzten zwei Jahren auffallen. Es sind Schlagzeilen, aber nicht hinter jeder Schlagzeile steckt eine Sensation und nicht hinter jeder Schlagzeile verbirgt sich Sensations-Hascherei. Das Bedürfnis nach öffentlicher Aufmerksamkeit haben alle diese Meldungen gemeinsam, aber ist das zu begrüßen oder zu verurteilen?

Die Aufmerksamkeit, die das angebliche Grab Alexanders des Großen erfuhr, bekam es wohl gänzlich gegen den Willen der vor Ort tätigen griechischen Ausgräber. Die Gerüchte wurden von Hobby-Experten über das Internet gestreut. Die Fragen, die sich mir stellen, sind: Warum meldet das die Deutsche Presse Agentur und warum stürzen sich unsere sogenannten Qualitätsmedien darauf?

Die Relevanz der Öffnung des Grabes der vermeintlichen Mona Lisa erschließt sich mir nicht. Auch die Aufmerksamkeit, die dieses kleine Gemälde genießt, verstehe ich nicht, aber da ich mit dieser Ansicht wohl eher in der Minderheit bin, erkläre ich mir diesen Rummel mit der mystischen Legendenbildung um die dargestellte junge Frau. Wenn man ihr Gesicht rekonstruiert, könnte man zum Beispiel herausfinden, ob Leonardo wirklich so gut malen konnte, wie man allgemein annimmt. Auch könnte eine DNA-Analyse feststellen, dass dieses seltsame Lächeln auf eine Krankheit zurückgeht.

Der Wirbel um die Ausgrabungen der sterblichen Überreste von Richard III und Jürg Jenatschs sind für mich hingegen etwas nachvollziehbarer. Es sind Personen der nationalen Geschichte, der DNA-Abgleich kann den ultimativen Beweis bringen, dass das der Mensch auch tatsächlich ist. Im Falle von Richard III konnte man den Nachweis führen, bei Jürg Jenatsch gab es widersprüchliche Resultate. Richard III bekam ein Gesicht rekonstruiert und die Engländer konnten einem Teil ihrer Geschichte wahrhaftig in die Augen blicken. Man könnte das als Sensations-Hascherei bezeichnen und anmerken, dass es aber für die Forschung an sich nichts bringt. Aber das ist zu kurz gedacht, denn der faszinierte Schauer, der mir bei diesem „In die Augen blicken“ den Rücken runter lief, ergriff bestimmt auch den ein oder anderen Schüler, Zeitungsleser oder Passanten an der Bushaltestelle. Ein „Blick in die Augen der Geschichte“ kann Interesse an Geschichte und Archäologie wecken und das ist an sich doch zu begrüßen.

2006 zeigte das Historische Museum der Pfalz in Speyer eine kleine aber feine Ausstellung zu Heinrich IV, in der die Ergebnisse dreier verschiedener Gesichtsrekonstruktions-Methoden zu sehen waren. Anlässlich des 900 Todestages des Salierkaisers verband man Archäologie mit kriminaltechnischen Methoden, um diesen für die Besucher zu vergegenwärtigen. Allerdings beschränkte sich diese Ausstellung nicht darauf, sondern versuchte ein rundes Bild der Zeit und der Lebensumstände zu geben.[1]

Eher zufällig legte man im vergangenen Jahr in Duisburg das Wohnhaus Gerhard Mercators frei. Die archäologischen Grabungen waren im Zuge einer Bauvoruntersuchung nötig geworden. In der Stadt wurden sehr schnell Stimmen laut, die eine Rekonstruktion des erst 1924 abgebrochenen Hauses forderten und es begann eine öffentliche Debatte über die Art des Wiederaufbaus der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Fund des Wohnhauses dieser historischen Persönlichkeit war in Duisburg Anlass über Stadtentwicklung, städtische Identitäten und den Verlust der eigenen Altstadt nachzudenken. MinusEinsEbene berichtete darüber. Hier, hier und hier.

Die beiden großen Mittelalter-Ausstellungen in Mannheim und Magdeburg 2012 wurden mit Benedikt von Nursia und Kaiser Otto I betitelt. Aber die Ausstellungen gingen beide stark über die Darstellung von Biographien hinaus. Benedikt, der als Gründungsvater des abendländischen Klosterwesens gilt, war nicht Objekt und Inhalt der Ausstellung, sondern die Geschichte des mittelalterlichen Klosterwesens in seinen Facetten.[2] Die Ausstellung in Magdeburg 2012 wurde anlässlich des 1100. Geburtstages Kaiser Otto des Großen veranstaltet, mit dem Magdeburg insbesondere verbunden ist. Aber auch hier beschäftigte sich die Ausstellung weniger mit der Person, sondern mit dem Kaisertum in Europa und seine Entwicklung von der Antike bis in die frühe Neuzeit.[3] Die historischen Persönlichkeiten stehen hier pars pro toto. Sie sind Anlass oder Stichwortgeber.

Ebenfalls Schlagzeilen machten die archäologischen Untersuchen im Elternhaus Martin Luthers. Ein Beitrag auf der Webseite des Projektes ist sogar mit „Lutherarchäologie“ überschrieben.

Das besondere bei diesem Projekt ist, dass um die Ausgrabungen im Lutherhaus in Mansfeld ein umfassendes und langjähriges Forschungsprojekt mit vielen Beteiligten und Kooperationen gestrickt wurde, dass das Leben und Arbeiten Luthers, seiner Angehörigen und der Menschen im Mitteldeutschland im Übergang von Spätmittelalter zur frühen Neuzeit untersucht.[4] Viele Ergebnisse sind bereits in die Ausstellung „Fundsache Luther“[5] eingebracht worden und weitere werden zum Lutherjahr 2017 präsentiert werden.

Alles in allem sehen wir, dass Archäologie historischer Persönlichkeiten Sensations-Hascherei sein kann, aber nicht sein muss.

Warum auch immer wecken die Namen historischer Persönlichkeiten das Interesse. Die gewonnene Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit kann man nutzen, um damit echte wissenschaftliche Inhalte zu präsentieren, wie im Falle der „Lutherarchäologie“, welche die Forschung ernsthaft voranbringt. Auch kann ein archäologischer Grabungsbefund eine gesellschaftliche Debatte auslösen, über eine städtische Entwicklung, wie in Duisburg. Man kann die Archäologie historischer Persönlichkeiten also nicht an sich verdammen oder begrüßen. Es kommt darauf an, was die Wissenschaftler und Kulturverantwortlichen daraus machen.

[1] Historisches Museum der Pfalz Speyer, Heinrich IV. Kaiser, Kämpfer, Gebannter. Herrschergestalt zwischen Kaiserkrone und Büßergewand (Speyer 2006)

[2] A. Wieczorek- G. Sitar (Hrsg.) Benedikt und die Welt der frühen Klöster (Regensburg 2012)

[3] M. Puhle- G. Köster (Hrsg.) Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter. Ausstellungskatalog (Regensburg 2012)

[4] H. Meller (Hrsg.), Luther in Mansfeld. Forschungen am Elternhaus des Reformators. Archäologie in Sachsen-Anhalt Sonderband 6 (Halle 2007)

[5] H. Meller (Hrsg.), Fundsache Luther. Archäologen auf den Spuren des Reformators (Stuttgart 2007)

 

Quelle: http://minuseinsebene.hypotheses.org/764

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Warum Enkidu? Nachdenken über eine Leerstelle.

2011 gab Prof. Gregory Currie in einem Beitrag1 der philosophischen Plattform Philosophy File eine einigermaßen negative Rezension des Gilgamesch-Epos, wobei Sätze fielen wie: “[…] its popularity, to me, remains something of a mystery and I think it contrasts very starkly and in fact very poorly with the other great literatures of the Ancient World that we have; and I’m thinking here particularly of Homer and of the Bible stories.” und “[…] in terms of interest and narrative density”, fährt er fort, während er einräumt, dass diese Texte weit später entstanden sind, “I think those stories are vastly more interesting than Gilgamesh is.” Er nennt die Erzählung missglückt, zumindest in vielerlei Hinsicht, weil sie ein für ihn wichtiges Element des Erzählens vermissen lässt, das ist das Nachdenken über das Denken, was Currie unter Metakognition fasst.

