Kleine Anfrage zur deutsch-italienischen Historiker_innenkommission

Festnahme von Zivilisten durch deutsche Soldaten in Rom 1944

Bildbeschreibung laut Quelle: Italien, Rom.- Festnahme von Zivilisten durch deutsche und italienische Soldaten nach dem Attentat in der Via Rasella auf eine Südtiroler Polizei-Einheit am 13. März 1944 vor dem Palazzo Baberini; die Festgenommenen wurden später als Repressalie in den Ardeatinischen Höhlen ermordet; PK (= Propagandakompanie) 699. Bundesarchiv, Bild 101I-312-0983-03 / Koch / CC-BY-SA via Wikimedia Commons

Die deutsch-italienische Historiker_innenkommission wurde 2008 ins Leben gerufen und nahm 2009 ihre Arbeit auf. Von Anfang an, stand die Kommission unter dem Vorbehalt, dass sie eher anstelle als zusätzlich zu einer Entschädigungsregelung geplant war. Die Kommission hat unterdessen die Arbeit beendet. Der Umgang mit den Ergebnissen wird viel über den Willen verraten sich auf deutscher Seite endlich der Verantwortung für die zahllosen Massaker der Wehrmacht und dem Umgang mit den IMI, den italienischen Militärinternierten, zu stellen. Die Presseerklärung der Bundesregierung vom 24.8. verspricht nichts gutes: “Der Abschlussbericht soll den Außenministern beider Staaten im September/Oktober dieses Jahres „in einem angemessenen Rahmen“ übergeben werden. Ein konkreter Termin oder Ort ist hierfür noch nicht vereinbart, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort (17/10480) auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (17/10176). Der Abschussbericht werde in kleinerer Auflage in gedruckter Form veröffentlicht und solle der interessierten Öffentlichkeit auch über das Internet zugänglich gemacht werden. Eine Veröffentlichung des gesamten Abschlussberichts in Buchform sei nicht beabsichtigt.” – Will wohl heißen, so ganz untergehen lassen können wir die Ergebnisse nicht, aber wir werden alles tun um möglichst nahe dran zu kommen.

Selbst eine Kommission, die unter der Führung des eher konservativen Wolfgang Schieders arbeitete, war wohl noch zu kritisch. Obwohl der zu Beginn der Arbeit erklärte: “Wir haben hier aber noch eine neue Idee, und das ist die, dass wir nicht so sehr die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Militärs und den italienischen untersuchen, sondern dass wir die Erfahrungen der Betroffenen untersuchen wollen: der Soldaten, der Kriegsgefangenen, der KZ-Häftlinge. Und dass wir diese Ebene in den Vordergrund stellen, weil das die Erinnerungen sind, die auch nach dem Krieg bei Millionen von Menschen weitergewirkt haben und bis heute weiter wirken.” (in: Henning Klüver: Kulturelles Feigenblatt, Deutschlandfunk, 29.3.2009) Obwohl Schieder also die Erfahrungen der KZ-Häftlinge neben die der Kriegsgefangenen und die der deutschen und italienischen Soldaten stellen wollte, also durch einebnende individualisierte Erfahrungsrekonstruktion ein auf ein “ja, schrecklich wars, war ja auch Krieg” hinauswollte, schienen die Verbrechen der Deutschen nach 1943 noch zu deutlich zu werden.

Da der Text der Ergebnisse der Kommission noch nicht öffentlich vorliegen, ist es noch zu früh um im Detail zu erkennen, was der Bundesregierung missfallen hat. Die Richtung wird jedoch an Antworten wie der folgenden deutlich:

“[Frage] 14. Ist die Bundesregierung tatsächlich der Auffassung, die bisherige Entschädigungspolitik sei so umfassend, dass kein Nachbesserungsbedarf besteht,
um bislang unentschädigt gebliebene NS-Opfer zu entschädigen?

Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin mit der Frage weiterer politischer Gesten gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetzen.

