Günther Heydemann: Das Jahrhundert der Diktaturen in Deutschland im Widerstreit von Bewältigung und Nicht-Bewältigung

Die heutige Erinnerungskultur der Bundesrepublik hat sich nach fast einem Vierteljahrhundert Wiedervereinigung „in einem komplizierten, zweigeteilten Prozess seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet, wobei die Entwicklungen in Bundesrepublik und
DDR in verschiedenen Phasen verliefen“ (Bernd Faulenbach).[1]
In diesem Komplex ist zwischen sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern und Akteuren zu unterscheiden, „nämlich erstens eine politisch-justizielle Aufarbeitung und eine daraus abgeleitete Ebene der Norm- und Gesetzgebung bzw. des politisch-administrativen Umgangs mit den Folgen der NS-Herrschaft, zweitens eine politisch-moralische, künstlerische und kulturelle Auseinandersetzung sowie drittens die wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ (Hans-Ulrich Thamer).[2] Alle drei Ebenen hängen jeweils miteinander zusammen und bedingen einander.

1. Was die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Diktatur angeht, so begann die erste Phase unmittelbar nach Kriegsende in den westlichen Besatzungszonen bekanntlich mit dem Versuch einer umfassenden Entnazifizierung der Bevölkerung[3], sowie mit Prozessen gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg einschließlich der dortigen Nachfolgeprozesse gegen schwer belastete Nazis oder Helfershelfer und Sympathisanten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie traf allerdings auf eine Bevölkerung, die sich in den denkbar schlimmsten sozioökonomischen Umständen befand und mehrheitlich ums nackte Überleben kämpfte. Die im Grunde einzig richtige justizielle Vorgehensweise der Einzelfallüberprüfung, vorbildhaft von den Amerikanern begonnen, scheiterte allerdings bald an der schieren Masse der zu bearbeitenden Fälle. Sie schlug aber auch deshalb mittelfristig fehl, weil sich NS-Belastete gegenseitig deckten, dadurch oft nur den Status von Mitläufern erhielten und auf diese Weise einer härteren Bestrafung entgingen, Stichwort „Mitläufer-Fabrik“ (Lutz Niethammer). Einmal durch die Mühen und Mühlen der Entnazifizierung gegangen, wurden die Hauptangeklagten der Nürnberger Prozesse bald als die allein Verantwortlichen für die Verbrechen der Nationalsozialisten stigmatisiert, wohingegen „die vielfachen Verstrickungen und das Mitläufertum“[4] der breiten Mehrheit von Deutschen verdrängt oder vergessen wurden.

2. Mit dem Auslaufen der Entnazifizierung und der Nürnberger Prozesse Anfang der 1950er Jahre setzte eine zweite Phase ein. Sie vollzog sich parallel zur Entstehung der bundesdeutschen Demokratie vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Ablehnung und Verurteilung der NS-Diktatur durch die Gründer der zweiten deutschen Demokratie, die einerseits von echter Überzeugung getragen war, andererseits aber auch eine unabdingbare conditio sine qua non für die Westintegration der sicherheitspolitisch gefährdeten jungen Bundesrepublik darstellte. Doch schon an der Wiedergutmachung der jüdischen Opfer, verbunden mit einer Globalentschädigung für Israel und der Jewish Claims Conference durch das Luxemburger Abkommen vom September 1952 erwies sich, dass die unerlässliche Notwendigkeit dieser finanziellen Entschädigungen in der westdeutschen Gesellschaft hoch umstritten war und mehrheitlich abgelehnt wurde.
Denn nicht selten kehrten sich die damit verbundenen Einstellungen bei einer Mehrheit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sogar ins Gegenteil um, als in der Debatte um den Lastenausgleich von Flüchtlingen und Vertriebenen, Luftkriegsgeschädigten und Invaliden die deutschen Opfer in den Vordergrund geschoben wurden. In beträchtlichen Teilen der Bevölkerung wurde auf diese Weise mental eine Opferhierarchie konstruiert, in der nicht die Vernichtung der jüdischen Opfer, der Sinti und Roma und vieler anderer mehr, sondern das eigene Opfer an die Spitze gesetzt wurde. Obwohl die klare Absage an den Nationalsozialismus gleichsam Staatsdoktrin der zweiten deutschen Demokratie geworden war, lief zum vorherrschenden Verschweigen und Verdrängen des Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik ein gesamtgesellschaftlicher Integrationsprozess parallel, durch den Millionen an die junge Demokratie gebunden wurden. Hierzu trug u. a. Art. 131 GG bei, der auch früheren NS-Belasteten den Weg in staatliche und kommunale Stellen öffnete. Dass das nicht selten höchst problematisch war, zeigen die Fälle Globke und Oberländer.
Zum mehrheitlichen gesellschaftlichen Verschweigen gehörte auch die meist in Ansätzen stecken bleibende justizielle Aufdeckung und Verurteilung von NS-Verbrechern bzw. Verbrechen, die während des Krieges verübt worden waren.

3. Eine dritte Phase setzte Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre ein und führte erstmals zu einer breiteren, allerdings noch nicht umfassenden Sensibilisierung der bundesdeutschen Gesellschaft hinsichtlich der ja weiterhin virulenten NS-Problematik, hervorgerufen durch den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 und die daraufhin im gleichen Jahr gegründete Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, besonders aber durch den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem sowie den Frankfurter Auschwitz-Prozess in den Jahren 1963-65. Erstmals wurden die Menschheitsverbrechen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik bis ins Detail hinein dokumentiert und publiziert. Und zugleich wurden die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt), das bürokratische Procedere und die logistisch-technische Seite millionenfachen Mordes im Rahmen von Befehl und Gehorsam unmißverständlich transparent. Auch wenn das Beschweigen der nationalsozialistischen Jahrhundertverbrechen in Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft weiter virulent blieb, vertuschen oder verharmlosen ließ sich die Monströsität des Holocaust fortan nicht mehr.
Vor dem Hintergrund eines sich vor allem bei Intellektuellen und Studenten markant wandelnden politischen Bewusstseins, Lebens- und Werteverständnisses setzte Ende der 1960er Jahre eine Debatte ein, in welcher die Dimensionen der nationalsozialistischen Verbrechen und die jeweilige kollektive und individuelle Verflochtenheit der deutschen Gesellschaft in den Jahren 1933 bis 1945 mit diesen zunehmend auch in Teile der westdeutschen Gesellschaft eindrang, die sich bislang sprachlos und/oder apolitisch verhalten hatte. Diese Diskussion begann allmählich das in Millionen von deutschen Familien noch immer praktizierte Verschweigen der braunen Vergangenheit aufzulösen.

4. Eine vierte Phase, die man inzwischen als Weg von der „Tribunalisierung zur Historisierung“ des Nationalsozialismus bezeichnet, führte schließlich zum Durchbruch einer nun in nahezu allen Gesellschaftsschichten angekommenen Thematisierung der NS-Diktatur. Hierzu hat der Fernsehfilm „Holocaust“ in ganz entscheidendem Maße beigetragen, der im Jahre 1979 gezeigt wurde und für alle Zuschauer das Leben, Leiden und Sterben von Menschen in Auschwitz erlebbar und dadurch zugleich nachvollziehbar machte. Die Empathie mit den Opfern bereitete den Boden für eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung und führte damit zu einer Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die seither kaum mehr nachgelassen hat, auch deshalb nicht, weil wissenschaftliche Kontroversen um den Nationalsozialismus ebenso wie gesamtgesellschaftliche Debatten darüber diese Vergegenwärtigung immer wieder neu entfachten. So u. a. der Fall Filbinger im Jahre 1978 oder die richtungweisende Rede Bundespräsident Richard von Weizsäckers im Jahre 1985 – die NS-Diktatur und ihre Verbrechen blieben fortan ein Dauerthema der öffentlichen Debatte. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur der „Historikerstreit“ in den Jahren 1986/87, die hoch emotional geführten Auseinandersetzungen um die „Wehrmachtsausstellungen“ zwischen 1995 und 1999 sowie Daniel Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, 1996 in deutscher Fassung erschienen.