Wir finden Metakognition sozusagen als Zement des Plots in so ziemlich jeder Erzählung, mindestens in den modernen und dort auch in den noch so trivialen. Sich bewusst zu sein über die Tatsache, dass wir in der Lage sind zu denken, bedeutet, dass unsere Handlungen in einem Kontext verortet sind, sowohl von unserem eigenen Denken als auch von dem Denken, das wir in anderen Menschen erkennen. Und Currie spricht hier von “all sorts of immense powers”, die die mit Metakognition einhergehende Vorhersagbarkeit von menschlichem Handeln und die Möglichkeit zu Betrügen mit sich bringen. Das allein schon gibt uns eine ganze Reihe von Verfahren, um das Handeln von fiktiven Figuren glaubwürdig zu erzählen und Abläufe eines Geschehens nachvollziehbar auszugestalten.

Wie können wir also erklären, dass, was Currie als einen absoluten Mangel an Metakognition bezeichnet, nichts davon wegnimmt, dass die Geschichte von Gilgamesch über Jahrhunderte hinweg so gut wie nicht an Popularität eingebüßt hat? Viel mehr noch, wie ist es überhaupt möglich eine Geschichte zu erzählen, die ein so basales Mittel der Handlungsmotivation vermissen lässt? Fehlt uns das Verständnis, der kulturelle Hintergrund dafür, welche Ideen dem Text zugrundeliegen, wie Currie als nicht sonderlich evidente Möglichkeit einräumt? Oder, wie er ebenfalls anbietet, gehört es für eine der ältesten Handelskulturen nicht zur Agenda zu problematisieren, was in anderen Menschen vor sich geht? Ist eine der ältesten verschriftlichen Großen Erzählungen der Menschheit ein narratives Unglück?

Der, der die Tiefe sah, die Grundfeste des Landes (I, 1)

Das Gilgamesch-Epos wurde vor vermutlich etwa viereinhalb tausend Jahren das erste Mal niedergeschrieben und geht wahrscheinlich viel weiter zurück auf eine mündliche Tradition. Die Abundanz der archäologischen Funde von Fragmenten von Keilschrifttafel in einem Rahmen von mehreren hundert Jahren und quasi allen wichtigen Kulturzentren des Zweistromlandes lassen darauf schließen, dass das Epos nicht einfach nur populär war, sondern mindestens ein voller Erfolg, in seiner Einschlagswirkung noch größer als der französische Rosenroman oder das Nibelungenlied.

Eine ausreichend detaillierte Nacherzählung des Epos ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich. Den geneigten Leser möchte ich deshalb auf die zahlreichen verfügbaren Zusammenfassungen verweisen, die sich im Internet, in den Editionen und in den meisten umfassenden Arbeiten zum Epos finden lassen.2 Grob summarisch lässt sich feststellen, dass das Epos aus zwei gerahmten Erzählteilen besteht. Die Rahmung stellt die zu Beginn offensichtlich an den Leser gerichtete und am Ende von Gilgamesch für Ur-šanabi wiederholte Beschau der Mauern von Uruk. Der erste Erzählteil schildert die Schaffung Enkidus in der Steppe, seinen Weg in Gilgameschs Stadt, Uruk, und die Abenteuer der beiden bis zu seinem Tod. Daran schließt der zweite Erzählteil an, der Gilgamesch in Trauer und Selbstverzweiflung auf der Suche nach ewigem Leben in die Weite der Steppe und bis an den Rand der sterblichen Welt treibt, um mit leeren Händen, aber reich an Erfahrung und Wissen über seinen Platz in der Welt zurückzukehren.

Er ist ihr Hirte und er ist ihr Hüter (I, 89)

Mir persönlich erscheint für ein zumindest basales Verständnis von Heldenepen eine freilich viel zu vereinfachte Formel für angemessen sinnvoll: Die Helden sind Herrscher und Zivilisationsbringer, die durch ihr Epos pars pro toto legitimiert werden. Da jeder Herrscherheld Träger und gleichzeitig Prototyp eines dynastischen Herrschertums3 ist, hat das Epos vor allem dadurch hohe Reichweite, dass die Kulturträger potentiell an seiner Weiterverbreitung interessiert gewesen sein werden: Es darf als weitaus ökonomischer angenommen werden, den Leuten Geschichten von der Notwendigkeit und den Vorzügen eines Despotismus vorzusetzen, die vor allem auch durch Erzählredundanz Wahrheit erhalten, als sie mit der Peitsche gefügig zu machen. Gilgamesch ist am Ende der Inbegriff eines guten Menschen, eines guten Herrschers. Und wenn das Epos öffnet und schließt mit der Aufforderung, die Mauern Uruks zu befühlen, sie der ganzen Länge nach abzuschreiten und ihre Herrlichkeit zu bewundern, dann ist das die Aufforderung, sich über die gegenwärtige Realität eines behüteten Daseins durch den Despoten in statu quo im Klaren zu sein. Wenn Uruk als Schafpferch und Gilgamesch am Ende als guter Hirte darstellt sind, so ist das Ausdruck davon, dass das bestehende Prinzip einer bekannten, zweckmäßigen Ordnung unterliegt.

Doch gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Gilgamesch ist zu Beginn des Geschehens ein absolut miserabler Herrscher. Und senden die Götter nicht Enkidu, um ihn von seiner Maßlosigkeit zu heilen? Tatsächlich findet Gilgamesch in Enkidu einen Spielkameraden, mit dem er sowohl das Spiel der Liebe, als auch das Kampfesspiel betreiben kann. Und in seiner Stärke und Unerschöpflichkeit ist Enkidu ein perfektes Gegenstück für einen Fürsten, der nicht genug von Gewalt und sexuellen Eskapaden haben kann. Als diese Triebe ihre Befriedigung finden, wird Gilgamesch eindeutig zum Kulturbringer, der aus den Zedern des Waldes ein prächtiges Tempeltor zimmern lässt und wie ein frühzeitlicher Herkules die Umgebung der Stadt von Raubtieren befreit. Doch mit Enkidu wird er nicht zu dem, was die babylonische Ordnung verlangt, denn er ist noch immer maßlos in seinem Feiern, maßlos frech gegenüber der Stadtgöttin von Uruk, Ischtar, sogar weitaus maßloser in seiner Stärke im Bezwingen des Himmelsstiers. Enkidu macht aus Gilgamesch nicht den größten Fürsten aller Zeiten: Erst die Selbsterkenntnis seiner condition humaine am Ende des Epos sorgt dafür.

Wofür brauchen wir dann Enkidu, der ja bei der zweitbesten Gelegenheit völlig unspektakulär an einer Krankheit vergeht, klagend darüber nicht im Kampf getöten worden zu sein. Man könnte meinen, dass das Epos einen noch viel größeren Fehler begeht, als nicht über das Denken seiner Figuren zu informieren: Es erzählt von einer Figur, die im Grunde nicht dafür nötig ist, die finale Motivation der Erzählung zu erfüllen. Und es wird sogar noch abstruser, denn tatsächlich nimmt dieser Teil des Erzählens über die Hälfte des Textes ein und wir erfahren weit ausschweifend nicht nur von den zwei, manchmal drei Träumen Gilgameschs von der Ankunft Enkidus, sondern von seinen Träumen und den Gesprächen mit Enkidu während der Reise in den Zendernwald. Und wie Enkidu stückweise mehr und mehr menschlich wird. Was hat man sich dabei gedacht? War es das Problem so vieler studentischer Hausarbeiten, „ich habe 12 Tafeln zu schreiben, aber mein Thema reicht nur für fünf davon“? Wurden hier zwei Geschichten gedankenlos zusammengefügt, wie so mancher spätmittelalterliche Codex, der geomantische Wahrsagerlehren und Fragmente des Nibelungenliedes für eine gute Kombination hält? Ich meine, dieses Problem hängt stark mit dem zusammen, was Currie am Epos anprangert, nämlich der scheinbaren Unverbundenheit wichtiger Erzählmomente. Aber das hat einen Grund.

