E-Science – Fachkonzept des Wissenschaftsministeriums Baden-Württemberg

Unter dem Titel E-Science – Wissenschaft unter neuen Rahmenbedingungen hat das Baden-Württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst unter Leitung von Theresia Bauer (Bündnis 90/Die Grünen) sein Fachkonzept zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Infrastruktur vorgelegt. Das Papier hat strategische Konzepte zu den E-Science-Bereichen Lizenzierung, Digitalisierung, Open Access, Forschungsdatenmanagement und Virtuelle Forschungsumgebungen zum Gegenstand. Die “Nachhaltigkeit und Nachnutzung wissenschaftlicher Daten wird [...] neben der Geräteausstattung ein immer wichtigerer Faktor für Forschungs- und Innovationsprozesse”, so Bauer im Vorwort.

Zur Pressemitteilung:
http://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/wissenschaft-unter-neuen-rahmenbedingungen-mit-e-science/

Zum Fachkonzept (PDF):
http://mwk.baden-wuerttemberg.de/uploads/media/066_PM_Anlage_E-Science_Web.pdf

 

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3895

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Versandhausgründer Otto mit Straße geehrt

Für den Hamburger Otto Konzern ist dieser August ein geschichtsträchtiger Monat: Der Geburtstag des 2011 verstorbenen Firmengründers Werner Otto jährt sich zum 105. mal – die Grundsteinlegung des Firmensitzes in der „Wandsbeker Straße“ im Stadtteil Bramfeld kann immerhin mit einem 55. Jahrestag gefeiert werden. Dieses Jubiläum nimmt der Senat zum Anlass, die „Wandsbeker Straße“ am heutigen 15. August in „Werner-Otto-Straße“ umzubenennen. Otto, der zu Lebzeiten nicht nur wichtiger Arbeitgeber sondern auch großzügiger Mäzen der Stadt war, gelingt es auf diese Art, auch noch nach seinem Tod Spuren in Hamburg zu hinterlassen.

Werner Otto ist im Bewusstsein vieler Menschen ein Ur-Hamburger und fest mit der Stadt verbunden. Tatsächlich hat er aber nur einen geringen Teil seiner Lebenszeit in der Hansestadt verbracht. Einer Anekdote zufolge, sollte er anfangs nicht einmal einen Gewerbeschein bekommen. Angeblich konnte man sich in der Stadt nicht vorstellen, wofür ein Schuhversand nützlich sein sollte.

Preußische Tugenden treffen auf Hanseatisches Unternehmertum

Geboren wird Werner Otto in der Mark Brandenburg, in der Gemeinde Seelow, etwa 80 Kilometer östlich von Berlin, wo er die ersten Jahre der Kindheit verbringt. Später zieht die Familie in die Uckermark, wo er das Gymnasium besucht und eine kaufmännische Lehre beginnt. Nach Zwischenstationen in Stettin, Berlin und dem westpreußischen Kulm kommt Otto erst zu Ende des zweiten Weltkriegs nach Hamburg. Wie er in seinem Buch „Die Otto-Gruppe“ schreibt, lediglich mit einem „Koffer mit Papiergeld“ sowie Ausweisen als Flüchtling, Schwerkriegsbeschädigter und politischer Häftling – nichts, was als Startvorteil dienlich gewesen wäre. Otto: „Es hieß wieder neu zu beginnen, gleichgültig wie und wo.“[i] Warum er ausgerechnet in Hamburg strandete, bleibt unklar und kann vermutlich dem Zufall zugeschrieben werden. Beziehungen oder Geschäftskontakte in der Stadt besitzt er nicht. 1948 eröffnet Werner Otto auf einem Grundstück in Hamburg-Schnelsen eine Schuhfabrik, die aber bald wieder schließen muss. Ein Jahr später gründet er schließlich im Alter von 40 Jahren die Firma „Werner Otto Versandhandel“, die am 17. August 1949 bei der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr eingetragen wird. Als Unternehmenssitz dienen zwei kleine Baracken in Schnelsen, in denen zu Beginn drei Mitarbeiter beschäftigt sind.