5. Eine fünfte Phase, die sicherlich die komplizierteste ist und bis heute andauert, setzte mit der Wiedervereinigung ein, als sich durch den Zusammenbruch der SED-Diktatur die Frage nach dem Wesen kommunistischer und faschistischer Diktaturen neu stellte. Von großem Gewicht war dabei in diesem Zusammenhang, dass mit dem Ende der DDR auch ein häufig gegensätzliches oder stark abweichendes Verständnis der NS-Diktatur bei der ostdeutschen Bevölkerung zum Vorschein kam, das in geschichtspolitischer Hinsicht Berücksichtigung finden musste.
So konnte die Aufarbeitung der Geschichte der zweiten deutschen Diktatur im nunmehr vereinten Deutschland nicht an der besonderen politisch-ideologischen Behandlung der NS-Diktatur durch die KPD/SED vorüber gehen, zumal die DDR sowohl ihren Legitimationsanspruch daraus abgeleitet, als auch mit einer ganz spezifischen Interpretation des Nationalsozialismus versucht hatte, die eigene Bevölkerung über vier Jahrzehnte lang zu indoktrinieren – durchaus mit einigen mentalen Langzeitwirkungen vor allem bei der älteren Generation. Mit dem Ideologem „Antifaschismus“ sollte innen- wie außenpolitisch die unangreifbare Existenzberechtigung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden legitimiert und abgesichert werden. Da der Begriff Nationalsozialismus schon aus Gründen der Kombination der in ihm enthaltenen Substantive für die SED inakzeptabel war, wurde stattdessen durchweg der Begriff Faschismus verwendet, wodurch wiederum der Begriff universalisiert wurde. Die bekannte Dimitroff-Formel vom „Faschismus als offener terroristischer Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Faschismus des Finanzkapitals“[5] führte darüber hinaus zu einer vornehmlich ökonomistischen Interpretation und trug dadurch zu einer weitreichenden Verkennung der wesentlichen Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus, einschließlich seiner barbarischen Folgen, bei. Die beabsichtigte Folge war, dass „der Faschismus weniger mit der deutschen Geschichte als mit der politischen Geschichte des Kapitalismus zu tun hatte“, wie Herfried Münkler einmal treffend festgestellt hat.[6] Indem die Kommunisten gleichzeitig für sich in Anspruch nahmen, die einzigen gewesen zu sein, die Widerstand gegen die NS-Diktatur geleistet hätten, legitimierten sie sich gleichsam selbst und leiteten daraus auch die Führungsrolle in Staat und Partei ab. Damit nicht genug, wurde angesichts des Weiterbestehens einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik insinuiert, dort lebe gleichsam der Faschismus in Gestalt unverbesserlicher, kriegslüsterner Imperialisten und Militaristen weiter. Auf diese Weise wohnte dem Antifaschismus-Ideologem als Gründungsmythos und Staatsdoktrin der DDR sowohl eine exkulpierende und dadurch zugleich integrierende Funktion (gegenüber der eigenen Bevölkerung) als auch eine exkludierende und depravierende Funktion (gegenüber der Bundesrepublik) inne.

6. Trotz dieser massiven Indoktrination ist das spezifische Erinnerungsverständnis ehemaliger Einwohner der DDR an den SED-Staat allerdings keineswegs homogen, wie die Forschung inzwischen nachgewiesen hat. So ist bei einer Minderheit ein sog. „Diktaturgedächtnis“ anzutreffen, das einerseits auf den diktatorialen Herrschaftscharakter des SED-Regimes und seiner Repressionsorgane und –praktiken fokussiert ist, andererseits auf dessen demokratische Überwindung durch die Friedliche Revolution von 1989/90.[7]
Eine zweite, unter früheren DDR-Bürgern mehrheitlich verbreitete Erinnerung stellt demgegenüber das als „Arrangementgedächtnis“ apostrophierte Erinnern an den früheren SED-Staat dar.[8] Hier steht das persönliche Leben und Erleben im Gehäuse des sozialistischen Obrigkeitsstaates, jene Mischung aus erzwungenem, kollektiven Mitmachen und individueller Selbstbehauptung in der Bandbreite zwischen Lippenbekenntnis und opportunistischem Verhalten bis hin zu geforderter oder sogar überzeugter Unterstützung im Vordergrund. Diese Erinnerung stellt auf der einen Seite das ganz persönliche Erleben, nicht selten den damit verbundenen Eskapismus in den Vordergrund, auf der anderen Seite werden die damaligen politisch-ideologischen Zumutungen und der subkutan existente und effiziente Zwangscharakter des Regimes relativiert oder manchmal sogar ausgeblendet.
Schließlich das sog. „Fortschrittsgedächtnis“, besser als „Festhalten an der sozialistischen Utopie“ bezeichnet. Es weist, meist von älteren DDR-Bürgern vertreten, die noch zur Aufbaugeneration gehören, dem SED-Staat nach wie vor einen eher positiven Charakter zu, getragen von der bis heute verinnerlichten Überzeugung, dass Sozialismus grundsätzlich noch immer die beste Staats- und Gesellschaftsform darstelle, auch und obwohl der Sozialismus im Gewande der DDR gescheitert ist.[9]

7. Auf diesem geschichtspolitisch und erinnerungskulturell heterogenen Trümmerfeld mit unterschiedlichen Reminiszenzen an die NS-Diktatur und an den jeweiligen deutschen Staat, in dem man gelebt hat, bewegt sich die heutige politische, öffentliche und wissenschaftliche Diskussion. Sie spitzte sich besonders in der Problematik doppelter Gedenkstätten zu, die gerade in den neuen Bundesländern existent sind, etwa in der räumlichen Koinzidenz von nationalsozialistischen Konzentrationslagern und sowjetischen Speziallagern (Buchenwald/Sachsenhausen) während der Jahre 1945 bis 1952.

Insgesamt hat sich erwiesen, dass die Hinterlassenschaft zweier totalitärer Diktaturen in Deutschland zu einer jahrzehntelangen, oft skrupulösen und notwendigerweise auch selbstquälerischen Debatte geführt hat. Sie blieb, auch und gerade nach der Wiedervereinigung „geschichtspolitisch umkämpft, erinnerungskulturell fragmentiert und erfahrungsgeschichtlich geteilt“, wie dies Edgar Wolfrum einmal prägnant zusammengefasst hat.[10]

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Prof. Dr. Günther Heydemann ist seit 2009 Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden. Außerdem ist er seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten des Diktaturenvergleichs (NS-, SED-Regime), der vergleichenden europäischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert sowie auf Transformationsprozessen in den neuen Bundesländern.

 

[1] Ders., Diktaturerfahrungen und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland, in: Annette Kaminsky (Hg.),Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Bonn 2004, S. 18-30; 20.

[2] Vgl. Ders., Die westdeutsche Erinnerung an die NS-Diktatur in der Nachkriegszeit, in: Peter März/Hans-Joachim Veen (Hg.), Woran erinnern ? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, (=Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, Bd. 8), Köln u. a. 2006, S. 51-70; 56. Dort auch die weitere, diesbezügliche Forschungsliteratur.

[3] Das Standartwerk hierzu stammt nach wie vor von Clemens Vollnhals (Hg.), Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991. Hierzu jüngst auch Horst Möller, Unser letzter Stolz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.6.2012, S. 8.

[4] Vollnhals, ebd., S. 59.

[5] Vgl. Günther Heydemann, Die antifaschistische Erinnerung in der DDR, in: ebd., S. 71-89; 75.