… versehen mit Locken wie eine Frau. (I, 106) … frißt mit Gazellen er Gras. (I, 110)

Schauen wir uns eine Stelle genauer an. Als Ninsun die Verbrüderung ablehnt, kommt Gilgamesch wie aus dem Nichts auf die Idee, den Riesen Chumbaba abzuschlachten. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das jetzt irgendwie angebracht oder notwendig wäre; tatsächlich hält jeder, der in der Stadt etwas zu sagen hat – Enkidu inklusive –, den Plan für eine mächtig dumme und gefährliche Idee. Stimmt das Abenteuer Ninsun um? Nicht so richtig, es macht mit ihr so gut wie gar nichts. Aber es macht etwas mit Enkidu.

Enkidu wurde als Naturwesen geschaffen, ein Ziemlich-Tier-Fast-Mensch. In der Steppe hat er krauses Haar am ganzen Körper, er lebt in einer Tierherde, er trink mit ihnen am Wasserloch und der Fallensteller, der ihn entdeckt, erkennt im Grunde auch nur, dass er anders ist, weil er mit seiner Stärke und Schläue die Fallen zerstören kann. Durch die zu ihm gesandte Tempeldirne wird er von seiner Herde entwöhnt und kommt der Zivilisation sehr nahe, als er mit den Jägern vor der Stadt lebt und dort bereits feindlich gegenüber den Tieren handelt, indem er sie in seiner Funktion als Wächter bekämpft; und er wird von seiner übermäßigen Behaarung befreit und an die Stelle des Weidens in der Steppe und des Trinkens aus dem Wasserlochs treten Brot und Bier. Als er die Stadt betritt und mit Gilgamesch Freundschaft schließt, ist Enkidu bereits regelrecht domestiziert worden. Aber er ist nicht mehr als ein Transvestit, der sich in Kultur kleidet, sein tierischer Anteil ist noch vorhanden. Ninsun sagt Gilgamesch auf seine Bitte, die beiden zu verbrüdern4: „In der Steppe ist er geboren, und niemand hat sich je um ihn gesorgt.“ (II, 1775) Und erst das löst Bestürzung aus und Enkidu vergießt bittere Tränen.

Warum sollte das dennoch Gilgamesch dazu bringen, auf Riesenjagd gehen zu wollen? Chumbaba ist eindeutig Teil jener rauen Natur in der Steppe, er hütet den Wald, ist bedrohlicher als jedes Raubtier, und als die Helden ihn überwältigen, richtet er sein Wort lediglich an Enkidu wie an einen alten Bekannten6 und fleht, dass er Gilgamesch Gnade einflöße: „Du sitzt (da) vor ihm wie ein Schafshirt, / und wie ein Mietling, ihm zu Munde, vertust du deine Zeit. / Jetzt aber, Enkidu, liegt es bei dir, mich und auch dich selber (!) freizugeben. / Sprich doch mit Gilgamesch, daß er mein Leben schone!“ (V, 236-239)

Andreas Freidl7 spricht ausgesprochen treffend von Suizid des Naturwesens Enkidu, als er den Riesen tötet und beginnt, sich ganz wie ein zivilisierter Zimmermann an die Abholzung der Zedern zu machen. Es ist ein Suizid an seiner Identität, denn er löscht aus, was er zuvor an sich nur verstecken konnte, seinen Ursprung in der Steppe. Wie bei einem Exorzismus wird in Chumbaba freigelegt, was ihn von Gilgamesch trennt, um in der Auslöschung des Riesen die nun endlich mögliche Vereinigung der beiden zu besiegeln.

[Aruru] schuf in ihrem Herzen Anums Befehl (I, 100)

Für all diese Schlüsse muss viel rekonstruiert werden, nicht nur wegen der Lakunen, die noch immer in der Überlieferung bestehen, sondern auch, weil das Epos sich ein Prinzip zueigen macht, dass der Vorstellung von Metakognition m.E. überlegen ist: die Leerstelle. Prof. Wolfgang Iser beschreibt die Leerstelle als einen Zusammenstoß von Textsegmenten8. Das passiert beispielsweise, wenn ein Handeln völlig unmotiviert auf ein vorhergehendes Ereignis folgt. (Es kommt sozusagen zum gewollten Kohärenzbruch.) Etwa dass die Mutter den neuen Spielkameraden nicht akzeptiert und das Kind beschließt, im Garten die Tulpen zu köpfen. Es ist Aufgabe des Lesers, die verschiedenen Elemente in eine Beziehung zueinander zu bringen; und da er dabei vor allem seine eigenen Wissensbestände und das, was er für wahr halten will, ins Spiel bringt, ergibt sich hier eine äußerst produktive Appellstruktur, die den Leser quasi zur Ko-Autorenschaft ermutigt. Im Erzählen können hier die Deutungspotentiale, also die möglichen Lesarten, eingeschränkt werden; liefert der Text zum Beispiel eine transparente Vereindeutigung, etwa die Gedanken des trotzigen Kindes beim Tulpenköpfen, gibt es nur noch vergleichsweise wenig Raum für unterschiedliche Lesarten. In der Regel ist ein Text aber auf einen gewissen Betrag an Leerstellen angewiesen, sie geben dem Leser die Möglichkeit, sich affektiv mit dem Erzählten in Bezug zu setzen.

Enkidu selbst ist eine Leerstelle, denn uns wird nicht gesagt – mangels Metakognition im Erzählten –, was die Götter dazu verleitet, das Steppenwesen zu kreieren, anstatt das Problem anders zu lösen, etwa Gilgamesch zu zerschmettern oder ihm gleich vorzuführen, dass er sterblich ist und sich zusammenreißen sollte. Damit ist die Hälfte des Epos maßgeblich das Auserzählen einer Leerstelle, soviel sollte man sich vor Augen führen. Und diese Leerstelle wird weiter ausgehöhlt: Wieso wurmt es Enkidu auf einmal so, dass da ein Herrscher ist, der das Recht der ersten Nacht in Anspruch nimmt? Und warum will Gilgamesch ihn unbedingt zu seinem Bruder machen? Viel schlimmer noch, insgesamt sechs bis acht Träume werden uns erzählt, deren Deutung durch Ninsun oder aber Enkidu stets sehr basal und nichtssagend bleibt.

Du aber wirst ihn mit mir auf eine Stufe stellen (II, 258)

In einem Traum sieht Gilgamesch einen Felsbrocken vom Himmel fallen und die Leute fallen vor ihm nieder und küssen ihn. Und Gilgamesch versucht ihn anzuheben, aber er ist zu schwer für ihn, den Stärksten unter den Starken. Ein andermal passiert exakt dasselbe mit einer Axt. Und seine Mutter kann ihm beide Male nur sagen, dass einer kommen wird, der ihm ebenbürtig ist, und die Leute werden seine Füße küssen. Die gute Frau ist sozusagen hauptberuflich Schamanin und hat uns nichts Besseres zu bieten? Schlimmer noch ist, dass uns zwei oder dreimal exakt dasselbe erzählt wird, ohne dass wir auch nur einmal etwas Neues erfahren: Denn dass Enkidu gekommen ist und Gilgamesch treffen soll, so viel steht seit Anfang des Geschehens fest. Nun ist es so, dass Axt im Akkadischen haṣṣinnu(m) und Felsbrocken kiṣrum heißen. Prof. Anne Kilmer wies zuerst darauf hin, dass beide Wörter beinahe homophon sind mit assinu(m) und kezru, die beide Figuren aus dem Personal des Ischtarschen Fruchtbarkeitskultes benennen. Das eine ist ein Transvestit bzw. Hermaphrodit, das andere ein prostituierter Knabe, beide sind ganz im Bilde Ischtars, wie Rivkah Harris9 herausgearbeitet hat, mühelos dazu in der Lage männliche und weibliche Rollen einzunehmen; sie sind zugleich kindlich und erwachsen; sie bringen die Grenzen von Spiel und Ernst zum Flimmern.