[Frage] 15. Sieht sich die Bundesregierung mittlerweile veranlasst, aus der Urteilsbegründung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom 3. Februar 2012 irgendwelche Konsequenzen zu ziehen, etwa hinsichtlich der Aufnahme von Gesprächen entweder mit NS-Opfern oder der italienischen Regierung über wenigstens symbolische, humanitäre Leistungen für überlebende NS-Opfer bzw. deren Angehörige (bitte gegebenenfalls erläutern)?

Die Bundesregierung sieht durch das Urteil keine Veranlassung, ihre Rechtsauffassung zu Entschädigungsfragen zu ändern. Gegenstand des Verfahrens war die Verletzung des völkerrechtlichen Grundsatzes der Staatenimmunität, dessen Geltung vom Internationalen Gerichtshof (IGH) bestätigt wurde. Die Bundesregierung hat sich dabei stets zu ihrer moralischen Verantwortung für NS-Verbrechen bekannt. Die Bundesregierung wird auch weiterhin versuchen, ihrer Verantwortung gegenüber den Opfern durch politische Gesten gerecht zu werden und sich hierbei zunächst auf die Empfehlungen der Historikerkommission stützen. Die Umsetzung dieser Empfehlungen ist aus Sicht der Bundesregierung vorrangig vor anderen Überlegungen.” (Seiten 6-7 des pdfs 17/10480 Fett im Original, meine Kursiven).


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/09/05/kleine-anfrage-zur-deutsch-italienischen-historiker_innenkommission/

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Rostock-Lichtenhagen ist noch kein “Erinnerungsort”

Ein paar Gedanken zum Erinnern. Bundespräsident Gauck hat am Wochenende in Rostock-Lichtenhagen eine Rede gehalten. Er hat an die Taten eines gewalttätigen, mordwilligen Mobs vom 22.-26.8.1992, das Leid der Opfer in einem Asylbewerberheim und einem Wohnheim für Vietnam-Deutsche, das Versagen der staatlichen Sicherheitsorgane und die Pflicht zum Gedenken erinnert. Meiner Ansicht nach besteht eine Gefahr im allzu schnellen Gedenken, Erinnern und Historisieren. In der deutschen Erinnerungskultur gibt es mittlerweile anscheinend eine Erinnerungsroutine, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus speist und nun auf jüngst vergangene Ereignisse übertragen wird. Dass eine bestimmte Form des Erinnerns einer Verschiebung vom “Arbeitsspeicher” in das “Archiv” des kollektiven Gedächtnisses gleicht – ja sogar eine natürlich Funktion sei, wurde verschiedentlich angemerkt (siehe z.B. WerkstattGeschichte 52/2009 “archive vergessen”). Lebendige Geschichte droht, wenn man nicht aufpasst, zur vergangenen, abgeschlossenen, erfolgreich überwundenen Geschichte zu werden. Genau die Gefahr sehe ich, wenn nun zum 20. Jahrestag R-Lichtenhagen zum Erinnerungsort gemacht wird. Diese Vergangenheit ist nicht vorbei! Sie ist ummittelbar wirksam, beispielsweise im Asylrecht: Im Anschluss oder in Reaktion auf die Gewalt gegen vermeintlich Fremde in Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda oder Solingen verschärfte Deutschland seine Asylgesetzgebung (u.a. mit der Drittstaaten-Regelung) – dieses Asylverhinderungsrecht ist immer noch in Kraft.

Nur ein Zitat aus den Bundestagsdebatten im Vorfeld des sog. Asylkompromisses vom 26. Mai 1993, Norbert Geis am 4.11.1992 (auch heute noch CSU-Abgeordneter):

„Nun können wir uns leicht ausrechnen, wann wir, weil dieser Asylstrom überhaupt nicht enden wird […] die Kapazitäten nicht mehr haben, um diese Menschen aufnehmen zu können. Wir können uns doch auch leicht ausrechnen, wann es zur Katastrophe kommt. […] Es geht doch letztlich darum, dass wir Wortklauberei betreiben und der eigentlichen Tatsache nicht ins Gesicht sehen. Diese unsere Haltung bewirkt draußen, daß wir eine zunehmende Radikalisierung der Bevölkerung, zumindest ein starke Sympathie gegenüber radikalen Parteien erleben. Dieser Radikalimus ist die Ursache für Exzesse.“ (BT - Aktuelle Stunde Plenarprotokoll 12/116 04.11.1992 S. 9892-9893.)