[6] Ders., Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR. Abgrenzungsinstrument nach Westen und Herrschaftsmittel nach innen: Manfred Agethen/Eckhard Jesse/Ehrhart Neubert (Hg.), Der missbrauchte Antifaschismus. DDR-Staatsdoktrin und Lebenslüge der deutschen Linken, Freiburg i. Br. 2002, S. 79-99; 84.

[7] Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: Ders., (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 18.

[8] Ebd., S. 19.

[9] Ebd.

[10] Ders., Das Erbe zweier Diktaturen und die politische Kultur des gegenwärtigen Deutschland im europäischen Kontext, in: Steffen Sigmund u. a. (Hg.), Soziale Konstellationen und historische Perspektive. FS für Rainer M. Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 310.

Quelle: http://gid.hypotheses.org/130

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Ute Daniel: Ganove und Gendarm zugleich


Die professionelle Geschichtswissenschaft ist immer beides zugleich: Ganove und Gendarm. Sie ist, blickt man in der Geschichte zurück, oft daran beteiligt, die Vergangenheit im Dienste der jeweiligen Gegenwart (oder des jeweiligen politischen Systems) umzudeuten. Und ebenso oft ist sie eifrig damit beschäftigt, die Indienstnahme der Vergangenheit durch die Gegenwart herauszuarbeiten und zu kritisieren. Beides gleichzeitig ist möglich, weil auch die Wahrung professioneller Standards nicht verhindern kann, der Geschichte einen gewünschten Sinn zu unterlegen: Politisierte Geschichtsschreibung (mit einer starken Interpretation) ist eben nicht notwendigerweise schlechte (oder unwissenschaftliche) Geschichtsschreibung. Ganz im Gegenteil, würde ich sagen: Wer sich einzig darauf konzentriert, alle wissenschaftlichen Standards zu beachten und möglichst viele Fußnoten zu machen, erzeugt mit ziemlicher Sicherheit eines – nämlich langweilige Geschichtsschreibung. Und damit überlässt man das Feld der Deutungen denjenigen, die weniger Skrupel und mehr manipulative Ziele haben. Außerdem verschließt man durch Verlangweiligung den unendlich bereichernden Erfahrungsschatz, den die Vergangenheit bietet, für alle, die keine professionellen Historiker sind. Und das ist in gewissem Sinne auch politisch. Geschichtsschreibung ist also immer politisch – und das ist gut so.
Aber nicht nur die professionelle Geschichtsschreibung ist immer politisch. Das ist auch jede gedeutete Vergangenheit (und anders als eine gedeutete ist Vergangenheit nicht verfügbar). Wenn beispielsweise das Dritte Reich damit erklärt wird, dass die Nationalsozialisten vor und nach 1933 propagandistisch und medial so erfolgreich waren, dann geschieht dreierlei: Erstens werden die damaligen Wähler und Unterstützer der NSDAP entmenschlicht, indem sie zu manipulierten, irrationalen Wesen degradiert werden. Zweitens wird der Einfluss unterschlagen, den damals diejenigen Kreise hatten, die die Nationalsozialisten weder gewählt noch gemocht haben, sie aber Januar 1933 ans Ruder brachten. Drittens wird implizit so eine Linie von damals Richtung heute gezogen, die uns Heutigen über die Menschen von damals erhebt: Wir sehen im Vergleich zu unseren Vorgängern so viel reifer, so viel klüger aus! Das ist vielleicht die schlimmste Folge einer Geschichtsschreibung, die die Erfahrungen und Deutungsweisen früherer Menschen nicht ernst genug nimmt: dass sie uns gefährlich selbstgerecht macht…

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Prof. Dr. Ute Daniel ist Professorin für die Geschichte des 19./20. Jahrhunderts und der Frühen Neuzeit an der Technischen Universität Braunschweig. Ihre Forschungsinteressen liegen auf der europäischen Kultur- und Sozialgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts und auf Theoriefragen der Kulturgeschichtsschreibung, zu denen sie 2001 das „Kompendium Kulturgeschichte“ vorgelegt hat. Sie ist seit 2006 Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Quelle: http://gid.hypotheses.org/121

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Was war die Provisorische Zentralgewalt und warum sollten ihre Akten ediert werden?

Protokoll der 180. Sitzung des Gesamtreichsministeriums
Von Revolutionen bleibt meist dasjenige in Erinnerung, was sich am sichtbarsten aus dem politischen Alltag abhebt: Straßenkämpfe und Barrikaden. So verhält es sich auch mit den Revolutionen von 1848/49 im heutigen kollektiven Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit. Dass die Revolution schließlich zur Wahl einer Nationalversammlung führte, blieb auch noch im Bewusstsein. Anders verhält es sich hingegen mit der Einsetzung einer provisorischen Regierung für das noch nicht als Einheit existierende Reich. Eine Erinnerung an die erste parlamentarische, wenn auch provisorische Zentralgewalt für ganz Deutschland ist kaum vorhanden. Wem ist heute noch bekannt, dass ein österreichischer Erzherzog für rund eineinhalb Jahre als so genannter „Reichsverweser“ dieser Provisorischen Zentralgewalt vorstand und somit als erstes von einem Parlament gewähltes Regierungsoberhaupt über Deutschland fungierte?

Die Provisorische Zentralgewalt war die Exekutive der deutschen verfassunggebenden Nationalversammlung in der Revolution. Mit ihrer Gründung im Juni 1848 hat die im Frankfurter Parlament bereits institutionalisierte Revolutionsbewegung besonders gegenüber den staatlichen Gewalten in den Bundesstaaten ihren politischen Führungsanspruch mit Berufung auf die Volkssouveränität untermauert. Die Zentralgewalt bestand neben dem Reichsverweser Erzherzog Johann aus einem „Gesamt-Reichsministerium“ mit einem Ministerpräsidenten, Ressortministern und Unterstaatssekretären, hatte damit eine an das Vorbild der Ministerialregierungen der größeren deutschen Staaten angelehnte Form und versuchte auch ähnliche Aufgaben und Tätigkeiten wahrzunehmen. Insbesondere sorgte sie für die Publikation der von der Nationalversammlung beschlossenen „Reichsgesetze“ und versuchte deren Durchsetzung in den Einzelstaaten zu erreichen; beanspruchte die Führung gemeinsamer militärischer Operationen, namentlich im Krieg gegen Dänemark um den Status Schleswig-Holsteins; griff durch die Entsendung von „Reichskommissaren“ und fallweise auch den Einsatz von Truppen an den Schauplätzen revolutionärer Erhebungen ein; übernahm die Organisation der ersten deutschen Kriegsmarine, an deren Aufbau sich anfangs verbreitete nationale Begeisterung knüpfte; und versuchte zwischen Nationalversammlung und einzelstaatlichen Regierungen in der Frage der Annahme der von der Ersteren beschlossenen Verfassung zu vermitteln. Allerdings stieß sie wegen ihrer fehlenden beziehungsweise erst im Aufbau befindlichen Ministerialverwaltung, ihrer begrenzten realen machtpolitischen Möglichkeiten gegenüber den entscheidenden Mächten Preußen und Österreich sowie der ausbleibenden diplomatischen Anerkennung durch die außerdeutschen Staaten immer wieder an Grenzen ihrer Wirksamkeit. Nach der sukzessiven Auflösung der Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1849 bestand die Provisorische Zentralgewalt noch bis zum Jahresende fort und spielte trotz ihrer beschränkten Mittel eine mitentscheidende Rolle im Machtkampf zwischen Preußen, Österreich und den deutschen Mittelstaaten um die künftige Ausgestaltung des deutschen Nationalstaats.