Und die Bitte Gilgameschs, Enkidu zu seinem Bruder zu machen, ist vor allem im nahöstlichen Kontext der Adels- und Herrscherdynastien viel besser zu verstehen als eine Bitte um Vermählung. Es ist nicht ohne Grund, dass Isis und Osiris Bruder und Schwester in ehelicher Liebe vereint sind, oder dass die Liebende im Hohelied sich wünscht, mit ihrem Geliebten als Bruder die Mutterbrust geteilt zu haben. Wie diese anderen verbindet Gilgamesch und Enkidu eine innige und durchaus erotische Liebe zueinander, die im Spiel zwischen Zuneigung und Kampelei nicht gerade schwach angedeutet wird. Die Gilgamesch-Forschung diskutiert seit den frühesten Erkenntnissen über die Homoerotik des Epos. Susan Ackerman beschreibt den Eros der Helden als durchaus ambig und man muss ihr Recht geben, wenn sie die Diskussion um die Geschlechtervorstellungen und die sexuellen Sitten der Mesopotamier mit Blick auf den unzureichenden Forschungsstand zurückstellt, um der ohne weiteres nachvollziehbaren Feststellung Raum zu geben, dass die Beziehung der beiden zweideutig mit erotischem Vokabular beschrieben wird10 und damit schon etwas über ihre Beziehung ausgesagt wird. Aber auch nicht jeder informierte Rezipient wird die Leerstellen auf diese Weise fruchtbar machen wollen oder gar können.

Die Geschichte ist beispielsweise an sich durchaus kindergeeignet erzählt, obwohl ein erwachsener Leser die nicht besonders jugendfreien Stellen sofort identifiziert: Im Grunde werden Gilgameschs Eskapaden damit umschrieben, dass er die jungen Männer und Frauen nicht heim lässt, sie quasi in seinem unersättlichen Spielbedürfnis einnimmt. Und Enkidu streichelt die Tempeldirne sechs Tage und sieben Nächte lang; Gilgamesch liebkost ihn, wie man eine Frau liebkost; Gilgamesch träumt abstrus von Axt und Fels, statt konkret von Fruchtbarkeitsdienern, die man erst mit dem entsprechenden Begriffswissen identifiziert. Die Dinge bleiben hohl und vage, weil die Erzählung offenbar ein Publikum anvisiert, das in seiner Diversität jeder Kategorisierung als homogene Zielgruppe entbehrt.

Um deinetwillen möge weinen der Buchsbaum, die Zypresse und die Zeder! (VIII, 14)

Und dann ist Enkidu auf einmal zugleich Freund, Bruder, Gemahl, Liebhaber, Kampfkamerad, Spielgefährte – aber auch Wächter und Diener seines Herrschers – und damit der Inbegriff genau des Menschen, den sich der einzelne Rezipient vorstellen möchte, ohne dass er sich dabei festlegen müsste: Enkidu wird tatsächlich nicht von den Göttern geschaffen, das Publikum formt ihn aus einem unförmigen Lehmklumpen zu dem, was er sein soll. Wie groß und schrecklich muss der Moment sein, als diese Figur, deren Hingabe und Zuneigung ein halbes Epos lang auserzählt wird, plötzlich sterben muss. Wie verständlich wird, dass Gilgameschs Klage damit beginnt, all die aufzuzählen, die um Enkidu weinen sollen – und die Abundanz der Nennungen lässt sich mühelos damit abfassen, dass alles und jeder an seiner Trauer partizipieren mag.

Und wie unheimlich nachvollziehbar wird Gilgameschs Flucht in die Steppe, wenn man sich vor Augen hält, dass die Trauer um einen geliebten Menschen, der all das sein kann, was man sich wünschen mag, eine der tiefsten und unwillkürlichsten Emotionen ist, die dem Menschen widerfahren können. Gilgamesch bricht nicht nur einfach auf, um die Unsterblichkeit zu finden und ein mächtig toller Herrscher zu werden und er vertritt nicht etwa nur ein dynastisches Prinzip, das sich über Erzählen legitimiert wissen will; das sind sehr wünschenswerte und erfolgversprechende Inhalte, die dem Publikum als nahrhafte Fettränder an der Speise gereicht werden: Gilgamesch bricht auf, weil er Mensch ist. Und nichts wird durch die Leerstelle Enkidu und die konsequente kreative Bemächtigung des Publikums stärker gemacht, als dieses Menschsein, das er pars pro toto im Tod des geliebten Freundes erkennt. Ohne diesen Motivator, der durch Enkidus Lebensweg, seine ambigue Beziehung zu Gilgamesch und durch seinen Tod maximal stark gemacht wird, wären die Selbstergründung und die Lehre vom Menschsein und Herrschen am Ende des Epos ein durchweg randständiges Erlebnis für den Großteil der Rezipienten.

Das Epos braucht mithin keine reflektierte Verständigung über das Denken, weil es selbst metakognitiv funktioniert: Es macht sich viel mehr Gedanken darüber, wie sein Publikum „tickt“, und überlässt ihm mit Bedacht die Aufgabe für sich persönlich auszuerzählen, wie die Figuren „ticken“. Dieser absolute Mangel für Currie ist für mich genau der Gewinn des Epos, das den Rezipienten in seiner kreativen Leistung so ungemein ernst nimmt und ihm durch die Leerstelle Enkidu so viel Raum im Text zugesteht. Currie liegt falsch, dem Epos ein Scheitern vorzuwerfen. Sein Erfolg begründet sich gerade nicht durch seine innere Schlusssicherheit, sondern durch die Bemächtigung des Publikums11 und seine raffinierte sprachliche Ambiguität (einer der folgenden Einträge wird auf diese Ambiguität noch weiter eingehen).

  1. Gilgamesh and Metacognition (Link), PhilosophyFile, 30. August 2011
  2. Der Abschnitt Der Inhalt des Zwölftafel-Epos (Link) im Wikipedia-Artikel zum Gilgamesch-Epos beispielsweise folgt der von mir persönlich präferierten 2012er Übersetzung von Stefan Maul und bietet via Artikelverweise nützlicherweise eine Art Glossar.
  3. Die germanistische Mediävistik hat für dieses Verständnis von Herrschaftsgeschichten sehr solide Grundlagen anhand des Heldenromans geschaffen, wo beispielsweise Ingrid Kasten (Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des ‚Helden’ im Roman d’Enéas und in Veldekes Eneasroman. In: DVjs 62, 1988.) die legitimatorischen Verfahren in den mittelalterlichen Aeneis-Adaptionen herausarbeitet. Der Heldenroman greift in vielerlei Hinsicht zurück in die Antike und verwendet die dort bereits höchst funktionalen Verfahren mit einigem Modifikationsaufwand weiter, weshalb hier eine Linienverlängerung durchaus sinnvoll erscheint. Die Aeneis-Adaptionen zeigen beispielsweise eine Ablösung der Antike durch das christliche Zeitalter und bedienen sich dabei der alten Stoffe, die weiterverwendet, vor allem aber erweitert, entwertet oder redynamisiert werden. Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke erweist sich für derlei Betrachtungen als besonders geeignet, da er sehr bewusst mit den antiken Quellen spielt.
  4. Ich nehme hier gewissermaßen eine unlautere Verkürzung vor. Der Gedanke, Gilgamesch und Enkidu sollten sich verbrüdern wollen, entstammt vornehmlich einer Deutung von Susan Ackerman (The Mesopotamian Epic of Gilgamesh. In: When Heroes Love. The Ambiguity of Eros in the Stories of Gilgamesh and David. New York u.a.: Columbia University Press 2005.) und stützt sich auf eine m.E. sehr schlüssige Übersetzungsalternative der Traumschilderung Gilgameschs an Ninsun, die den Verbrüderungsantrag explizit macht. Schon die konventionelle Stellenübersetzung, sie werde die beiden „auf eine Stufe stellen“, deutet aber ebenfalls die zeremonielle Rolle Ninsuns an. Von dem Geschehen nach Enkidus Eintritt in die Stadt wissen wir hingegen tatsächlich nur aufgrund der Tatsache, dass der Text wenig andere Schlüsse zulässt als mindestens einen Freundschaftsbund nach dem Kampf. Die Rede Ninsuns ist von Lakunen durchzogen.
  5. Ich folge hier der kommentierten Neuübersetzung von Stefan Maul von 2012, erschienen im Verlag C.H. Beck.
  6. Tatsächlich spricht er zuvor noch: „Dich [...] habe ich schon längst aus meiner Empfindung verbannt.“ (V, 91)
  7. Si vis vitam, para mortem. Die chthonische Todesethik. In: Manfred Negele (Hrsg.): Liebe, Tod, Unsterblichkeit: Urerfahrungen der Menschheit im Gilgamesch-Epos. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.
  8. In Anlehnung an das Konzept der Unbestimmtheitsstelle bei Roman Ingarden ist in der Regel, spezifischer ausgedrückt, von schematisierten Ansichten die Rede.
  9. Inanna-Ishtar as Paradox and a Coincidence of Opposites. In: History of Religions, Vol. 30, No. 3 (Feb., 1991).
  10. So lassen sich beispielsweise die Ausdrücke für das Lieben und Liebkosen der beiden in viel expliziteren Kontexten wiederfinden.
  11. Diesen Gedanken von der Bemächtigung des Publikums, der das Projekt auch fortan noch bestimmen und so weiter eruiert werden soll, verdanke ich vor allem Frau Prof. Bernadette Malinowski.