Doch bereits Anfang der 70er Jahre kann Werner Otto dem feuchten Klima in Hamburg nur noch wenig abgewinnen und entschließt sich, seinen Lebensmittelpunkt von der regnerischen Hansestadt nach Garmisch-Partenkirchen zu verlegen. Laut Michael Otto, dem ältesten Sohn des Versandhausgründers, sei sein Vater durch die zahlreichen Ortswechsel in seiner Jugend innerlich nie wirklich an eine bestimmte Stadt gebunden gewesen.[ii] So zieht es Werner Otto direkt nach der Wiedervereinigung zurück in die Hauptstadt Berlin, an der er vor allem das Schnelle und Quirlige liebt. Dort verbringt er seine letzten Lebensjahre. Hingegen stellt der frühere Bischof Professor Wolfgang Huber in seiner Predigt anlässlich der Trauerfeier zum Tode Werner Ottos heraus, dass dieser auf verschlungenen Wegen ein „überzeugter“ Hamburger geworden sei und erst in den letzten Lebensjahren wieder zum Berliner.[iii]

Der aufstrebende Unternehmer Anfang der 1950er Jahre an seinem Schreibtisch (Quelle: Otto Group)

Der aufstrebende Unternehmer Anfang der 1950er Jahre an seinem Schreibtisch (Quelle: Otto Group)

Der erste Katalog von "W. Otto" mit selbst eingeklebten Produktfotos (Quelle: Otto Group)

Der erste Katalog von “W. Otto” mit selbst eingeklebten Produktfotos (Quelle: Otto Group)

„Ich bin Hamburger geworden, ohne es richtig zu merken.“

Jedoch ist die Firma OTTO selbst seit jeher ein „Hamburger Kind“, wozu sich das Unternehmen über viele Jahre mit dem Slogan „Otto Versand – Hamburg“ bekannt hat. Werner Otto hatte erkannt, dass Kunden mit der Stadt Weitläufigkeit und Offenheit sowie die traditionelle Verlässlichkeit der Hanseaten verbanden. Er schrieb einmal dazu, Hamburg sei ein Begriff für die meisten Menschen in Deutschland, ein Begriff von Weltstadt und pulsierendem Leben, Hafenstadt, Tor zu Welt, Solidität und Korrektheit.[iv] Dabei steht 1958 auch der Standort in der Hansestadt in Frage. Ein neues Gelände für den Firmensitz wird gesucht, weil das alte zu klein und ohne Ausbaureserve ist. Während es in Hamburg keine geeignete Fläche zu geben scheint, kommen zahlreiche attraktive Angebote aus Schleswig-Holstein. Das Land hätte sogar verschiedene Steuervorteile versprochen, schreibt Otto später.[v] Schließlich fällt Werner Otto die Entscheidung für Hamburg, u.a. weil der Transfer der Mitarbeiter nach Schleswig-Holstein damals nicht möglich gewesen wäre. Zu seiner Standortwahl sagt er später: „Ich bin Hamburger geworden, ohne es richtig zu merken.“ Und: „Hamburg, das hat was.“[vi]

Und tatsächlich, durch sein Engagement hat es Werner Otto geschafft, sich selbst in die Geschichte und das Stadtbild Hamburgs einzuschreiben. Am augenscheinlichsten wird dies am Jungfernstieg, dessen Neugestaltung er mit vier Millionen Euro unterstützt, damit der Boulevard an der Hamburger Binnenalster in altem Glanz erstrahlen kann. „Hamburg braucht den Jungfernstieg, er ist wichtig für die Entwicklung der Stadt“[vii], erklärt Werner Otto am Rande der Jungfernstieg-Gala 2003. An anderer Stelle, im Rahmen eines Projekts der 1969 gegründeten “Werner Otto Stiftung”, wird das wissenschaftliche Behandlungszentrum für Krebskrankheiten im Kindesalter an der Universitätskinderklinik Hamburg-Eppendorf eröffnet. 1974 gründet Werner Otto das „Werner Otto Institut“ auf dem Gelände der Stiftung Alsterdorf in Hamburg, die erste und bisher einzige Spezialeinrichtung Norddeutschlands, die sich ausschließlich mit der Früherkennung und Behandlung entwicklungsgestörter oder behinderter Kinder und Jugendlicher befasst.

13. August 1959: Grundsteinlegung für den Neubau des Otto Versands in Hamburg-Bramfeld (Quelle: Otto Group)

13. August 1959: Grundsteinlegung für den Neubau des Otto Versands in Hamburg-Bramfeld (Quelle: Otto Group)

V.l.n.r.: Dr. Michael Otto mit Frau Christel, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren und Alexander Otto mit seiner Frau Dorit bei der Einweihung des Jungfernstiegs im Mai 2006 (Quelle: ECE)

V.l.n.r.: Dr. Michael Otto mit Frau Christel, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren und Alexander Otto mit seiner Frau Dorit bei der Einweihung des Jungfernstiegs im Mai 2006 (Quelle: ECE)

Der Heimat treu geblieben

Doch auch seine Heimat vergisst Werner Otto nie. Wie sein Sohn Alexander Otto beschreibt, hat sich Werner Otto gegen Lebensende immer stärker mit dem Osten Deutschlands verbunden gefühlt, mit den Orten, in denen er seine Jugend verbracht hat.[viii] Beispielsweise unterstützt er die Restaurierung seiner Taufkirche in Seelow, die im 2. Weltkrieg zerstört wurde. Als der Seelower Superintendant Roland Kühne schriftlich fragt, ob Werner Otto Ehrenmitglied des Fördervereins für den Wiederaufbau des Turms werden wolle, antwortet dieser: „Nein, damit ist Ihnen ja nicht gedient. Aber ich übernehme die Hauptkosten.“[ix] So erklingt nach 53 Jahren in Seelow wieder ein Glockengeläut, was eine ganz besondere Bedeutung für Werner Otto hatte.