Sowohl die Kanzlei des Gesamtministeriums als auch die einzelnen Ressorts – auswärtige Angelegenheiten, Inneres, Justiz, Krieg, Finanzen, Handel und Marine – entwickelten rasch eine geordnete Aktenführung und richteten Registraturen ein. Die von ihnen angelegten Akten wurden nach Auflösung der Provisorischen Zentralgewalt im Dezember 1849 von deren Nachfolgerin, der Bundeszentralkommission, übernommen. In der Folge gelangten sie in das Archiv des Bundestags (des Entscheidungsgremiums des Deutschen Bundes) und wurden nach dessen Auflösung 1866 von der Stadtbibliothek Frankfurt am Main verwahrt, bis 1925 eine eigene Außenstelle Frankfurt des Reichsarchivs (später des Bundesarchivs) errichtet wurde. Als diese nach der Wiedervereinigung aufgelassen wurde, gelangten die Bestände zunächst in das Bundesarchiv Koblenz und 2010 schließlich in das Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. Der Bestand im Ausmaß von insgesamt etwa 25 Laufmetern Archivgut wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in aufwendigen Arbeiten nach dem ursprünglichen Registratursystem der Ministerien geordnet; er ist heute durch detaillierte Findbücher gut erschlossen und wurde vor einigen Jahren vollständig verfilmt.

Diese Quellenbestände sind von der Forschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in nennenswertem Umfang herangezogen worden, ihr Potential ist aber bei weitem nicht ausgeschöpft; insbesondere hat eine Edition der Ministerialprotokolle, wie sie für die Regierungen der größten deutschen Staaten seit längerem betrieben wird, bisher nicht stattgefunden. Die von unserem Projekt angestrebte Fondsedition wird nicht nur den Anteil einer bisher unterschätzten Kraft am Revolutionsgeschehen erhellen, sondern zugleich unter politikwissenschaftlicher Fragestellung Aufschluss über das Funktionieren der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland geben. Immerhin musste die Zentralgewalt aus dem Nichts heraus die Infrastruktur für ihr Regieren schaffen durch die Errichtung von Behörden, die Rekrutierung von Personal und die Sicherstellung der Finanzen – ein bisher kaum beachteter Umstand von besonderem verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichem Reiz.

Ziel unseres Unternehmens ist es, die Protokolle der insgesamt 185 Sitzungen des Gesamtministeriums, die einen „roten Faden“ zur Tätigkeit der Zentralgewalt liefern, vollständig im Wortlaut zu edieren; die umfangreichen Aktenbeilagen zu den Protokollen sowie ausgewählte weitere Aktenstücke aus den Registraturen der Ministerien sollen in Regestenform präsentiert werden. Da jedoch amtliches Schriftgut in der Regel nur teilweise den politischen Gehalt von Entscheidungen offenbart und selten Atmosphärisches spiegelt, sollen ergänzend auch die Publikationen und handschriftlichen Nachlässe der Mitglieder des Reichsministeriums ausgewertet werden. Die gesamte Edition wird durch detaillierte Register erschlossen. In Form eines (voraussichtlich mehrbändigen) Lesebuchs zur Organisation und Tätigkeit der Provisorischen Zentralgewalt sollen der Geschichtswissenschaft wertvolle Materialien vor allem im Hinblick auf die folgenden vier Fragenkomplexe leicht verfügbar gemacht werden:

1. Aufarbeitung von Einfluss und machtpolitischen Möglichkeiten der Provisorischen Zentralgewalt gegenüber der Nationalversammlung und den Regierungen der Bundesstaaten.

2. Erschließung der verfassungsgeschichtlichen Funktion und Praxis des im Juni 1848 errichteten Systems als Versuch einer Symbiose des parlamentarischen Regierens mit dem traditionellen Konstitutionalismus.

3. Eine institutionen- wie verwaltungsgeschichtliche Erforschung der politischen Probleme wie praktischen Herausforderungen des Aufbaus einer Regierung aus dem Nichts.

4. Ein mentalitäts- wie kulturgeschichtlicher Ansatz, um das Selbstverständnis der Mitglieder der ersten parlamentarischen Regierung in Deutschland, deren Motive, Formen der Entscheidungsfindung, Perzeption der Handlungsmöglichkeiten wie Außendarstellung offenzulegen.

Text von Karsten Ruppert und Thomas Stockinger

 

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/37

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Kulturelles Erbe online: Suchdienste und soziale Foren des Zentralamts für Denkmalpflege in Schweden