Von vielen in den Regierungsparteien und der SPD wurde die einfache Gleichung, „Asylstrom“ führt zu „Exzessen“, unterschrieben; die Asylrechtsänderung von 1993 war auch eine Konsequenz aus dieser Wahrnehmung der Gewalt gegen vermeintlich Fremde.

20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen ist nicht die Zeit der deutschen Geschichte einen weiteren Erinnerungsort hinzuzufügen, es ist Zeit für eine Entradikalisierung des Asylrechts.

Herr Gauck, das wäre Ihre Gelegenheit gewesen zu handeln. Ergreifen Sie die nächste !


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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/08/27/rostock-lichtenhagen-ist-noch-kein-erinnerungsort/

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Welcher Perikles – und wessen?

Die Ereignisse und Enthüllungen der letzten Jahre haben die Neigung verstärkt, nahezu alles, was aus Hellas verlautet, zunächst einmal als unwahr, bestenfalls als schön erfundene Geschichte - Mythos im landläufigen Sinn - zu betrachten. Die rühmende Rede war eine Erfindung der alten Griechen. Und lügen nicht zumindest alle Kreter? Als allerdings griechische Politiker unserer Zeit auf die ‘Geschichte' verwiesen und darauf zielten, etwaige Bedenken zu zerstreuen...(read more)

Quelle: http://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2012/08/21/welcher-perikles-und-wessen.aspx

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Koloniale Sammelwut – Zur Restitution geraubter Gebeine

Die neue Ausgabe  der iz3w fragt gerade nach dem politischen Umgang mit den Schädeln und Gebeinen, die in der Zeit des Imperialismus aus den Kolonien geraubt wurden (siehe hier das Inhaltsverzeichnis). “Dieses Thema mag auf den ersten Blick abseitig erscheinen”, schreiben die Herausgeber. Doch die derzeitigen Rückgabeprozesse bringe die gesamten vergangenheitspolitischen Defizite im Zusammenhang mit der kolonialen Gewalt auf die Agenda.

Das Problem im Aufriss:

Vor über 100 Jahren brachten deutsche Wissenschaftler zahlreiche Schädel und Gebeine etwa aus „Deutsch-Südwestafrika“ nach Deutschland, auch um damit „Rassenforschung“ zu betreiben. Bis heute lagern sie in deutschen Universitätseinrichtungen und Museen. Die Nachfahren der Opfer bestehen auf Rückführung (Restitution) der Schädel ins heutige Namibia, auf offizielle Schuldanerkennung und Reparationszahlungen.

Und das Editorial führt aus:

Nun sehen sich immer mehr anatomische und anthropologische Sammlungen der Frage gegenüber, wie sie sich zu unrechtmäßig erworbenen Gebeinen verhalten und wie sie mit ihrer eigenen rassistischen Geschichte umgehen sollen. Die Restitutionsforderungen werfen viele weitere Fragen auf: Herkunftsländer und Nachkommen der Opfer kolonialer Verbrechen fordern Anerkennung, Aufarbeitung und Entschädigung für erlittenes koloniales Unrecht. Das beginnt mit einer würdigen Rückführung der Gebeine und der Bereitstellung von Mitteln für Gedenkstätten. Es geht weiter damit, den Zusammenhang zu den kolonialen Eroberungen und Kriegen aufzuzeigen. Im Hinblick auf den deutschen Genozid im heutigen Namibia 1903-1908 verknüpfen Opfergruppen mit der Restitution die Anerkennung dieses Tatbestands seitens der deutschen Regierung. Sie fordern eine offizielle Entschuldigung und Entschädigung, und sie wollen sich nicht mit einigen restituierten Schädeln oder mit von Deutschland dekretierten Programmen abspeisen lassen. In den Herkunftsländern tritt mit den Restitutionen der Prozess der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte ebenfalls in eine neue Phase.