Ähnlich pragmatisch geht Werner Otto bei der Restaurierung des Potsdamer Schlosses „Belvedere“ vor. Zunächst hatte er 2,3 Millionen Euro zugesagt, eine Summe, die gerade für die Instandsetzung des Westturms der Anlage ausreicht. Bei der Eröffnung 1992 sagt Werner Otto fast beiläufig zur damaligen brandenburgischen Finanzministerin Wilma Simon: „Wir sollten das jetzt mal fertigbauen, ich übernehme auch noch den anderen Turm.“[x] In Berlin spendet Werner Otto u.a. dem Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt 4,5 Millionen Euro für die Gestaltung eines Werner-Otto-Saals, der heute für Kammerkonzerte, Bankette oder Proben genutzt wird.

An fast jedem Ort, an dem er lebte, hat Werner Otto seine Spuren hinterlassen und ist auf diese Weise Teil der jeweiligen Stadt geworden. Wie Wolfgang Peiner, früherer Mitarbeiter Werner Ottos und ehemaliger Finanzsenator Hamburgs, beschreibt, steht dieser auch für die Stadt an sich. „Er ist Großstädter aus Überzeugung und setzt sich für eine menschengerechte Stadtentwicklung ein.“[xi] Werner Otto selbst erklärt, Menschen seien ihm wichtiger als Bilanzen[xii]. Für Hamburgs ehemaligen Bürgermeister Ole von Beust besteht darin seit jeher ein Teil des Selbstverständnisses der Hamburger Bürgerrepublik. Wenn es darum geht, Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen, hätten Persönlichkeiten wie Werner Otto Maßstäbe gesetzt. „Kaum eine Person, kaum eine Familie nimmt sowohl hanseatische Tradition als auch Unternehmerverantwortung so ernst wie Werner Otto, wie die Hamburger Unternehmerfamilie Otto.“[xiii] Sicher kommen Werner Otto, der sagt, er habe die Merkmale der Mark verinnerlicht[xiv], dabei auch seine preußischen Wurzeln und Tugenden zugute.

Bundespräsident Johannes Rau und seine Frau Christiane mit Werner Otto (v.l.) im Juni 2003 bei der Einweihung des restaurierten Belvedere. (Quelle: ECE)

Bundespräsident Johannes Rau und seine Frau Christiane mit Werner Otto (v.l.) im Juni 2003 bei der Einweihung des restaurierten Belvedere. (Quelle: ECE)

11.08.2009: Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit  V.l.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren (Quelle: Trenkel/BExclusive)

11.08.2009: Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit
V.l.: Der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit, Prof. Dr. h.c. Werner Otto mit Frau Maren (Quelle: Trenkel/BExclusive)

Ehre, wem Ehre gebührt

Für sein unternehmerisches und soziales Engagement erhält der Versandhausgründer verschiedene Auszeichnungen, z.B. das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, die Ehrendenkmünze in Gold des Hamburger Senates, den Ehrentitel Professor der Freien und Hansestadt Hamburg, die Ernst-Reuter-Plakette des Senates Berlin, den Verdienstorden des Landes Brandenburg sowie die Ehrenbürgerwürde in Berlin und seiner Geburtsstadt Seelow. Zur Verleihung der höchsten Auszeichnung des Hamburger Senats, der Bürgermeister-Stolten-Ehrenmedaille, erklärt Ole von Beust, das von Werner Otto gegründete Unternehmen habe längst Weltgeltung erlangt und ergänzt scherzhaft: „Einziger Wermutstropfen, Sie sind kein Hamburger.“[xv]

Letztlich hat diese Tatsache Werner Ottos Ansehen und Gedenken aber nicht geschadet. Mit der Ehrung durch die eigene Straße beweist Hamburg mehr als nur Gastfreundschaft. Mit ihr ist Werner Otto nun im wahrsten Sinne des Wortes Teil der Stadt.