Quelle: http://enkidu.hypotheses.org/40

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Von Dyck zum Kap der Guten Hoffnung: Die Reisen des jungen Grafen

In der Frühen Neuzeit spielte im Leben eines jungen Adligen die Kavalierstour eine besonders wichtige Rolle. Sie bildete den Höhepunkt und Abschluss der standesgemäßen Erziehung. Durch (Studien-) Aufenthalte in fremden Ländern erhielten die Kavaliere den letzten Schliff auf dem Weg zum „honnête homme“. Auf dem Lehrplan einer solchen Tour standen u.a. Rechtswissenschaften, Fremdsprachen und Geschichte, aber auch Fechten, Reiten und Tanzen wollten gelernt sein. Außerdem nahm man sich Zeit die „Merkwürdigkeiten“ des Studienortes zu besichtigen.

In den Archiven des rheinischen Adels finden sich zahlreiche Quellen, welche die Reiseaktivitäten der jungen Adligen belegen. Tagebücher, Rechnungen, Instruktionen und Briefe geben Auskunft über Ziele und Inhalte der Kavalierstouren. Hauptsächlich begab man sich nach Italien und Frankreich, an den Kaiserhof in Wien oder in die Niederlande. Die jungen Dycker Grafen Joseph und Franz bilden da keine Ausnahme. Anhand unzähliger Korrespondenzen von Hofmeistern und den beiden Kavalieren lässt sich deren Erziehung nachvollziehen. Auch hier entschied man sich für die klassischen Studienorte: Von Köln reiste man zunächst nach Brüssel, dann nach Paris und schließlich nach Wien.

Daher verwundert es nicht, wenn man beim Stöbern in den Quellen des Dycker Archivs die genannten Städte immer wieder als Ausstellungsorte der Briefe an die Mutter lesen kann. Umso überraschter ist man allerdings, wenn als Ausstellungsort das Kap der Guten Hoffnung angeführt wird. Eine Kavalierstour bis in den Süden Afrikas? Und der zwölfjährige Joseph beschwert sich auch noch über das viel zu heiße Klima? Was es mit diesem Brief auf sich hat, beleuchtet ein weiterer Beitrag der Netzbiographie.

Elisabeth Schläwe

Quelle: http://rhad.hypotheses.org/235

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Thüringische Leichenpredigten – das Beispiel Andreas Reyher

Im Rahmen der im Projekt AutoThür edierten autobiographischen Texte will ich heute kurz auf die Leichenpredigt von Andreas Reyher eingehen. Dieser wirkte vor allem als Rektor des Gymnasiums in Gotha; seine Lebensspanne von 1601 bis 1673 machte ihn zu einem Zeitzeugen, der den Dreißigjährigen Krieg mit vollem Bewußtsein miterlebt hat.

Auffällig ist aber in dieser Lebensbeschreibung, daß Kriegsereignisse oder überhaupt politische Vorgänge praktisch keine Rolle spielen. Der Bericht scheint komplett auf die Biographie konzentriert, zeitgenössische Ereignisse werden nicht eingeflochten. Daß dies nicht zufällig geschieht, sondern offenbar einem bewußten Ausblenden geschuldet ist, zeigt die Schilderung der Jahre 1630 bis 1631. Reyher weilte damals in Leipzig. Hier interessieren ihn aber ausschließlich sein berufliches Fortkommen und besonders seine Qualifikationen an der Universität in Leipzig. Der Stolz ist durchaus zu spüren, als Reyher vermerkt, daß er am „19. Martii Anno 1631. unanimi Consensu Professorum & Assessorum in Numerum Collegarum auff= und angenommen worden“ sei. Daß zu dieser Zeit genau in Leipzig der sog. Leipziger Konvent tagte, der die protestantischen Reichsfürsten unter kursächsischer Führung in einer neuen politischen Organisation zu formieren sich anschickte, war für Reyher ohne Belang. Auch daß wenige Monate später vor den Toren der Stadt Leipzig in der Schlacht bei Breitenfeld die schwedisch-sächsische Armee das kaiserlich-ligistische Heer vernichtend schlug (zeitgenössische Quellen sprechen auch von der Schlacht bei Leipzig), ist Reyher keine Erwähnung wert.

Eine Ausnahme bildet das Jahr 1632, in dem Reyher zum Rektor des Gymnasiums in Schleusingen berufen wurde. Die Abreise aus Leipzig verzögerte sich aber wegen der akuten Kriegsgefahr. Erst nach der Schlacht bei Lützen brach er auf und gelangte dann auch an sein Ziel. Allerdings verlief diese Reise nicht ohne Komplikationen, vielmehr spricht die Leichenpredigt von „grosser Gefahr auch Beraubung“. Bezeichnenderweise bleibt es bei diesen Stichworten. Denn was bei diesem Raubüberfall genau passierte, wer dafür verantwortlich war und was Reyher einbüßte, wird nicht erwähnt: Marginalisierung als ein möglicher Weg, mit Kriegserleben umzugehen?

Am Ende noch ein Kuriosum: Reyher spricht von der Schlacht bei Lützen als der „Lützischen Niederlage der Ligistischer [!] Armee“. Das stimmt natürlich nicht, denn hier kämpfte nicht die Armee der Liga, sondern die kaiserliche unter Wallenstein. Auch hier also ein merkwürdiges Durcheinander historischer Fakten (vgl. Ähnliches schon in der Leichenpredigt des J. G. Heinold). Daß hingegen der Schlachtentod des schwedischen Königs Gustav Adolf, der im Reich für großes Aufsehen sorgte und sich auch in der Publikation vieler Flugblätter niederschlug, für Reyher keine Erwähnung wert ist, paßt dagegen wieder ins Bild einer Leichenpredigt, die das Zeitgeschehen fast komplett ausblendet.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/272

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Petition: Prevent sale of works from the Detroit Institute of Arts

Jeffrey Hamburger, Kunsthistoriker in Harvard, potestiert gegen Überlegungen der bankrotten US-Stadt Detroit, die unschätzbaren Meisterwerke des Detroit Institute of Art auf den Markt zu werfen. Nach wenigen Tagen gibt es schon über 3400 Unterstützer.