Es geht also um weit mehr als nur um würdige Bestattungen. Eine angemessene Entschädigung für den Massenmord und die verheerenden Folgen der imperialistischen Zerstörung ist das Thema.  Schließlich ist die heutige Unterentwicklung ganzer Kontinente nicht zuletzt ein Ergebnis des Kolonialismus – wie unter anderem Mike Davis in seinem Buch Die Geburt der Dritten Welt (2004) zeigen konnte.

So werden die historischen Gebein- und Schädelsammlung Teil der globalen Verteilungskämpfe.


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/07/09/koloniale-sammelwut-zur-restitution-geraubter-gebeine/

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Die leidige Verweigerung der Gleichzeitigkeit

HSOZKULT weitet den Blick. Beim Sortieren der Botschaften, die einem täglich in den Email-Account flattern, sortiert man zwar schnell zwischen relevant oder nicht relevant für die eigene Forschung. Manchmal ergibt sich jedoch eine produktive Irritation aus den entfernteren Bereichen der Geschichtswissenschaft. Leider gibt es auch weniger produktive Irritationen, wie den Bericht zu einer Tagung des Erlanger Forschungsprojekts “Gotische Kriegergruppen im spätrömischen Reich” mit dem Titel “Mobile Kriegergruppen in Europa und Afrika. Transkulturelle Perspektiven”.

Belisar und die Goten (1830), aus: Wikimedia Commons.

Als Ziel der Tagung geben die Veranstalter an:

“Der Workshop bringt Phänomene zusammen, die sonst getrennt betrachtet werden: Kriegergruppen im spätantiken Mittelmeerraum sowie neuzeitliche Kriegsherren und ihre Gefolgschaften in Afrika. [...] Der Workshop untersucht sowohl die Gemeinsamkeiten mobiler Kriegergruppen im Europa der Spätantike und im (vor-)modernen Afrika als auch phänomenologisch ähnliche Entwicklungen in unterschiedlichen Kulturräumen und zu verschiedenen Zeiten. Die sich aus dem komparativ angelegten Programm ergebenden transkulturellen Perspektiven sollen der Schärfung des methodischen Zugriffs in den beteiligten Disziplinen dienen. Hinter der Auswahl der Einzelthemen steht der Versuch, eine Zusammenstellung anschaulicher Beispiele für die Bedeutung von Mobilität für den Erfolg im fortwährenden Daseinskampf der Kriegergruppen zu geben.”

Verwunderlich an diesem Programm ist vor allem die, wahrscheinlich unbewußte, Perpeturierung kolonialer Perspektiven und Narrative. Seit dem späten 19. Jahrhundert durchzieht die Erzählung vom zivilisatorischen Entwicklungsvorsprung Europas insbesondere gegenüber afrikanischen Bevölkerungen die kolonialen Diskurse. Dies produzierte zum einen die Idee der Geschichtslosigkeit Afrikas und zum anderen die Idee, afrikanische Gesellschaften mit den “Barbaren”, wie sie von den römisch-antiken Autoren beschrieben wurden, zu vergleichen. Der Ethnologe Johannes Fabian hat diese diskursive Praxis als “denial of coevalness” bezeichnet. Ergebnis der “Verweigerung der Gleichzeitigkeit” war die radikale Alterisierung und letztendlich die Legitimation kolonialer Unterwerfung afrikanischer Bevölkerungen.

Das diese Vergleiche nun erneut angestellt werden, lässt mich gelinde gesagt staunen. Wenn man schon diese radikale Enthistorisierung von “Gewaltgemeinschaften” vornimmt – warum (1) nimmt man nicht europäische Gewaltgemeinschaften der Neuzeit in den Vergleich mit hinein. Das 20. Jahrhundert böte genügend Beispiele – der Verweis auf Timothy Snyders “Bloodlands” dürfte hier wohl genügen. Warum (2) untersucht man nicht die Interaktion von Europäern und Afrikanern, die in zahlreichen Kolonialkriegen transkulturelle Gewaltgemeinschaften bildeten, etwa während des Maji-Maji-Krieges in “Deutsch-Ostafrika”? Warum nicht rezente euro-amerikanische Söldner-Armeen, wie etwa die “Sicherheitsdienstleister” von Blackwater? Warum nicht die Zusammenhänge von afrikanischen Gewaltgemeinschaften und globalen Wirtschaftsbeziehungen (Stichwort: Sklavenhandel im 19. Jahrhundert oder Rohstoffmärket für “blutige Diamanten”, Erdöl oder seltene Erden im 20. Jahrhundert)?