[i] Otto, Werner: Die Otto-Gruppe, S. 35

[ii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 43

[iii] Vgl. Huber, Wolfgang: Predigt in der Trauerfeier. http://www.wolfganghuber.info/predigten/112-zur-trauerfeier-fuer-werner-otto.html

[iv] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 72

[v] Otto, Werner: Die Otto-Gruppe, S. 65

[vi] Mattner, Dr. Andreas /Robert Heinemann: Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3, S. 16

[vii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 189

[viii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 149

[ix] Mattner, Dr. Andreas /Robert Heinemann: Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3, S. 14

[x] Mattner, Dr. Andreas /Robert Heinemann: Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3, S. 15

[xi] http://www.werner-otto.info/zitate.html

[xii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 201

[xiii] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 209

[xiv] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 14

[xv] Schmoock, Matthias: Werner Otto – Der Jahrhundert-Mann, S. 210

 

Literaturhinweise:

  •  ECE Projektmanagement G.m.b.H. & Co. KG: Zitate. http://www.werner-otto.info/zitate.html. 11.08.2014
  • Huber, Wolfgang: Predigt in der Trauerfeier für Werner Otto am 19. Januar 2012 in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin. PDF http://www.wolfganghuber.info/predigten/112-zur-trauerfeier-fuer-werner-otto.html. 11.08.14
  • Mattner, Dr. Andreas/Heinemann, Robert; Stiftung Lebendige Stadt (Hrsg.): Schriftenreihe Lebendige Stadt. Band 3: Die menschliche Marktwirtschaft. Unternehmer übernehmen Verantwortung. Frankfurt am Main 2004.
  • Schmoock, Matthias: Werner Otto. Der Jahrhundert-Mann. Frankfurt am Main 2009.
  • Otto, Werner: Die Otto-Gruppe. Mit 12 Unternehmerprinzipien zum Erfolg. Düsseldorf und Wien 1983.

Zum Weiterschauen:

WDR: Deutsche Dynastien. Otto. https://www.youtube.com/watch?v=vgVGzWh78w0

 

 

Quelle: http://www.hh-geschichten.uni-hamburg.de/?p=1485

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Gesagt? Getan! │ Bausteine für mehr Handlungsorientierung in der Lehre

Seit die Bologna-Reform immer stärker Fuß fasst, hält auch die Kompetenzorientierung Einzug in die universitäre Lehre.1 Ein Aspekt davon, nämlich die Idee der Handlungsorientierung, ist jedoch viel älter. Pestalozzi nannte es “Lernen mit Kopf, Herz und Hand”, Maria Montessori fasste es in die ihr wenigstens zugeschriebene Formulierung “Hilf mir, es selbst zu tun”. Im vergangenen Semester habe ich ausprobiert, wie viel Selbst-Tun im bibelwissenschaftlichen Proseminar überhaupt möglich ist. Einige Bausteine für eine stärkere Handlungsorientierung möchte ich vorstellen. Und damit zugleich die Frage verbinden: Welche […]

Quelle: http://grammata.hypotheses.org/749

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Offener Brief an den Archivgesetz-Sachverständigen Prof. Dr. Eric Steinhauer

Lieber Herr Steinhauer,

der Landtag hat die Chance verschenkt, bei der Anhörung zur Evaluierung des NRW-Archivgesetzes am 28. August 2014

http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.1/Tagesordnungen/WP16/800/E16-829.jsp

Stimmen aus dem Umfeld der gegen den Verkauf von Archivgut gerichteten Petition

https://www.openpetition.de/petition/online/kein-verkauf-von-kommunalem-archivgut-in-nrw (derzeit 1771 Unterstützer)

oder auch nur Vertreter der mitbetroffenen Universitätsarchive als Sachverständige einzuladen. Der Sprecher unserer Arbeitsgemeinschaft der NRW-Universitätsarchive, Herr Freitäger, hat bei seiner Unterschrift unter die Petition zu Protokoll gegeben, dass seine Eingabe an das federführende Ministerium noch nicht einmal einer Antwort gewürdigt wurde.

Ich darf Sie bitten, dringend dafür zu plädieren, die im deutschen Archivrecht singuläre Vorschrift, wonach kommunales und Archivgut der unter der Aufsicht des Landes stehenden Körperschaften (also vor allem der Universitäten) veräußert werden darf, ersatzlos zu streichen.

Ich darf zur Begründung auf die Begründung der Petition und meine eigene Stellungnahme von 2009 verweisen:

http://archiv.twoday.net/stories/6070626/

Ergänzend dazu:

Der von den Archivaren festzustellende bleibende Wert von Unterlagen entfällt nicht dadurch, dass eine Kommune in Zeiten klammer Kassen Archivgut verkaufen möchte. Ich darf Sie an die Causa Stralsund erinnern. Glücklicherweise konnte dort die Entscheidung, eine historische Gymnasialbibliothek zu veräußern, rückgängig gemacht werden.