Ausgrabung bei Gödåker in Uppland, Schweden Flickr Commons, Swedish National Heritage Board Mal Hand aufs Herz: Was geht Ihnen bei dem Schlagwort “Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter” und dem Nachdenken über online verfügbare Quellen als erstes durch den Kopf? Haben Sie zuerst an digitalisierte Textquellen gedacht wie ich auch? Das tun vermutlich die meisten Historikerinnen und Historiker – wir sind nun mal durch Studium und die eigene Forschung oft dahingehend geprägt worden. “Als Historiker arbeitet man mit Textquellen.” So oder ähnlich monolithisch werden viele das mal als Aussage mal gehört haben. Ich erinnere mich an einen Kurs im Geschichtsstudium, der sich dezidiert dem Bild als historische Quelle (und eben nicht als reine Illustration!) widmete. Das heißt nicht, dass Historiker für Artefakte blind sind, aber es gilt nicht unbedingt als kanonisiertes Verhalten, sich als Historiker/in mit materiellen Hinterlassenschaften hauptamtlich zu beschäftigen… Könnte sich das dadurch ändern, dass es uns immer leichter gemacht wird, Bilder und zwar nicht nur digitalisierte Fotografien, sondern auch Abbildungen von dreidimensionalen Artefakten im Netz aufzufinden? Zunehmend werden auch historische Stätten, Denkmäler, Gebäude, Ausgrabungsfunde, aber auch in Museen verwahrte Objekte in Datenbanken eingespeist. Hier soll exemplarisch ein Blick auf einige solche Suchdienste in Schweden geworfen werden. Das Riksantikvarieämbetet (wörtlich übersetzt: Reichsantiquarenamt), das schwedische Zentralamt für Denkmalpflege also, ist gleich mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Suchdiensten und Foren im Netz präsent.  Aus der Vielzahl von Datenbanken sollen hier einige exemplarisch vorgestellt werden. Da ist zum einen die Bilddatenbank Kulturmiljöbild (das versteht man wohl auch ohne Übersetzung), die über 100.000 Aufnahmen von Gebäuden, archäologischen Fundstätten und Kulturlandschaften verzeichnet, die man frei herunterladen und unter Nutzung einer Creative Commons-Lizenz bzw. wenn das Urheberrecht abgelaufen ist, dennoch unter Nennung der Quelle verwenden darf. Die Nutzung ist allerdings nur zu privaten und nichtkommerziellen (non-profit) Zwecken erlaubt. Der Hinweis, es handele sich bei den am Bildschirm einzusehenden und herunterladbaren Fotos um Versionen in niedriger Auflösung, erwies sich nach einer Stichprobe als nicht ganz korrekt: Vor allem Fotos neueren Datums sind tatsächlich mit niedrigeren Auflösungen (96 dpi) vorhanden, aber gerade historische Aufnahmen wie das  hier eingebundene Bild (s.u.) sind hier mit 1100 dpi in druckfähigen Auflösungen vorhanden – nicht schlecht! Wo man es doch braucht, kann man für hochauflösende Versionen einen kostenpflichtigen Bestellservice nutzen und die Fotos als Abzüge oder in Dateiform erhalten.   “Mirakelspel”. Historienspiel in Gamla Uppsala, Schweden Aufnahme: Berit Wallenberg, 25.5.1931 (PD/gemeinfrei) Aus der Sammlung “Kulturmiljöbild”, Riksantikvarieämbetet Die Bildunterschrift enthält bereits sämtliche in die Datenbank eingepflegten Informationen, die – einigermaßen unbefriedigend, muss man sagen – spärlich sind. Welchen Anlass das Historienspiel hatte, wer die Akteure dieser Re-Enactment-Aktion waren, wie lange das Ganze dauerte etc. – das muss man auf anderen Wegen herausfinden. Eine Sammlung von 100 000 und bald wahrscheinlich noch mehr Bildern zu annotieren, wäre allerdings auch kaum leistbar. Die Suche kann als Volltextsuche, nach Objekten (über eine alphabetische Liste) und mit einer fortgeschrittenen Suchfunktion mit verschiedenen Filtern durchgeführt werden. Die Bildsammlung enthält nicht nur Fotografien vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute, sondern auch Postkarten, Zeichnungen und Druckerzeugnisse. Eine sehr umfangreiche Datenbank ist Fornsök, in der Informationen über 1,7 Millionen (!) archäologische Fundstätten an nahezu  600 000 Orten vorliegen. Man kann sich hier über alles Mögliche vom Runenstein über Felszeichnungen, Hinrichtungsstätten, Schiffswracks und Grabstätten informieren. Beispiel für eine Fornsök-Objektmaske Eine Eingabe im Suchfenster führt zu einer Karte, auf der die für den jeweiligen Ort oder die gewählte Region in der Datenbank aufgeführten Fundorte eingezeichnet und anklickbar sind. Ausführliche Informationen zum jeweiligen Fund und der Geschichte seiner Entdeckung sind ebenso vorhanden wie Begleitmaterial, etwa ein Scan aus dem Arbeitsjournal des Grabungsleiters als PDF-Datei oder historische Fotografien oder Kunstwerke wie im Fall des hier abgebildeten Teils der mittelalterlichen Stadtmauer von Visby. Solche Abbildungen stammen dann oft aus der oben schon erwähnten Sammlung Kulturmiljöbild. Mit der Datenbank Kringlawird ein kombinierter Suchdienst angeboten, der Informationen einer Vielzahl schwedischer Museen, Archive und Register enthält. Verzeichnet sind Angaben über historische Objekte und Fotografien aus den Sammlungen dieser Institutionen sowie über Gebäude und Fundstätten von kulturhistorischer Bedeutung. Die Kategorien für einen Sucheinstieg sind Objekte (derzeit knapp 1,87 Millionen an der Zahl), Fotografien (derzeit knapp 792 000), Orte (Baudenkmäler, Monumente, Kulturlandschaften, knapp 900 000), Dokumente (archivalische Quellen und Kataloge, knapp 432 000), Printmaterial (etwa 22 800) und Sammlungen verschiedener Provenienz (an die 42 900). Einstiegsseite von Kringla Umfangreiche Filter erlauben eine detaillierte Suche nach Materialart, thematischer Zuordnung, Lizenzarten, man kann in einzelnen Regionen Schwedens suchen, in bestimmten Jahrhunderten sowie nach der Institution, aus der die Objekte stammen. Natürlich kann man die Filter auch weglassen und in der gesamten Datenbank suchen. Neben der klassischen Freitextsuche kann man eine detaillierte Suchfunktion nutzen, entscheiden, ob nur Ergebnisse mit Bildern angezeigt werden und man kann sich die Treffer auf einer Karte anschauen. Die Menge an Einträgen ist beeindruckend, gerade auch die Vielfalt verschiedenartiger Gegenstände. Seit Anfang 2012 hat man zudem begonnen, die Nutzer stärker in den Ausbau der Datenbank einzubinden. Allerdings beschränkt sich dies auf die Möglichkeit, Objekte miteinander zu verknüpfen und Links auf Wikipedia-Artikel zu setzen. Deutlich mehr Web 2.0 gibt es hingegen bei Platsr, dessen Schreibweise ja schon mal etwas an Flickr erinnert. Eigentlich müsste es Platser heißen, also Plätze oder Orte. Diese deutlich an andere social media angelehnte Seite soll von den Nutzern mit ihren Berichten und Erinnerungen an historische Orte und Ereignisse bestückt werden. Man bedient sich hier der Puzzle-Metapher, nach der ‘ganz gewöhnliche Menschen’ weitere Stücke zu dem großen Puzzle der gemeinsamen Geschichte hinzufügen. Dies geschieht in Form persönlicher Erzählungen, welche hier als gleichberechtigte Stimmen verstanden werden: Subjektive oder alternative Fassungen von Geschichte in Form von ‘kleinen Geschichten’ könnten das von der professionellen Forschung gezeichnete Bild bereichern. In einem einleitenden Video (leider nur auf Schwedisch vorhanden) wird diese Puzzle-Metapher graphisch umgesetzt und auch auf den Unterschied zu früheren Zeiten verwiesen (hier durch die Jahreszahl 1898 vertreten), in denen man eine entsprechende Ausbildung sowie Anstellung (und obendrein einen Schnurrbart!) brauchte, um mitzubestimmen, was über Geschichte niedergeschrieben wird. Heute könne jeder mitmachen, so eine Kernaussage.   Da auf Platsr aber auch etablierte Organisationen für die Pflege des kulturellen Erbes (Museen, Archive etc.) aktiv sein dürfen, können wir ein weiteres Mal eine Egalisierung zwischen ‘professionellen Akteuren’ und ‘Amateuren’ beobachten, wie dies auf diesem Blog schon einmal für ein norwegisches Projekt festgestellt wurde. Sowohl für Platsr als auch für Kringla liegen im Übrigen Anwendungen für Smartphones vor, bisher nur für das Android-Betriebssystem. So wird dann die Möglichkeit, die reichhaltigen Informationen der Datenbanken am jeweiligen historischen Ort selbst abzurufen, eröffnet. Fazit: Die schwedischen Denkmalpfleger haben eine beeindruckende Vielfalt an Online-Aktivitäten entwickelt und bieten ein für jedermann frei zugängliches Informationsportal mit verschiedensten Suchzugriffen an. Allein die Zahl der verfügbaren Objekte erschlägt einen – in der Praxis hier den Überblick zu behalten, ist gar nicht so einfach, aber wie immer gilt: Wer weiß, wonach er sucht, kann hier fündig werden, ohne in der Informationsflut zu ertrinken. Von dem Engagement, dass hier für online verfügbare archäologische und historische Informationen betrieben wird, könnte man sich andernorts so manches Byte abschneiden…

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/639

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durchsichten: Jürgen Kocka: 1989 – Nationale Erinnerung und transnationale Geschichte. Ein Kommentar, in: WSI-Mitteilungen 11/2009, S. 578

http://www.boeckler.de/578_Kommentar_Kocka.pdf In seinem Kommentar in den Mitteilungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung reflektiert Jürgen Kocka über die transnationalen Zusammenhänge der Revolutionen der Jahre 1989 und zeigt auf, dass der Berliner Mauerfall zwar als ein ikonographischer Mittelpunkt, allerdings weder als Ausgang noch Ende der Revolutionen zu sehen ist.