Die Organisatoren argumentieren in dem zitierten Statement insbesondere mit der Mobilität der untersuchten Kriegergruppen.  M. E. ist es jedoch fraglich, ob es genügt, ein Charakteristikum herauszugreifen, um diese Art des Vergleichs zu rechtfertigen. Wenigstens müssten die Traditionslinien klar und kritisch reflektiert werden, in denen diese Herangehensweise steht, bevor man sie reaktiviert. Der Tagungsbericht und die Tagungsankündigung geben leider keinen Hinweis darauf, dass dies geschehen ist. Aber vielleicht erschließt ja ein zukünftiger Sammelband das Feld auf andere Weise.

Zitierte Literatur:

Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology makes its Object, New York 2002 [1983].


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/06/28/die-leidige-verweigerung-der-gleichzeitigkeit/

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Gewalträume – Michael Wildt diskutiert eine globale Verflechtungsgeschichte der genozidalen Gewalt im 20. Jahrhundert

Gefangene Herero-Frauen, DSWA, 1904; Bildarchiv der Dt. Kolonialgesellschaft, Frankfurt/M.

Seit einiger Zeit debattiert die Osteuropageschichte und zunehmend auch die NS-Forschung die räumliche Wendung in der historischen Genozidforschung und ihr bisher prominentestes Ergebnis, Timothy Snyders Bloodlands (München 2011). In der Süddeutschen Zeitung Online (23.5.12) diskutiert der Berliner Historiker Michael Wildt nun unter dem Titel “Ist der Holocaust nicht mehr beispiellos?” die Möglichkeiten, Probleme und die Kritik an dieser neuen Lesart der genozidalen Gewalt in Mittel- und Osteuropa. Insbesondere die Einfügung des Holocaust in die Gewaltgeografie des 20. Jahrhundert ist dabei umstritten. Wildt argumentiert in dieser Hinsicht weniger über die historische Methodik des einebnenden Systemvergleichs, sondern über neuere Konzeptionen der Verflechtungs- und Transfergeschichte:

Das gilt besonders für die “bloodlands”. Gewalt wird durch die vergleichende Analyse nicht gleich, sondern klarer. Die Schoah gehört in diesen Gewaltzusammenhang des zwanzigsten Jahrhunderts wie die stalinistische Politik und die europäische koloniale Gewalt in Afrika, Asien und Lateinamerika – als vielfach verflochtene, aufeinander Bezug nehmende, aber eben keineswegs gleichzusetzende Geschichte.

Damit werden die ideologischen und methodischen Untiefen des Historikerstreits von 1986/87 vermieden, ohne die globalen Beziehungen der verschiedenen genozidalen Ereignisse und Handlungen zu verdecken.

Zum “komplexen Geschehen, das Historiker heute untersuchen”, gehöre so Wild “eine Vielzahl von Gewaltakteuren, Gewaltsituationen und Gewaltentscheidungen”.  Dies führt zu einem weiteren Desiderat, das Wild nicht explizit anführt. Eine globale Transfergeschichte, die genozidale Gewalt als eine Geschichte verflochtener Räume, Ideologien und Handlungen zeigt, darf die Ebene der lokalen Aushandlung von Gewalt nicht übersehen. Diese Ebene sollte nicht hinter Chiffren wie “Kollaboration” oder “Mitschuld” verschwinden. Die Beziehungen und Aushandlungen auf und zwischen unterschiedlichen Untersuchungsebenen sind v.a. eine Herausforderung an die zukünftige Darstellung historischer Gewalt.