Auch die Kommunalarchivare selbst sind – anders als ein Teil der kommunalen Spitzenverbände – gegen die Veräußerungsmöglichkeit. Nach herrschender archivrechtlicher Ansicht impliziert die gesetzliche Bewertungskompetenz der Archivare eine Weisungsfreiheit, siehe etwa mit Bezug auf Manegold

http://archiv.twoday.net/stories/2699909/

Die amtliche Begründung sagt zu § 2 Abs. 6 Archivgesetz NRW

http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD14-10028.pdf

“Darüber hinaus wird klargestellt, dass die Entscheidungsbefugnis
über die Archivgutbildung allein unter fachlichen Gesichtspunkten zu treffen ist und daher ausschließlich beim zuständigen Archiv liegt.” Nicht beim Archivträger! Es besteht also klar ein Wertungswiderspruch zwischen der Entscheidung des Gesetzgebers, die Bewertungskompetenz – weisungsfrei – in die Hände des Fachpersonals zu geben, und dem Freibrief für den Archivträger, Sammlungsgut zu veräußern.

Nachkassationen sind umstritten, wie die auch archivrechtlich argumentierende Transferarbeit von Hanke 2006 zeigt:

http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/44242/transf_hanke.pdf

Nachkassationen regelt das NRW-Archivgesetz in dem auch für kommunale und die weiteren öffentlichen Archive geltenden § 5 Abs. 2. Hierzu die amtliche Begründung:

“Satz 4 eröffnet dem Landesarchiv ausnahmsweise in besonders begründeten Einzelfällen (z.B., wenn zum Zeitpunkt der Übernahme keine vollständige Bewertung möglich war) die Möglichkeit, nicht mehr archivwürdige Unterlagen zu vernichten. Die Entscheidung über die Archivwürdigkeit liegt auch in diesen Fällen ausschließlich beim Landesarchiv.”

Um eine solche Nachkassation handelt es sich bei der Freigabe von Sammlungsgut nicht. Wenn die Archivare Sammlungsgut zum bleibenden Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses erklärt haben und aus fachlichen Gründen eine Nachkassation, die zwingend auf die Vernichtung hinausläuft, nicht in Betracht kommt, kann trotzdem der Archivträger sich – faktisch beliebig – über die Fachkompetenz hinwegsetzen und den Archivar oder die Archivarin anweisen, das Archivgut etwa einem Auktionshaus auszuhändigen. Einen Rechtsschutz gegen diese Maßnahme für die betroffenen Archivare oder andere Betroffene (z.B. Schenkungsgeber) bietet das Verwaltungsrecht nicht an.

Dieter Strauch hat in der kürzlich erschienenen Zweitauflage seines Standardwerks “Das Archivalieneigentum” im Kapitel “Kommunale Archive als GmbH?” (2014, S. 207ff.) die Veräußerungsproblematik erörtert. Seine Ausführungen sind zwar prima facie für die Veräußerungsgegner eher positiv, gehen aber an den faktischen Machtverhältnissen vorbei und können auch juristisch in Frage gestellt werden, da sich eine feste Auslegung nicht etabliert hat.

Nach Ansicht von Strauch (S. 216) verletzt die Veräußerung von Archivgut dann geltendes Recht und kann von der allgemeinen Rechtsaufsicht beanstandet werden, wenn es zu den in § 18, II Verf NRW genannten Geschichts- und Kulturdenkmalen gehört. Dann wäre der Kaufvertrag und die Übereignung der Archivalien nach § 134 BGB nichtig. Ein Gericht könnte die Auslegung der Begriffe Geschichts- und Kulturdenkmale voll überprüfen. Aber das würde voraussetzen, dass eine Klagebefugnis besteht. Nach herrschender Meinung kann sich nur die betroffene Kommune gegen die Kommunalaufsicht wehren. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass das Land bei der Kommunalaufsicht hinsichtlich der Veräußerung von Archivgut sonderlich streng vorgeht. Beanstandet es nicht, kann kein Gericht eingreifen.

Weder Schenkungsgeber noch betroffene Forscher, denen die Arbeitsgrundlage durch eine Veräußerung entzogen wird, steht eine Klagebefugnis nach derzeit überwiegender Meinung zu. Das hat auch das VG Sigmaringen signalisiert, als ich als betroffener Wissenschaftler eine Klage gegen die Veräußerung des Wolfegger Hausbuchs einreichte, die ich wieder zurückziehen musste, da die Veräußerung bereits erfolgt war.

Strauch verkennt, dass das Land NRW skandalöserweise nicht bereit ist, privates und öffentliches Archivgut denkmalschutzrechtlich zu schützen. Das Denkmalschutzgesetz des Landes klammert das Archivgut aus!