Siehe auch Archivalia: http://archiv.twoday.net/stories/453138761/

http://www.change.org/petitions/mr-kevyn-duane-orr-emergency-manager-of-the-city-of-detroit-prevent-sale-of-works-from-the-detroit-institute-of-arts

Der Wortlaut der Petition:

In light of the city of Detroit having declared bankruptcy on July 18, 2013, it has been announced that some of the city’s assets, including the renowned collections of the Detroit Institute of Arts, could conceivably be sold to pay off the city’s creditors. The collections, which rank among the best in North America, include significant holdings of Italian, Netherlandish, Dutch and Flemish painting. Flemish masterpieces include works by Jan van Eyck, David, van Orley, Massys, Breugel, Cuyp, Hobbema, Hals, van Dyck, Ruisdael, Rembrandt and Rubens. Among the Italian masters represented are Botticelli, Ghirlandaio, Fra Angelico, Sasetta, Bellini, Perguino, Titian, Correggio, Parmigianino, Dossi, Bronzino, Carravagio, Veronese, Reni, Batoni, and Tiepolo. The outstanding collection of Impressionist and post-Impressionist as well as earlier French painting includes works by Poussin, Claude, de la Tour, Chardin, Fragonard, Delacroix, Courbet, Cezanne, Corot, Degas, Pissaro, Monet, Renoir, Seurat, Gauguin, and Vincent van Gogh. Among the English artists in the collection are Hogarth, Hoppner, Fuseli, Raeburn, Romney, Reynolds, Gainsborough, Constable, and Millais. All this is no more than a sampling: the museum also holds outstanding collections of American, African, African-American, Asian, and Islamic art, as well over 35,000 prints, drawings and photographs. A vital cultural hub in Detroit and the mid-Western United States, the museum is an institution of international standing and importance. The sale and dispersal of its collections would be nothing short of a tragedy. I am therefore asking you to consider signing the following petition, addressed to Mr. Kevyn Duane Orr, the emergency manager of the city of Detroit:

Dear Mr. Orr,

We, the undersigned, write to express our profound dismay at the news that the city of Detroit is considering auctioning off the collections of the Detroit Institute of Arts to meet the city’s obligations as part of the current bankruptcy proceedings. The Institute of Art’s collections are not only among the finest in the United States; they rank among the greatest in the world and contribute to the city’s international reputation. To sell them, in whole or in part, would seal the city’s shame, dispose of one of the most visible manifestations of its proud history, and inflict permanent, irreparable harm on the city as a center for culture, tourism and commerce. One doesn’t help a patient, even one who’s very sick, by cutting out his or her heart. We urge you to resist the pressures being brought to bear by creditors to resort to what would be an act of draconian cultural iconoclasm without parallel in modern times.

Yours sincerely, 
Jeffrey Hamburger 
Harvard University

http://www.change.org/petitions/mr-kevyn-duane-orr-emergency-manager-of-the-city-of-detroit-prevent-sale-of-works-from-the-detroit-institute-of-arts

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/269

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Social Tagging bei ARTigo: Welche Tags stehen in Zusammenhang mit “Klassizismus”, welche mit “Expressionismus”?

Scherz-Expressionismus-ImpressionismusIch bin gerade dabei, die ARTigo-Datenbank auf Epochen hin zu analysieren. In einem ersten Schritt möchte ich feststellen, welche von den Spielern eingegebenen Begriffe, also welche Tags, mit dem Begriff „Klassizismus“ und welche mit dem Begriff „Expressionismus“ korrelieren, d.h. welche Begriffe dazu im Zusammenhang stehen.

Folgende Vorgehensweise ist hierzu nötig:

  1. Erstellung von Abfragen auf die ARTigo-Datenbank, in welcher die Bilder mit allen Taggings (nicht nur die gematchten Tags, nein alles, also auch jeder Quatsch der eingegeben wurde) selektiert werden. Das mache ich mit Access. Für die Epoche des Klassizismus habe ich den Entstehungszeitpunkt der Bilder auf 1770 bis 1830 begrenzt, für die Epoche des Expressionismus auf 1900 bis 1920.
  2. Export der Daten in jeweils eine csv-Datei für Expressionismus (250.064 Datensätze) und eine csv-Datei für Klassizismus (527.440 Datensätze) .
  3. Für die weitere Verarbeitung der Daten in R mit dem TM-Package (Textmining) benötige ich mehrere Dateien. Die Aufgabe, die großen aus Access exportierten Dateien aufzuteilen, erledigt ein Script. Als Gruppierungsmerkmal habe ich das Entstehungsjahr der Bilder gesetzt. D.h. pro verschiedenen Zeitbereich wird eine Datei erzeugt. Somit wurden aus der Expressionismus-Datei 203 und aus der Klassizismus-Datei 616 kleinere Dateien erzeugt. Es entsteht deshalb pro Jahr nicht eine Datei, weil der Entstehungszeitpunkt von Bildern verschiedene Formate aufweist, z.B. 1770 oder 1770/1777 oder 1770/1775 etc..  Jeder verschiedene Zeitbereich ergibt eine neue Datei.
  4. Danach werden die Daten in R eingelesen. Zunächst die 203 Expressionismus-Dateien. Ich lasse eine Dokument-Term-Matrix erstellen und wende zunächst den Befehl removeSparseTerms an. Er schmeißt Begriffe, die nicht häufig vorkommen, raus (an dieser Stelle wird möglicher Quatsch entfernt, allerdings auch Fachbegriffe, die sich im Long Tail befinden). Beispiel:
    von 45.310 Begriffen bleiben nach Verwendung des Befehls removeSparseTerms(dtm, 0.99) noch 6.411 übrig.
    Würde ich einen anderen Wert eingeben, z.B. removeSparseTerms(dtm, 0.8) blieben noch 385 Begriffe übrig.
  5. Dann lasse ich mir anzeigen, mit welchen Begriffen das Tag „Expressionismus“ korreliert. Also welche anderen Begriffe kommen im Zusammenhang mit dem Begriff „Expressionismus“ vor? Je größer der Wert (z.B. 0.98 sh. Tabelle unten, desto eher kommen diese beiden Begriffe im Zusammenhang vor).
    Der Befehl hierzu lautet findAssocs(dtm, “expressionismus”, 0.8). Der Wert 0.8 gibt die Korrelation an (1 ist der höchste Wert, bei 0 gibt es keine Korrelation). Setzt man den Wert höher an, korrelieren weniger Begriffe miteinander und die Liste ist kürzer. Das Ergebnis für „Expressionismus“ sieht folgendermaßen aus:
    findAssocs(dtm,“expressionismus“, 8.0) ergibt eine Menge von 350 korrelierenden Begriffen (ich liste hier nur die ersten 30 Begriffe auf, die vollständige Liste sh. anhängendes PDF):

Bewegung 0,98
bunt      0,98
tier         0,97
farbe     0,96
farben  0,96
tiere      0,96
auge      0,95
kopf      0,95
mensch 0,95
orange 0,95
rot          0,95
striche  0,95
wild       0,95
aquarell 0,94
beine    0,94
blau       0,94
blauer   0,94
gelb       0,94
grün      0,94
hund     0,94
moderne 0,94
pferd    0,94
reiter    0,94
rosa       0,94
studie   0,94
violett   0,94
expressionistisch 0,93
farbig    0,93
franz     0,93

Dann wiederhole ich die Schritte 4 und 5 für die Epoche des Klassizismus. Das Ergebnis von findAssocs (dtm, „klassizismus“, 0.6) ergibt eine Menge von 170 korrelierenden Begriffen. Hierbei ist zu beachten, dass die Datenbasis zwar größer ist, aber wesentlich weniger Begriffe hoch korrelieren. Deshalb habe ich hier einen Wert von 0.6 eingegeben. Damit gebe ich an, dass auch Begriffe mit einer geringeren Korrelation ausgegeben werden. Trotzdem erhalte ich als Ergebnis eine geringere Menge höher korrelierender Begriffe als zuvor bei den Expressionismus-Daten.