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2012/10/3448/

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Dokumentation: Die studentische Festrede auf der Absolventenfeier des Historischen Seminars der Universität Hamburg am 13. Juli 2012

Marc-Simon Lengowski (eingeleitet von Anton F. Guhl) Die Wissenschafts- und Universitätsgeschichte vernachlässigt häufig jene Personengruppe, die in der Regel die Mehrheit an den untersuchten Einrichtungen stellt: die Studierenden. Gründe sind vor allem ihre hohe Fluktuation, ihre geringere Wirkungsmacht und eine … Weiterlesen

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/1479

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Auf der Suche nach noch einem König: Finnland als kurzlebige Monarchie 1918


Der 1918 zum finnischen König gewählte Friedrich Karl von Hessen-Kassel
Wikimedia Commons/Svenska centralarkivet (gemeinfrei)

Im Nachgang zu Michael Penks kurzweiligem Beitrag über das isländische Kokettieren mit der Monarchie drängt sich einem der finnische Vorläufer aus dem Jahr 1918 geradezu auf. Finnland hatte sich am Nikolaustag 1917, der dort als Unabhängigkeitstag Jahr für Jahr mit Grandezza – einige würden böse sagen: Brimborium – begangen wird, formal für unabhängig erklärt. Die Finnen nutzten das postrevolutionäre Chaos, um sich und aus dem zunehmend kollabierenden Russischen Reich gelöst, waren aber gleich darauf in die Wirren eines Bürgerkriegs geraten, der, obgleich von kurzer Dauer, zu den blutigeren Konflikten des 20. Jahrhunderts gehört. Die siegreiche bürgerlich-konservative Seite im Bürgerkrieg, die so genannten “Weißen”, gruppierten sich um die Führungsgestalten Generalleutnant C. G. E. Mannerheim (ehemals im Dienste der kaiserlichen russischen Armee) und den Senatspräsidenten Pehr Evind Svinhufvud. Sie sahen sich nach Ende des Konflikts im Mai 1918 der Frage gegenüber, wie die Verfassung und damit das politische System des souveränen finnischen Staates aussehen sollten. Bei der Ausgestaltung des neuen Staatswesens kam ihnen zweifelsohne der Umstand zupass, dass die eigentliche Opposition der Vorkriegs- und Kriegsjahre – die finnische Sozialdemokratie – im Gefolge des Bürgerkriegs von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden konnte. Ein nicht unbeträchtlicher Teil ihrer Mitglieder befand sich ohnehin unter den ca. 80.000 in Lagerhaft genommenen und anschließend abgeurteilten “Roten”, von denen der Großteil freilich zum Jahresende 1918 wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. In Anbetracht dieser eklatanten Schwächung der republikanischen Kräfte des Landes legte man sich innerhalb der politischen Führung des Landes relativ bald auf die Monarchie als Staatsform fest und favorisierte – zumindest mehrheitlich – die Einsetzung eines deutschen Prinzen auf dem zu schaffenden finnischen Thron. Der erzkonservative, monarchistisch und entschieden pro-deutsch eingestellte Svinhufvud wurde für die Zeit der Suche nach einem geeigneten Staatsoberhaupt zum Reichsverweser bestellt, der konservative Politiker und Bankier J. K. Paasikivi zum Ministerpräsidenten ernannt. Beide wurden übrigens später Staatspräsidenten des Landes, das sie 1917/18 mit aus der Taufe gehoben hatten. Mannerheim, der von der unbedingten Orientierung auf Deutschland nur wenig hielt, lehnte einen deutschen Regenten ab und bemühte sich vergebens um eine schwedische oder dänische Alternative für den finnischen Thron. Zugleich mobilisierten sich im finnischen Parlament, der Eduskunta, die verbliebenen republikanischen Kräfte, die – in Abwesenheit der sozialdemokratischen Mehrheitsfraktion – vor allem aus Agrariern und jungfinnischen Liberalen bestanden. Nach intensiven und zum Teil bitter geführten Debatten wählte die Eduskunta schließlich am 9. Oktober einen Schwager des Deutschen Kaisers Wilhelm II., Friedrich Karl von Hessen-Kassel, als Fredrik Kaarle I. zum “König von Finnland und Karelien, Herzog von Åland, Großherzog von Lappland und Herrn über Kaleva och Pohjola”. Der ursprünglich für den Thron vorgesehene Sohn des Kaisers, Prinz Oskar von Preußen, hatte nach Intervention des Kaisers und der Reichsregierung von der finnischen Königswürde Abstand nehmen müssen.

Was in der Rückschau in der Tat wie ein episodisches “Königsabenteuer” wirkt, entsprach in Wirklichkeit einem ganz offensichtlichen Trend der Zeit sowie den Umständen des letzten Kriegsjahrs in Nordosteuropa. Deutsche Prinzen wurden seit dem 19. Jahrhundert regelrecht zum ‘Exportschlager’, als vor allem auf dem Balkan neue Nationalstaaten entstanden und ein entsprechender Bedarf nach – zumindest nominell – konstitutionell herrschenden Monarchen aufkam. Sie galten als imperial nur bedingt kontaminiert und vergleichsweise (v)erträglich – und es gab ein recht umfängliches Angebot von ihnen, das sich bereitwillig auf die Throne von Griechenland, Albanien oder Rumänien wählen ließ. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs und dem Frieden von Brest-Litowsk im Frühjahr 1918 kam als weiterer – förmlich zwingender – Grund hinzu, dass man sich bei der Etablierung und Konsolidierung der eigenen Staatlichkeit die Protektion des einzigen verbliebenen Hegemons der Region, des Deutschen Kaiserreichs, wünschte bzw. sich dieser in Ermangelung von Alternativen nicht entziehen konnte. In dem engen Zeitfenster des Jahres 1918 übertrug sich die Vorliebe für den Import deutscher Prinzen daher auch auf die spontan aus dem Boden gestampften baltischen Monarchien, wie sich anhand der buchstäblich im Rohr krepierten Kandidaturen des Württemberger Herzogs Wilhelm Karl von Urach für den litauischen Thron (als Mindaugas II.) und des passionierten Forschungsreisenden und Kolonialabenteurers Adolf Friedrich zu Mecklenburg-Schwerin für das deutsch-baltische Vereinigte Baltische Herzogtum ablesen lässt. Der Turkuer Historiker Vesa Vares hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass sich das finnische Verhalten im Sommer und Herbst 1918 nur in der historischen Rückschau als episodischer Einzelfall, als das von Anders Huldén beschworene “Königsabenteuer” begreifen lässt. Es bildete weit eher die Regel in einem Reigen von vermeintlichen Königsabenteuern, deren Ziel in der Stabilisierung noch völlig ungefestigter und unter existenziellen Verwerfungen leidender Staatswesen bestand.

Dass es sich in der Sicht der Beteiligten um alles andere als ein skurriles Abenteuer handelte, ist auch aus den Vorbereitungen ersichtlich, die die Verantwortlichen in Helsinki in Erwartung der Ankunft ihres Königs trafen. Das finnische Außenministerium entsandte zwei profilierte Jungdiplomaten, den späteren Außenminister Hjalmar Procopé und den Archivar der Behörde (und späteren Gesandten) Harri Holma, nach Schloß Friedrichshof im Taunus, um dem angehenden König und seiner Familie einen landeskundlichen Crashkurs zu verabreichen und zudem erste Grundlagen in der finnischen Sprache zu vermitteln. Währenddessen bereitete die Protokollabteilung des Außenministeriums in Helsinki ein opulentes Begrüßungszeremoniell für das neue Staatsoberhaupt vor, in dessen Zentrum die feierliche Einfahrt des von Tallinn kommenden Königs in den Hafen stehen sollte, begleitet von Salutkanonaden und Kirchengeläut. Den Höhepunkt der Feierlichkeiten sollte die Krönung des neuen Königs bilden, für die der finnische Metallbildhauer und Avantgarde-Künstler Eric O. W. Ehrström bereits eine eigene Krone entworfen hatte.