Es ist außerordentlich fraglich, ob ein Verwaltungsgericht so mutig sein wird, denkmalschutzrechtlich nicht eintragbares Archivgut trotzdem als nach der NRW-Landesverfassung als “Denkmal” geschützt anzusehen. Zur allgemeinen juristischen Problematik verweise ich auf meinen Aufsatz in LIBREAS 2013:

http://www.ib.hu-berlin.de/~libreas/libreas_neu/02graf.htm

Strauch argumentiert, dass die Entscheidung über die Veräußerung von Archivgut nicht zu den Geschäften der laufenden Verwaltung gehört, sondern vom Rat beschlossen werden muss (S. 217), was die Chance eröffnet, dass der Casus in der Presse oder Öffentlichkeit diskutiert wird. Im Fall Stralsund hat aber der in einer Ausschusssitzung getroffene Beschluss weder bei Presse noch bei der Öffentlichkeit zu Nachfragen geführt. Ob die Kommunalaufsicht tätig wird, kann sie selbst – faktisch nach Gutdünken – entscheiden. Ein Rechtsanspruch auf ein Einschreiten besteht erneut nicht.

Selbst wenn man Strauch folgt, spricht alles dafür, dass eine rechtswidrig von der Verwaltung statt vom Rat vorgenommene Veräußerung folgenlos bleibt.

Strauch referiert eine Rechtsansicht, dass die Veräußerung von Archivgut anerkennungsbedürftig sei, da ein staatliches Mitwirkungsrecht gegeben sei, also ein Kondominium vorliege (S. 217). In diesem Fall dürfte die Aufsichtsbehörde auch Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen.

Nun könnte man fordern, dass
- bei Archivgutveräußerungen ein förmliches Genehmigungsverfahren installiert werden müsse
- wenigstens für die Universitätsarchive bzw. die weiteren öffentlichen Archive nach § 11 ArchivG NRW die Unveräußerlichkeit auch bei Sammlungsgut festgeschrieben wird

Aber am besten streicht man die Möglichkeit der Gemeinden, ungestraft Teile des kulturellen Gedächtnisses verscherbeln zu dürfen, ganz! Sie verstößt gegen den in der Landesverfassung angeordneten Schutz der Denkmale der Geschichte und Kultur, zu denen immer auch das nach archivfachlichen Grundsätzen bewertete archivische Sammlungsgut zählt.

Lieber Herr Steinhauer, hören Sie bitte auf die Stimme der Archivarinnen und Archivare, die sich in der Ablehnung einig sind, und auf die vielen Unterzeichner der Petition und machen Sie unser Anliegen auch zu Ihrem.

Herzlichen Gruß
Ihr Klaus Graf

Quelle: http://kulturgut.hypotheses.org/407

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Soziologischer Monatsrückblick Juli 2014

Langsam, aber sicher nähern wir uns dem Redaktionsschluss am 31.08.2014! Nach einer langen Zeit des aufmerksamen Lesens, intensiven Nachdenkens und Bewerten  während der beiden Reviewphasen durch unsere Redaktion und den Wissenschaftlichen Beirat werden wir Mitte August über die endgültigen Beiträge … Continue reading

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/7168

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Birgitta Atlas – Saint Birgitta’s Monasteries

Die Birgitten gehören zu den unbekannteren Orden der Katholischen Kirche. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht dem beliebten Schema, es ist, wie es scheint, entspricht. Vielmehr fragt man sich bei den Birgitten unwillkürlich, was wäre denn, wenn es nicht ist, wie es scheinen soll? Gemeint ist die Gender-Frage der Kirche. Wie bei Kanonissen oder manchem eher regional verbreiteten Orden (Ordre de Font-Evraud) gibt es Konvente beiderlei Geschlechts. Doch im Gegensatz zu den typischen Doppelklöstern der Benediktiner und anderer Gemeinschaften des Hochmittelalters, die später getrennt wurden oder deren zumeist weiblicher Teil irgendwann einging (vgl. Göttweig, die Petersfrauen in Salzburg etc.), zeichnet sich die Gruppe durch die zumindest nominelle Herrschaft der Äbtissin über den Gesamtkonvent aus. Auch strukturell kommt diesen weiblich regierten Gemeinschaften eine größere Stabilität zu, was auch für die offiziell als Erlöserorden bezeichneten Birgitten gilt, die der Augustinerregel folgen.

Gegründet von der Heiligen Birgitta von Schweden verbreitete sich die Gemeinschaft über große Teile Europas, so dass es folgerichtig war, die Urheberin, zugleich bedeutende und früh gedruckte theologische Autorin, 1999 zu einer Patronin Europas zu erklären