Auch hier sind nur die ersten 30 Begriffe angegeben, die vollständige Liste ist als PDF angefügt:

antike   0,8
säule     0,8
tempel 0,79
sockel   0,77
architektur 0,76
schloss 0,76
antik      0,75
gebäude 0,75
grau       0,74
licht       0,74
säulen  0,74
schatten 0,74
weiß      0,74
bogen   0,73
fries       0,72
hell        0,72
klassik   0,72
mann    0,72
mauer  0,72
schwarz 0,72
wand    0,72
ansicht 0,71
eingang               0,71
haus      0,71
renaissance  0,71
rom       0,71
stein      0,71
tor          0,71
braun    0,7

Aufgrund der auffällig größeren Anzahl von höheren Korrelationen bei einer kleineren Anzahl von Daten scheint der Expressionismus für Spieler im Vergleich zum Klassizismus besser erkennbar, bzw. charakteristischer. Das würde ich zumindest so deuten. Was meinen Sie? Was fällt Ihnen auf?

Insgesamt ist der Ansatz, den ich hier vorstelle, diskussionsbedürftig. Über Hinweise und Anregungen freue ich mich.

Expressionismus.pdf

Klassizismus.pdf

 

 

Quelle: http://games.hypotheses.org/1146

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Hinweis: Völkerschlacht cross-medial

In dieser Woche gab es zahlreiche Hinweise auf ein Cross-Media-Projekt des MDR zum 200. Jahrestag der “Völkerschlacht bei Leipzig” (16.-19. Oktober 1813). Vier Tage lang soll die Geschichte der Schlacht in Form einer Live-Berichterstattung in Fernsehen, Radio, Socialmedia-Kanälen, Blogs und einem eigenen Nachrichtenportal auf der Homepage des MDR journalistisch aufbereitet werden. Daran beteiligt sind zahlreiche bekannte ARD-Mitarbeiter: u.a. Ingo Zamperoni, Anja Kohl, Rolf Seelmann-Eggebert.

http://www.mdr.de/mdr-info/Voelkerschlacht-Serie-Juli112.html

 

Quelle: http://zwopktnull.hypotheses.org/68

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Expertendämmerung

Neulich früh stand das Politische Feuilleton im Deutschlandradio Kultur unter der Überschrift „Warum die Gesellschaft heute ohne Vorbilder auszukommen scheint“. Der Beitrag war interessant, wenngleich man dem trauernden Unterton („früher war alles besser“) nicht unbedingt gern folgt und wenngleich ich an der implizit diagnostizierten demokratiegefährdenden Wirkung einer allgemein sinkenden Vorbildaffinität zweifle.

„Vorbild“ und „Experte“ liegen nahe beieinander. Eine Gesellschaft, die sich nicht auf gemeinsame Vorbilder einigt und diese nicht durch gemeinschaftliche Aufmerksamkeit pflegt und erhält, entzieht auch der „Expertenmeinung“ das Vertrauen: Unsere Gesellschaft lasse „keine Überlebensgröße mehr zu“, hieß es im Radio. Ausdrücklich schreibe ich dies beobachtend und bar jeder Wertung, was vielleicht per se bereits wieder symptomatisch ist, ist doch das mosaikhafte Nebeneinanderstellen unterschiedlicher fragmenthafter Sichtweisen Basis und Kennzeichen der Entwicklung.

Jetzt kommt, aufgepasst, der Dreh zum RKB-Blog. Während der RKB-Konferenz sprach Gudrun Gersmann von der „Expertendämmerung“ im Zusammenhang mit dem (notwendigen) Wandel des Rezensionssystems. Christian Gries schrieb im Tagungsbericht: „Vor der These von Blogs und Tweets als aufmerksamkeitsgenerierenden Instrumenten konstatierte sie einen Expertenschwund und stellte die Frage, ob der traditionelle “Experte” überhaupt noch eine Figur der Zukunft sei“. Fragmentisierung als Tendenz der Zeit und Schlüsselwort der Zukunft? Vielleicht ja, ob man sie nun als Ausdruck wachsender Demokratisierung oder steigenden Selbstbewusstseins des Einzelnen deuten möchte, denn immerhin bleibt die Deutungs- bzw. Wertungshoheit in der Mosaiklandschaft ganz bewusst dem Einzelnen überlassen, oder zumindest den spezifischen Communities, in die der Einzelne sich notwendigerweise einbindet, weil er allein der Daten- und Meinungsmasse hilflos gegenüberstehen würde (s.u. zum Filter). Die Fragmentisierung bringt  „die Crowd“ als Phänomen – oder Phantom – untrennbar mit.

Das wachsende Selbstbewusstsein, mit dem das Individuum diesen Prozess bereichert (durch das Zutun seines eigenen Meinungsmosaiksteins) und abschließt (durch die Wertung vorhandener Fragmente) lässt gar keine Alternative zur sinkenden Wertigkeit von Vorbildern und Experten. Der (wissenschaftliche) Experte wird häufig aufgrund seiner Laufbahn oder seines Titels als solcher betrachtet – oder, um erneut die Brücke zum Rezensionswesen zu schlagen: Ihm wird die Rundumbeurteilung eines Buchs zugetraut, dessen Einzelaspekte möglicherweise besser und objektiver von mehreren oder vielen (fragmenthaft) Kommentierenden eingeschätzt werden könnten, wobei deren jeweilige Position und die Quelle ihrer Kompetenz immer weniger wichtiger wird, je kleinteiliger sich der Prozess darstellt. Vielleicht.

Dazu erschien neulich ein höchst lesenswertes Interview in der SZ (Feuilleton, 16. Juli 2013) mit David Weinberger, dessen Überschrift und Untertitel schon viel verraten: „Wer mit Ausbildung argumentiert, macht sich lächerlich. (…) Alternativen zum klassischen Expertentum“. Der Wandel funktioniert eben nur dann, wenn man unbegrenztem Platz und unbegrenzter Meinungsäußerung – im Sinne eines unendlich großen Mosaiks – mit einer Filter- und „Empfehlungskultur“ begegnet, wie Weinberger sagt. Dem Interviewer, der seine gerade im deutschsprachigen Raum so weit verbreiteten Sorge nur schlecht überspielt, diese Umbrüche bedeuteten den Untergang des Abendlands, hält er schlagfertig entgegen: „Sie müssen ein ziemlich einsames Leben da im Internet führen“.

Das alles wirkt, als sei die Entwicklung als ein Demokratiegewinn zu verstehen. Orientierung am Inhalt statt an Meriten und Machtinsignien.

Gibt es gute Gründe, um Sieglinde Geisel, der Autorin des eingangs benannten Politischen Feuilletons, in ihrer Meinung zu folgen, dass der Verlust von Vorbildern tendenziell demokratiegefährdend sei? Stifte(te)n Vorbilder, die wir derzeit reihenweise stürzen und verblassen sehen, tatsächlich Gemeinschaft durch ihre „Gravitationskraft“ – die in der Netzkultur kein Äquivalent findet? Wenn ja: Ist der Verlust von Experten analog auch wissenschaftsgefährdend? Verliert eine wissenschaftliche Diskussion an Wert, wenn sie – positiv formuliert – „auf Augenhöhe“ stattfindet? Das Netz stellt die Augenhöhe per Anonymität her. Erstaunlich, wie hoch der Reputationsunterschied beider Begriffe ist.

Quelle: http://rkb.hypotheses.org/554

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Geplante Sprachen

Im Unterschied zu natürlichen Sprachen, die sich irgendwann im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt haben1, werden Plansprachen (auch konstruierte Sprachen genannt) von einzelnen Menschen oder Gruppen entworfen. Der Entwurf solcher Plansprachen kann auf unterschiedliche Beweggründe zurückgeführt werden; der bekannteste ist wohl die Erleichterung der Kommunikation über die Grenzen natürlicher Sprachen hinweg durch die Erschaffung einer künstlichen Lingua Franca. Esperanto - 1887 vom polnischen Augenarzt und Philologen Ludwig Zamenhof vorgestellt – dürfte wohl jeder Leserin bzw. jedem Leser ein Begriff sein. Es ist allerdings nur einer von mehreren Ansätzen, eine künstliche Sprache zu schaffen, die als Kommunikationsmittel für die gesamte Weltgemeinschaft dienen könnte.