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/05/23/gewaltraume-michael-wildt-diskutiert-eine-globale-verflechtungsgeschichte-der-genozidalen-gewalt-im-20-jahrhundert/

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Debatte um die Österreichische Akademie der Wissenschaft

Die Austritte von Renée Schröder und Gunther Tichy aus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften haben in der Alpenrepublik eine Diskussion um die politische Ausrichtung dieser Forschungseinrichtung losgetreten. Anton Tantner hat dazu eine historische Notiz geschrieben, in der er die Akademie als “Sturmgeschütz der Reaktion” bezeichnet. Die Gründungsziele dieser Akademien sollte man sich vielleicht einmal genauer ansehen.

Ergänzung: Und in der aktuellen wissenschaftsinternen Debatte geht es um Mitbestimmung und transparente Mittelverteilung. Dabei wird kritisiert, dass ein Großteil der Akademiemitglieder dem Österreichischen Cartellverband angehören.  Es werden also sehr konservative Seilschaften bedient. Außerdem sind jüngere Disziplinen strukturell benachteiligt.  Eine Renée Schröder meint dann, der Gelehrtengesellschaft der ÖAW gehe es weder um die Förderung von Exzellenz noch um wissenschaftliche Erkenntnisse. Bei allem Respekt, aber ich persönlich habe ja dieses Exzellenz-Gerede echt über. Die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ich kenne, haben keinen elitären Dünkel. Diese Akademien fördern aber genau das und gehören aus meiner völlig aufgelöst. Wir brauchen keine neuen “Exzellenzen”, sondern gar keine.


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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/05/12/debatte-um-die-osterreichische-akademie-der-wissenschaft/

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“Gernika kämpft gegen das Vergessen”

So der Titel eines Beitrags von Ralf Streck auf Telepolis über den Umgang der spanischen Regierung mit der Stadt Gernika. Bis heute erkennt diese das Kriegsverbrechen offiziell nicht an:

Die neue Regierung hat sich offensichtlich im Rahmen der Gedenkfeiern sogar zu Provokationen entschlossen. Denn so stufen es die Basken ein, dass ausgerechnet am Dienstag spanisches Militär zu Übungen im Dorf Elgeta einlief. Das war genau der Tag, an dem auch dieses Dorf vor 75 Jahren bombardiert wurde und nach sieben Monaten im Widerstand in die Hände der Putschisten fiel. Sie bekamen “freie Hand zum Mord und Vergewaltigung”, sagte Bürgermeister Oxel Erostarbe.

Die Verharmlosung, wenn nicht gedenkpolitische Stützung des Franco-Faschismus ist kein Einzelfall, wie  hier im Blog bereits in einem anderen Kontext vermerkt wurde.

Deutschland, genauer der Bundestag, hat sich 1998 etwas halbherzig entschuldigt. Es floss mal ein wenig Geld für eine neue Sporthalle. Aber so richtig konsequent ist man dann hierzulande auch nicht:

Erst am 6. Juni 1939 ehrte Adolf Hitler in Berlin seine Soldaten für ihren “heroischen Einsatz”. Die Straße, auf der einige der eingesetzten Soldaten defilierten, wurde von der “Wannsee-Allee” in die “Spanische Allee” umbenannt. Unter diesem Namen erinnert sie noch heute an die “Helden” im “Kampf gegen den Bolschewismus”.

So schauts aus. Aber es gibt auch Gegenwehr. Wie zum Beispiel durch diesen spanischen Richter.


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Quelle: http://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/04/26/gernika-kampft-gegen-das-vergessen/

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Deutungskämpfe in der griechischen Zeitgeschichte

Memorial for executed EAM rebels during World War 2, Platia Agiou Markou, Zakynthos City, Greece 01

Memorial for executed EAM rebels during World War 2, Platia Agiou Markou, Zakynthos City. By Christaras A, CC-Lizenz, via Wikimedia Commons


Griechenland ist nicht nur Schauplatz sozialer Kämpfe. Auch geschichtspolitisch gibt es eine anhaltende Kontroverse um die Deutung die Befreiung Griechenlands von der Besetzung durch die deutschen Faschisten (1941-1944) und dem anschließenden Griechischen Bürgerkrieg (1946-1949). Im Zentrum steht die Bewertung der von Kommunisten dominierten Nationalen Befreiungsfront (EAM) und der dazugehörigen Befreiungsarmee (ELAS).