Dem entsprechend versteht sich der schon 2013 erschienene Birgitta Atlas (Birgitta Atlas. Saint Birgitta’s Monasteries. Die Klöster der Heiligen Birgitta, hg. v. Ulla Sander-Olsen, Tore Nyberg und Per Sloth Carlsen, [Uden] 2013) als transeuropäisches Projekt der Societas Birgitta-Europa mit Sitz in Vadstena (Schweden). Und es handelt sich zumindest vom Format her tatsächlich um einen Atlas. Nach Überblicken, darunter einer Einführung von Tore Nyberg, bekannt durch seine Quellensammlung „Dokumente und Untersuchungen zur inneren Geschichte der drei Birgittenklöster Bayerns 1420-1570“, 2 Bde. (Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte NF 26/1-2), München 1972-1974, folgen nach den Regionen gegliederte Einzelbeiträge zu allen Klöstern: Skandinavien, Italien, Königreich Polen, England/Portugal, Heiliges Römisches Reich mit den heutigen Niederlanden und französisch Flandern. Ein Appendix behandelt den Orden in der Hispanica, besonders Mexiko. Der Orden verbreitete sich nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich breit. Lediglich für das 16. und das 18. Jahrhundert sind keine Neugründungen vermerkt. Die letzte vorreformatorische Gründung, an Stelle eines älteren Klosters, entstand in Altomünster bei Dachau, dessen weiblicher Konvent bis heute blüht, womit er wie der in Uden (Nordbrabant, nominell erst 1713 entstanden) die verschiedenen staatlichen Aufhebungswellen überlebt hat.

Inhaltlich bieten die Beiträge im englisch-deutschen Paralleltext jeweils Grundübersichten zur Klostergeschichte und ausgewählte Literaturhinweise, die zu einer vertieften Auseinandersetzung einladen sollen. Damit kann der Birgitta Atlas nicht als typisches Klosterbuch mit stark schematisierten Artikeln bezeichnet werden. Dennoch erzählen die Beiträge regelmäßig zahlreiche Aspekte wie Bibliotheksbesitz, Konventsstärke und Zusammensetzung, Autorinnen und Autoren, archivalische Überlieferung etc. Außerdem ist das Werk reich illustriert. Neben Abbildungen aus Manuskripten und Archivalien finden sich besonders architektonische Materialien: Pläne, historische und aktuelle Ansichten, die in nuce eine Kunstgeschichte des Ordens schreiben. Dies ist nicht nur schön zu betrachten, sondern berücksichtigt zugleich die zumindest früher stark kunsthistorische Ausrichtung der Ordensgeschichte.

Zu erwerben ist das ohne ISBN-Nummer erschienene Werk zum Beispiel in Altomünster (http://www.altomünster.de/Kirche,Kultur-Verein/SocietasBirgitta-Europa.aspx).

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/7901

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Aufruf zum Blogkarneval: Politische Wissenschaften, Internationale Beziehungen und Neue Medien

4323071021_a2247aab2c_mein Beitrag von Ali Arbia

Wir (d.h. der IR Blog, das Bretterblog und ich auf zoon politikon) organisieren gerade einen Blogkarneval zum Thema “Politische Wissenschaften, Internationale Beziehungen und Neue Medien”. Ausschlag gab ein Forum in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB) zu diesem Thema. Ich selber wurde von der ZIB angefragt einen Beitrag zum Thema Internationale Beziehungen und Blogs zu verfassen (diesen findet man hier). Wir haben uns nun gedacht, dass es Sinn machen würde, diese Debatte auch online zu führen und der Verlag hat sich deshalb bereit erklärt, die diversen Beiträge als PDFs online zu stellen. In den Beiträgen werden eine Vielzahl von Themen angesprochen, die als thematische Anregung dienen können für den Blogkarneval:

  • Die besondere Eignung der Internationalen Beziehungen und der Politikwissenschaften, um via Blogs zu kommunizieren und Einfluss zu nehmen,
  • der Sprach- (und/oder) Kulturgraben Englisch-Deutsch (im deutschsprachigen Raum existieren die Internationalen Beziehungen kaum in der Blogosphäre und verlieren so den Anschluss),
  • den akademischen Nutzen von Blogs,
  • Blogs als Instrument im Unterricht,
  • Bedeutung für die Wissenschaftskommunikation,
  • Karriereeffekt für junge Bloggerinnen und Blogger in der Universitätslandschaft und vieles mehr.

Das verlinkte Forum fokussiert auf diese Fragen im Kontext des Faches der Internationalen Beziehungen. Es wäre interessant zu sehen, inwiefern diese Feststellungen generalisierbar sind und ob sie auf andere, benachbarte Disziplinen übertragen werden können.

Der Karneval ist für nächste Woche geplant aber natürlich können Beiträge auch noch später erscheinen. Ich würde alle Links bei mir im Blog sammeln. Wir denken, es ist eine gute Gelegenheit, uns gegenseitig ein wenig besser zu vernetzen und gleichzeitig eine wichtige Diskussion zu führen. Vielleicht schaffen wir es sogar auch, ein bisschen mehr Sichtbarkeit und Bewusstsein bei unseren nicht-bloggenden Kolleginnen und Kollegen der IB für die neuen Medien zu schaffen.