Aus dem oben angedeuteten kleinstaatlichen Opportunismus, dem der finnische Staat im 19. und vor allem 20. Jahrhundert seine Existenz schuldet, erklärt sich auch, dass nach Abhandenkommen der projektierten Schutzmacht Deutschland im November 1918 auch das Projekt einer finnischen Monarchie nahezu geräuschlos ad acta gelegt wurde. Erinnerungskulturell sah es sich in den folgenden Jahrzehnten zur Fußnote der finnischen Geschichte relegiert. Obgleich der Gedanke einer monarchischen Ordnung in Finnland bis zur Verabschiedung der finnischen Verfassung noch die eine oder andere Blüte trieb, schwenkten die politischen Eliten des Landes schnell auf den von den Westmächten vorgegebenen Kurs ein und republikanisierten ihre bereits zu großen Teilen geschriebene Verfassung. Der wesentliche Träger der Annäherung an Deutschland, Svinhufvud, wich am 12. Dezember 1918 als Reichsverweser dem stärker auf die Westmächte hin orientierten und anglophilen Mannerheim. Mit ihm verzichtete auch Friedrich Karl von Hessen auf den ihm erst zwei Monate zuvor angetragenen Thron – und Finnland wurde zu jener “halbmonarchistischen” Präsidialrepublik (Juha Siltala), wie sie bis zum Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jahre 2000 existierte. Der Staatspräsident erlangte in der Verfassungsrealität quasimonarchische Züge, wie etwa auch die “Überfigur” Urho Kekkonen zeigte. Als Fußnote zu einer Fußnote lässt sich jene Episode bezeichnen, von der Jyrki Paloposki auf Grundlage von Aktenmaterial des Archivs des finnischen Außenministeriums berichtet: Friedrich Karls Interesse an Finnland und das Interesse Finnlands an seinem vormaligen König erstarben offenbar auch nach seiner Abdankung nicht gänzlich. Wochen nach seinem Tod am 28. Mai 1940 schlich sich im Auftrag der finnischen Regierung ein Attaché der Gesandtschaft in Berlin in die Kapelle der Burg Kronberg im Taunus, in der Friedrich Karl als Oberhaupt des Hauses Hessen-Kassel begraben liegt. Nur beobachtet vom Kämmerer der Burg legte er am Grab des gewesenen und doch nicht ganz gewesenen Königs von Finnland einen Kranz nieder, auf dem zu lesen war: “Landgraf Fr. Karl / Die Regierung von Finnland”.

Literatur

  • Rainer von Hessen: “König im „Land der ernsten Augen“. Das finnische Thronangebot an Prinz Friedrich Karl von Hessen im Sommer 1918.” In: Bernd Heidenreich u.a. (Hrsg.): Kronen, Kriege, Künste. Das Haus Hessen im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt: Societäts-Verlag 2009, S. 190–204.
  • Anders Huldén: Finnlands deutsches Königsabenteuer 1918. Reinbek: Warnke Verlag 1997.
  • Jyrki Paloposki: Foreign Ministry Maker of a King in 1918 (23.12.2008), URL: http://formin.finland.fi/public/default.aspx?contentid=153726&nodeid=15153&contentlan=2&culture=en-US
  • Hannes Saarinen: “Friedrich Karl”. In: Suomen kansallisbiografia 3. Helsinki: Suomalaisen Kirjallisuuden Seura 2004, S. 109–110.
  • Vesa Vares: Kuninkaan tekijät: Suomalainen monarkia 1917–1919. Myytti ja todellisuus. Porvoo-Helsinki-Juva: WSOY 1998.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/674

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Geschichtstourismus in Schweden – die Mittelalterwoche auf Gotland


Das Mittelalter als bzw. im Spiegel unserer Zeit...Flickr, CC-BY-NC-SA arkland_swe

Jedes Jahr im August, immer in der Kalenderwoche 32, machen sich zehntausende von Besuchern auf den Weg zur schwedischen Insel Gotland und – ins Mittelalter. Ein regelrechter Mittelalterwahn:  Hier treffen sich Eskapismus und Geschichtsverklärung, weidlich ausgeschlachtet von der Tourismusbranche.

Letzte Woche war es wieder soweit, und Tausende hatten sich wieder vor allem in der Inselhauptstadt Visby eingefunden, um sich inmitten der historischen Kulisse, welche die in weiten Teilen erhaltene Altstadt samt ihrer mittelalterlichen Stadtmauer bietet, dieser historischen Inszenierung hinzugeben. Von ihren bescheidenen Anfängen 1984 ist diese Veranstaltung zu einem Massenspektakel und Besuchermagnet mit an die 40.000 Besuchern jährlich geworden. Das in großen Teilen erhaltene mittelalterliche Stadtbild ist das eine, das für viele obligatorische Einkleiden in mittelalterlich anmutende Kleidung (oder was man dafür hält) ist das andere. Die Mittelalterwoche ähnelt in ihrem Programm und den angebotenen Aktivitäten vielem, was man in deutschen Breiten auf entsprechenden Veranstaltungen wiederfindet: angefangen beim Turnier über einen Markt mit Handwerk und Speisen bis hin zu diversen Theater- und Musikaufführungen – ein facettenreiches Enactment-Event und Geschichtsspektakel, und das eine ganze Woche lang, von Sonntag bis Sonntag.

Carl Gustaf Hellquist: Valdemar Atterdag brandskattar Visby (1882)Quelle: Wikimedia Commons

Den historischen Hintergrund bildet die Eroberung der Insel durch den dänischen König Valdemar Atterdag 1361 und die anschließende Brandschatzung Visbys – in gewisser Weise ein Kuriosum, da man sich auf eine für die Insel eher unerfreuliche Begebenheit bezieht. Dieses Ereignis ist für viele Schweden in Form des der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts zuzuordnenden Bildes von Carl Gustaf Hellquist durchaus präsent. Das nachfolgende Filmchen auf Vimeo zeigt eine Amateuraufnahme von 2009 vom alljährlich nachgestellten Einzug Atterdags in die Stadt. Kleine Bemerkung am Rande: Kurios ist das Bemühen, die Aufnahme durch die Nachbearbeitung als historisch anmutenden Schwarzweißfilm aus der Frühzeit des Kinos daherkommen zu lassen, sozusagen um “noch mehr historische Authentizität” zu erreichen.

“Jung und alt begeben sich 1000 Jahre in der Zeit zurück und leben während einer Woche auf Gotland im Mittelalter. Ist das Interesse für diese entlegene Zeit wirklich seriös oder haben wir einen Wunsch, für eine Weile aus unserer eigenen Zeit zu flüchten, uns als jemand Fremdes und Anderes zu verkleiden? Eine andere Person werden zu können und in der Fantasie nachspüren, wie sich das Dasein für Menschen in unterschiedlichen Situationen, Tätigkeiten und sozialen Zusammenhängen gestalten könnte.”

So schreiben die Organisatoren auf der Homepage der Mittelalterwoche und lassen erkennen, dass auch für sie die Inszenierung, die sie betreiben, ihre Grenzen hat. Während des Ereignisses ist man jedenfalls in vielerlei Hinsicht sehr bemüht, eine Illusion von Mittelalter zu kreieren – soweit das in der heutigen Zeit natürlich überhaupt möglich ist. Es gibt ein weitgehendes Autoverbot in der Visbyer Innenstadt, man versucht, Verkehrsschilder und andere moderne Symbole zu verdecken und es werden detaillierte Anweisungen an die mitwirkenden Akteure ausgegeben.

Frauen bitte mit Kopfbedeckung!Flickr, CC-BY-NC-SA jonas_evertsson

So werden für den Markt, den die Organisatoren als Herzstück der Mittelalterwoche begreifen, klare Regeln vorgegeben: Es sollen mittelaltertypische Waren und Mahlzeiten angeboten werden, die Marktstände müssen aus Holz und mittelalterlicher  Bauart  sein. Moderne Ausstattungs- und Gebrauchsgegenstände sollen vermieden oder camoufliert werden. Schilder mit Text sind weniger erwünscht als Symbole, Zunftabzeichen und das mündliche Anpreisen der Waren. Moderne Auszeichnungen der Waren werden vom Organisationsteam nicht zugelassen. Natürlich sind auch hinsichtlich der Kleidung Vorgaben zu beachten: “Verkäufer und andere, die sich am Stand aufhalten, sollen mittelalterlich gekleidet sein. Denk auch an die Schuhe. Ein Sack oder eine Tunika über moderner Kleidung sehen nicht gut aus. Frauen sollen eine Kopfbedeckung tragen. Mädchen dürfen jedoch das Haar offen tragen.”