Dazu hat Kaspar Dreidoppel 2009 eine Studie publiziert, die nach eigenen Aussagen „das in Wissenschaft und Öffentlichkeit dominierende m.E. allzu romantische Bild der EAM“ dekonstruieren will. Sein Buch Der griechische Dämon. Widerstand und Bürgerkrieg im besetzten Griechenland 1941-1944 wurde Anfang dieses Jahres von Adamantinos Skordos auf H-Soz-u-Kult besprochen. Gregor Kritidis hat sich daraufhin die Studie angesehen und eine kurze Einschätzung geschrieben:

1. Dreidoppels Stärke liegt in der Analyse von Wechselwirkungen

In seiner Rezension hebt Adamantinos Skordos insbesondere das Dritte Kapitel von Dreidoppels Studie positiv hervor, das die Verhältnisse in den befreiten Teilen des Landes beleuchtet:

Minutiös beschreibt er ein willkürliches Terrorregime, das einzelne ELAS-Anführer, wie etwa der legendäre Aris Velouchiotis, in ihren Kontrollzonen errichteten, ihr brutales Vorgehen gegen Vertreter und Nutznießer des alten Regimes sowie tatsächlichen, aber auch nur vermeintlichen Kollaborateuren. Die sogenannten „Kapetane“ der EAM/ELAS, so aus der Darstellung Dreidoppels zu entnehmen, litten unter Verfolgungswahn, sahen überall Verräter, Spione und Feinde.

Diese Charakterisierung wird der Arbeit Dreidoppels aber nur teilweise gerecht, versucht dieser doch gerade die Entwicklung der EAM im Kontext der Dynamik der Gewalt von Besatzungsterror, Partisanen- und Bürgerkrieg nachzuzeichnen. Das Urteil, Dreidoppel beabsichtige vor allem, im griechischen Historikerstreit aktiv mitwirken, “anstatt sich davon zu distanzieren und wissenschaftlich nüchterne Ergebnisse zu präsentieren”, scheint mir daher auch unzutreffend.

2. Die Schwäche der Studie hat mit einem eingeschränkten Emanzipationsverständnis und einem fragwürdigen Extremismusbegriff zu tun

Die Quellenauswertung und -bewertung gerät bei Dreidoppel nach meiner Auffassung etwas schief, weil er mit einem eingeschränkten Emanzipationsbegriff operiert. So gesteht er durchaus Fortschritte bei der Gleichstellung der Frau, in der kommunalen Selbstverwaltung oder der Bildung zu. Die Befreiung aus sozioökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen gehört für ihn aber nicht dazu. Nun kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass eine soziale, politische und wirtschaftliche Neuordnung Griechenlands das Hauptziel großer Teile der EAM bildete.

Dreidoppel stellt diese emanzipatorischen Bestrebungen einerseits in Abrede, andererseits macht er diese gerade als Essenz des von ihm an keiner Stelle begrifflich erörterten “Extremismus” aus. Dieser Vorwurf wurde nicht nur von der bürgerlichen Kollaboration, sondern auch von der Führung der die EAM dominierenden Kommunistischen Partei (KKE) gegen sozialrevolutionäre “Abweichungen” in Anschlag gebracht. Für eine wirksame Kritik an der “Willkür” und dem “Terror” der Partisanenführer muss man aber differenzieren. Sonst werden die aus den Bedingungen des Partisanenkampfes resultierenden Gewaltmaßnahmen und die Maßnahmen zur Überwindung der sozialen Abhängigkeit und der überkommenen Sozialordnung mit instrumentellen, terroristischen Formen von Gewaltanwendung gegen Abweichler und bürgerliche Kräfte vermengt. Wer die Ursachen von Gewalt untersuchen und erklären will, muss hier scharf trennen.