Das Vokabular des Esperanto besteht zum großen Teil aus Entlehnungen aus romanischen Sprachen, ein Teil lässt sich aber auch auf germanische und slawische Ursprünge zurückführen. Zur leichten Erlernbarkeit setze Zamenhof auf strenge Regularitäten, z.B. eine phonematische Schriftweise (jedem Laut wird genau ein Schriftzeichen zugeordnet bzw. linguistisch korrekt: jedem Phonem entspricht genau ein Graphem); die Wortbildung ist an agglutinierende Sprachen (z.B. Türkisch) angelehnt, wo Sinneinheiten (linguistisch: sprachlichen Konzepten) eindeutige Wortbestandteile (linguistisch: Morpheme) zugeordnet sind. So ist ein Wort, das auf -o endet, immer ein Substantiv, eins auf -a immer ein Adjektiv. Durch Anhängen von -j kann man den Plural bilden, durch Vorsetzen von mal- verneinen:

  • la bela Blogo – der schöne Blog
  • la malbenaj Blogoj – die nicht schönen Blogs

Zamenhof bediente sich also des Vokabulars verschiedener natürlicher Sprachen und versuchte, die Grammatik weitestgehend zu systematisieren. Solche artifiziellen Sprachkonstrukte, die sich an natürlichsprachlichen Vorbildern orientieren, nennt man auch Plansprachen a posteriori. Sie werden unterschieden2 von Plansprachen a priori, die sich in erster Linie an anderen Konzepten (z.B. Logik, Kategorienlehre) anlehnen.

Solche a-priori-Plansprachen können u.a. philosophisch inspiriert sein, wenn z.B. die natürliche Ordnung der Dinge in der Sprache widergespiegelt werden soll. Einen solchen Ordungsversuch unternimmt etwa der anglikanische Geistliche und Naturphilosoph John Wilkins, niedergelegt in seinem “Essay towards a Real Character and a Philosophical Language” von 1668.3 Dafür musste er zunächst grundlegende Begriffsvorstellungen klassifizieren. Für diese klassifizierten Grundideen entwickelt er eine Begriffsschrift, bei der Grundkonzepte aus wenigen Linien bestehen, Untergattungen dann jeweils noch weitere Striche hinzufügen. Daraus resultiert, dass ähnliche Konzepten (die aus den gleichen Obergattungen abgeleitet sind) ähnliche Schriftzeichen zugeordnet werden. In der Übersetzung des Vater unser (Abbildung unten) ist zu sehen, dass sich “Earth” (Zeichen 22) von “Heaven” (24) nur durch einen zusätzlichen Querstrich rechts am Zeichen unterscheidet. Beide sind aus dem Zeichen für “World”, das ähnlich wie ein Additionszeichen (+) aussieht, abgeleitet. “Power” (71) und “Glory” (74) sind, nach ihren Zeichenkörpern zu urteilen, ebenfalls verwandte Konzepte für Wilkins, wie auch (etwas etwas weiter voneinander entfernt) “trespass” (50) und “evil” (65).

Das "Vater unser" in der Darstellung mit Wilkins Real Characters

Eine grundlegende Eigenschaft natürlichsprachlicher Zeichen ist die willkürliche (arbiträre) Zuordnung von Bezeichnendem (oder Zeichenkörper, Ausdruck, Signifiant) zu Bezeichnetem (oder dahinterstehendem Konzept, Inhalt, Signifié). Wilkins scheint daran gelegen zu haben, diese Willkür weitestgehend aufzuheben bzw. stringenter zu systematisieren, hin zu einem Isomorphismus zwischen Ausdruck und Inhalt. Das Resultat sollte eine nahezu perfekte Sprache sein, durch die Wahrheiten ausgedrückt oder sogar berechnet werden könnten, die sich in natürlichen Sprachen nicht ausdrücken bzw. automatisch berechnen lassen.

Mir ist nicht bekannt, ob jemals wer in der von Wilkins entworfenen Universalsprache tatsächlich korrespondiert hat – für die Zeichen waren keine verbalen Entsprechungen vorgesehen, ein mündlicher Austausch war daher ohnehin ausgeschlossen. Die Aufhebung der arbiträren Zuordnung zwischen Signifiant und Signifié dürfte allerdings im alltäglichen Gebrauch Probleme bereiten: Sprachsignale werden nie perfekt übertragen, auch in der schriftlichen Kommunikation kann es zu Schreibfehlern, Undeutlichkeiten, Verschmutzungen etc. kommen. In einer Sprache, wo ähnliche Signifiants völlig unterschiedlichen Signifiés zugeordnet sind (wie in natürlichen Sprachen), dürfte eine Disambiguierung (linguistisch für die Auflösung von Mehrdeutigkeiten) über den Kontext sehr viel erfolgreicher verlaufen, als in Sprachen, in denen ähnliche Zeichen auch ähnliches bedeuten (wie in Wilkins Sprachkonstrukt).

Der Universalsprachentwurf nach Wilkins hatte mit noch mehr Problemen zu kämpfen, insbesondere stellte die Klassifikation aller denkbaren (und damit potentiell in der Sprache zu verwendenden) Dinge Wilkins vor schwer bewältigbare Herausforderungen.4 Dennoch empfand ich die Beschäftigung mit ihr als lohnend, nicht zuletzt, weil viele der seltsamen Eigenschaften des Textes meines Lieblingsforschungsobjektes (dem Voynich Manuskript) durch einen ähnlichen Sprachentwurf erklärt werden könnten. Diese Idee hatte bereits einer der angesehensten Kryptoanalytiker des 20. Jahrhunderts, der Amerikaner William F. Friedman.5  Problematisch an dieser Hypothese war nur, dass das Voynich Manuskript mit einiger Sicherheit schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Prag kursierte, die ersten Plansprachen a priori aber scheinbar erst über ein halbes Jahrhundert später entworfen wurden (George Dalgarno 1661 und eben Wilkins 1668). Vor kurzem konnte aber gezeigt werden, dass bereits zum Anfang des 16. Jahrhunderts Methoden niedergelegt wurden, deren Anwendung etwas erzeugt, das den Eindruck erwecken kann, ein Text eines Universalsprachentwurfs zu sein, in Wirklichkeit aber ein Chiffrentext ist. Aber dazu hab ich ja schon mal was geschrieben.

So, von den zwei Versprechen, die ich im letzten Post gab, habe ich jetzt das erste eingelöst und damit das andere auch ein wenig wegprokrastiniert. Aber auch da geht es voran. Gut Ding will Weile haben…

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1 Niemand weiß so genau, zu welchem Zeitpunkt der Mensch anfing, seine Sprache, die sich wahrscheinlich grundlegend von Tierkommunikationssystemen unterscheidet (ich schrieb darüber), auszubilden. Ist vielleicht mal einen eigenen Post wert.

2 Diese Unterscheidung wurde schon 1903 in der Histoire de la langue universelle von Couturat und Leau vorgenommen.

3 Leider habe ich online keine vollständige Ausgabe gefunden – vielleicht hat ja jemand mehr Glück und schickt mir den Link, dann kann ich ihn einbauen. Müsste sich aber wohl um Bilder handeln – da im Original sehr viele Stammbäume abgedruckt sind, düften automatische OCR-Scans Probleme haben.

4 Der Versuch der Sammlung und Kategorisierung aller Konzepte durch Wilkins und seine Mitstreiter, die er in der Royal Society gewann/zwangsverpflichtete, wird sehr anschaulich im Roman Quicksilver, dem ersten Teil des Baroque Cycle von Neal Stephenson beschrieben.

5 Den Gepflogenheiten eines Kryptologen entsprechend hinterließ Friedman seine Vermutung in einem in einer Fußnote verstecktem Anagramm, das viel zu lang war, als dass man es hätte lösen können: “I put no trust in anagrammic acrostic cyphers, for they are of little real value – a waste – and may prove nothing -finis.” Nach seinem Tod war Elizebeth Friedman, seine Witwe und ebenso eine bekannte Kryptoanalytikerin, so gut, die Welt aufzuklären: “The Voynich MSS was an early attempt to construct an artificial or universal language of the a priori type. – Friedman.”

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/968

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