Die Gesamtheit eines Marktstandes (Verkaufspersonal, Stand und Waren) soll dabei helfen, die Illusion eines mittelalterlichen Marktes zu erwecken. Mit der Unterschrift auf dem Pachtvertrag verpflichtet man sich als Markthändler, die Regeln der Organisatoren verbindlich einzuhalten. Alle Waren und Angebote müssen vom Organisationskomitee genehmigt werden: “Die Mittelalterwoche akzeptiert Produkte und Material, das es im Mittelalter gegeben haben kann, d.h. Produkte, die entweder mittelalterlichen Charakters und Eindrucks sind oder vom Mittelalter inspiriert sind oder aus Material, dass es im Mittelalter gab oder mit mittelalterlicher Technik hergestellt sind.” Auf dem Markt herrscht nicht nur Rauch-, sondern auch Kaffee-, Softdrink- und Mobiltelefonverbot. Wem das alles noch nicht genug ist, der kann sich noch in eines der Mittelalterlager begeben, in dem man seine Reise in die Vergangenheit rund um die Uhr betreiben kann. Sehr aktiv ist dabei eine sog. Gesellschaft für kreativen Anachronismus (das Organisationskomitee sollte vielleicht anfragen, ob man diesen Namen nicht übernehmen könnte…). Man kann also, wenn man möchte, mit Haut und Haaren, mit allen Sinnen in eine andere Zeit eintauchen. “Bei allem geht es natürlich darum, zu versuchen, lebendig zu machen, wie Menschen im Mittelalter lebten. Das beinhaltet alles, angefangen dabei, wie man sich kleidete, was man aß, was die Kinder spielten, wie man Dinge herstellte, welche Berufe man hatte, wie man hieß, bis hin wie man redete. Das ist es, worum es bei der Mittelalterwoche geht. Sowie Spaß zu haben!”

Mittelalterliche Stadtmauer von Visby (gemeinfrei)Quelle: Wikimedia Commons

Darüber hinaus geht es bei der Mittelalterwoche noch um handfeste wirtschaftliche Interessen. Gotland ist eine strukturschwache Region, deren Haupterwerbszweige der Tourismus und die Landwirtschaft darstellen. Von den Zeiten früherer Größe als Knotenpunkt im Ostseehandel und als Hansestadt ist wirtschaftlich gesehen nichts mehr übrig. Immerhin kann Schwedens “Sonneninsel” im Sommer beachtliche Zahlen an Touristen empfangen, primär aus Schweden selbst, aber auch aus anderen Ländern. Der Zeitpunkt Anfang August wurde bewusst gewählt, weil das Mittelalterspektakel so einen saisonverlängernden Effekt hat und Touristen auf der Insel hält oder zu einem Zeitpunkt auf die Insel bringt, wenn das Sommergeschäft sich langsam schon dem Ende zuneigt. Die Wahl des Themas ist auch recht vielsagend, fiel die Eroberung durch Valdemar doch in eine Zeit, in der Gotland nur schwache Bindungen an das schwedische Königreich besaß und eher eine Art Inselrepublik darstellte, die allerdings mit der zunehmenden Expansion der dänischen und schwedischen Herrschaftsbereiche und mit den Entwicklungen in der Seefahrt bereits dabei war, an wirtschaftlicher Bedeutung zu verlieren. Jedenfalls verweisen die Begebenheiten von 1361 auf eine Zeit, in der Gotland noch stärkere Distanz zu Schweden hatte – und das passt angesichts der gerne gepflegten regionalen Identität sehr gut.

Das Geschichtsevent trägt allerdings auch zu einer Engführung des gotländischen Geschichtsbildes auf das Mittelalter bei, eine Fixierung, die ohnehin schon stark ist. Über Gotlands Bedeutung als “Horchposten der NATO” in der Ostsee im Kalten Krieg und als strategischer Punkt in militärischen Planungen in den Konflikten und Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts etwas zu erfahren, ist ungleich schwerer, als über Gotlands Blüte in der Hansezeit. Zu Recht ist man auf die Stellung der Visbyer Altstadt als Teil des UNESCO-Welterbes stolz und bezeichnet sich auch als “Hansestadt Visby” [Hansestaden Visby]. Doch steht vieles andere im Schatten, das hat sich mir auch vor gut einem Jahr in Zusammenhang mit einer Lehrveranstaltung (die mit einer einwöchigen Exkursion nach Gotland verbunden war) gezeigt: Die Forschungsliteratur zu Hansezeit und Mittelalter Gotlands ist ungleich reichhaltiger als zu anderen Epochen.

Es gibt mittlerweile eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, welche die Medeltidsveckan als geschichtskulturelles Phänomen unter die Lupe genommen haben. Im Zentrum stehen dabei Fragen der Aneignung von Geschichte und Geschichtsbildern, die Authentizität der mittelalterlichen Inszenierung in den Augen der Besucher und ihre Bedeutung als Flucht vor und zugleich Spiegel der Gegenwart. Hinsichtlich der Erwartungen an den authentischen Charakter der Mittelalterwoche – angesichts des weiter oben beschriebenen Aufwandes, der für die Inszenierung betrieben wird – verweist Sandström darauf, dass gerade Besucher mit guter historischer Vorbildung um Brüche und Unzulänglichkeiten in der Inszenierung nur zu gut wissen, sich aber dennoch auf das Spiel mit der Vergangenheit einlassen. Intellekt und Gefühl gingen eben nicht immer Hand in Hand: “Wir sind nicht dort, um mittelalterlich korrekt zu sein, wir sind dort, um Spaß zu haben.” sagen Besucher der Mittelalterwoche. Genau darum gehe es nämlich, auch der Titel des Buchs von Gustafsson verweist auf Spiele mit Zeit, Raum und Identität.

Man könnte gar die These aufstellen, dass man desto weniger im Mittelalter leben möchte, je mehr Wissen man sich über diese Zeit aneignet. Eine Kapitelüberschrift bei Sandström lautet “Das Mittelalter war eine Zeit ohne Zahnpasta”, und es wird anhand Befragungen von Besuchern der Mittelalterwoche deren oft sehr hoher Grad an Bewusstsein darüber aufgezeigt, dass sie sich immer nur in einem Ausschnitt oder in einer bestimmten Vorstellung von Mittelalter bewegen. Abends legt man sich ins Hotelbett oder in eine der Wohnungen, welche die Einwohner Visbys für teures Geld während der Woche vermieten, morgens ist man sein modernes Frühstück und schlüpft dann in die weichgespülte Version von Mittelalter ohne Unrat in den Straßen, ohne Dreck und Krankheiten. Aber kann man den begeisterten Besuchern deswegen Vorwürfe machen? Ist es nicht zu begrüßen, dass sich die Menschen wie bei kaum einer anderen Epoche mit Alltagsgeschichte und dem Leben der einfachen Leute auseinandersetzen? Was nämlich bei aller Kritik an Geschichtskonstruktionen und Eskapismus hinzukommt: Die Mittelalterwoche wird durch zahlreiche Bildungsangebote wie Stadtrundgänge, Vorträge und Museumsführungen bereichert und siedelt diesen Charakter als durch wissenschaftliche Erkenntnisse fundierte Bildungsveranstaltung relativ hoch an. So kann man das eigene “Nachleben” von Geschichte um fachlich kompetenten Input bereichern und das Ganze auch eher als Bildungsreise in die Vergangenheit mit verschiedenen Facetten auffassen. Von daher wird für einen nicht zu unterschätzenden Anteil der Besucherschar von den Living-History-Anteilen und dem Reenactment-Charakter der Veranstaltung eine Brücke hin zu historischer Bildung gebaut. Zumindest möchte ich mit der leisen Hoffnung, das dem so ist, diesen Beitrag beschließen.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/138

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