3. Die von Dreidoppel kritisierte Literatur wird von ihm gar nicht in die Analyse einbezogen

Eine Schwäche der Studie sieht auch der Rezensent nicht: Dreidoppels Untersuchung stützt sich vor allem auf Memoirenliteratur, was angesichts der späteren Legitimationszwänge der Beteiligten eine besondere Quellenkritik notwendig macht. Vor diesem Hintergrund überrascht, dass Dreidoppel die 1997 erschienene voluminöse, auf einer breiten Quellenauswertung basierende Biografie über den oben genannten legendären Velouchiotis von Dionysis Charitopoulos, die im Literaturverzeichnis aufgelistet ist, an keiner Stelle zitiert und zu seiner Untersuchung heranzieht. Die einschlägige ältere Studie von Dominique Eudes “The Kapitanioi”, die in Griechenland in zahlreichen Auflagen erschienen ist, findet ebenfalls keine Berücksichtigung.

Dies ist umso bemerkenswerter, als es sich doch um die Literatur handelt, die Dreidoppel gerade kritisieren will. Und schließlich läßt er eine systematische Kritik an der Stalinisierung der KKE und der EAM aus, obwohl von der verdeckt operierenden OPLA im Zuge der Befreiung dutzende Vertreter der linken Opposition liquidiert wurden, wie z.B. Spyros Stinas, ein Weggefährte von Cornelios Castoriadis, in seinem 1997 in zweiter Auflage erschienenen Buch “EAM – ELAS – OPLA” umfangreich dargestellt hat.

Es bleibt das positive Fazit, dass Dreidoppels Buch indirekt eine Reihe von weitergehenden Fragen aufwirft, die in der Diskussion bisher nicht thematisiert worden sind.

Dreidoppel, Kaspar (2009): Der griechische Dämon. Widerstand und Bürgerkrieg im besetzten Griechenland 1941-1944. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2009.


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/04/23/deutungskampfe-in-der-griechischen-zeitgeschichte/

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Nachdenken als Gedenken – Michel Foucaults Vorlesung über Biomacht und Rassismus vom 17. März 1976

Morgen findet in Berlin die “Gedenkfeier für die Opfer der fremdenfeindlichen Mordserie” (Bundespräsidialamt) statt. Von einer Gruppe Neonazis ermordert wurden zwischen 2000 und 2006 Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter (meine Quelle ist hier Wikipedia).

Das Gedenken an die Opfer des Rassismus und das Mitgefühl für ihre Angehörigen, die durch rassistische Voreingenommenheit der Öffentlichkeit, der Medien und der Polizei nach der Ermordung ihrer Väter, Brüder, Söhne und Freunde zum zweiten Mal Opfer wurden, könnte ein guter Anlass sein, über die Grundlagen rassistischen Denkens in modernen Gesellschaften nachzudenken. Ein interessanter Ansatz, der Rassenlehre, “Bevölkerungspolitik”, staatliche Herrschafts- und Reinigungstechniken vom Gesundheitsamt über Grenzregime und Einwanderungpolitiken zu kriminalpolizeilichen Screening-Methoden bis hin zur absoluten Vernichtungspolitik des Holocaust differenziert erfassen kann, ist Michel Foucaults “Biomacht”. Man muss nicht in allen Teilen mit dieser Sicht der Rassismus-Geschichte einverstanden sein – zumindest aber regt sie zum Nachdenken über den Zusammenhang von Rassismus und staatlicher Herrschaft an, im Nationalsozialismus und weit darüber hinaus.

Der Berliner Philosophie-AK MoMo hat den Schlüsseltext, Foucaults Vorlesung am Collège de France vom 17. März 1976 (gedruckt erschienen bei Suhrkamp 1999 in der Übersetzung von Michaela Ott), online gestellt. Danke dafür.

 


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Quelle: https://kritischegeschichte.wordpress.com/2012/02/22/nachdenken-als-gedenken-michel-foucaults-vorlesung-uber-biomacht-und-rassismus-vom-17-marz-1976/

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