Es würde mich freuen, wenn die einen oder anderen unter Euch Lust haben mitzumachen. Für Fragen, Anregungen und Feedback stehe ich gerne zur Verfügung unter ali.arbia[ät]graduateinstitute.ch.

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Foto: ‘Right where they left you…‘ von Geraint Rowland, CC-BY 2.0.

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/2485

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Lexikon zur Computergeschichte: IO.SYS

Die Konfigurationsdatei wird nach dem Laden des Bootsektors eines MS-DOS oder Windows 9x Betriebssystems abgearbeitet. Der Name leitet sich von Input/Output ab und signalisiert bereits, dass die Datei die Grundlegenden Funktionen des PCs initialisiert. Unter MS-DOS lädt Sie danach die Datei MS-DOS.SYS, welche in Windows 9x bereits in die IO.SYS integriert ist. Ihr Pendent unter […]

Quelle: http://www.einsichten-online.de/2014/08/5289/

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“Es wurde nicht über etwas gesprochen, was ja eh alle gleichzeitig erlebt hatten”: Erfahrungsbericht aus Berlin

Kurz nach dem Fernsehbeitrag bei nano auf 3sat erreichten mich wieder einige Rückmeldungen, darunter eine besonders interessante einer 1932 in Berlin geborenen Frau, deren Email ich hier gerne teilen möchte. Der Fernseh-Beitrag wurde später bei Quarks & Co. auf der Webseite gezeigt und bei Facebook diskutiert:
https://www.facebook.com/QuarksundCo/posts/10154313784930564

Ich bekam aber auch eine Email von einer Frau aus Berlin (geb. 1932), die mich besonders berührt hat und die ich hier gerne als persönlichen Erfahrungsbericht veröffentlichen möchte.1

Hallo Sascha Foerster,

nein, ich bin keines der 4000 Nachkriegskinder, von denen Studien gemacht wurden über 10 Jahre lang, schon darum, weil ich als Berlinerin (1932-1950) dafür gar nicht in Frage kam.

Ich habe mich jedoch in der Vergangenheit sehr oft mit dem auseinandergesetzt, was meine Generation erlebt hat und was niemals auch nur ansatzweise in irgendeiner Form hinterfragt wurde. Es ist, als wäre das, was wir erlebt hatten während unserer Kindheit (häufige nächtliche Fliegeralarme; Angst vor Bomben von den Flugzeugen am Himmel und den Splittern der Flakgeschosse; Angst dann vor den herannahenden sowjetischen Truppen; Angst zu hungern; Angst, die betrunkenen russischen Soldaten könnten mich (knapp 13), meine Mutter oder die Nachbarin die ersten Wochen im Mai 1945 nachts in unserem Versteck im Kohlenkeller finden; Angst, die zwei russischen Soldaten, die eines Tages in unser kleines Haus am Rand von Berlin kamen und ‘Uhri, Uhri’ suchten und meinem Vater eine Pistole an die Schläfe setzten, könnten ihn wirklich erschiessen, dann – ich weiss nicht, ob das nicht noch schlimmer war – die ersten Tages-Zeitungen, die einige Wochen nach dem Ende des Krieges wieder erschienen und über die Greuel des Volkes berichteten, zu dem ich gehörte, die an den Insassen der KZs begangen worden waren…… Und der Hunger, zwei Jahre lang. Ich erinnere mich lebhaft an die Lektüre der Morgenzeitung, ich denke, es war die MORGENPOST, die ich täglich las, jedes Wort über all’ die Verbrechen, die die Nazis an den Juden, Zigeunern, Andersgläubigen und denkenden begangen hatten. Ich erinnere mich daran, wie elend und hilflos ich mich damals gefühlt hatte und – wie allein. Niemals und niemand hat jemals mit mir über all’ diese Erlebnisse gesprochen. So war das eben. Es WURDE NICHT ÜBER ETWAS GESPROCHEN, WAS JA EH’ ALLE GLEICHZEITIG ERLEBT HATTEN. Man tat seine Pflicht, hatte seine Aufgaben und übte daneben Treu’ und Redlichkeit! Das scheint mir heute noch das Unmenschlichste an der Situation!

Ich hatte mich – (mit 9 Jahren wohlgemerkt!) – auf Fragen meines Vaters für den Besuch des Lyzeums entschieden und ging also dann nach angemessener Zeit wieder regelmässig zum Unterricht, meine Leistungen wurden aber immer schlechter und ich hielt mich schlicht für zu dumm und glaubte nicht einmal, das Abitur je zu bestehen. Bestand es dann aber doch knapp, dachte jedoch niemals an ein Studium und es war niemand da, der mit mir je darüber sprach oder mir zusprach. Man war wohl einfach froh, alles einigermassen heil überstanden zu haben, im Gegensatz zu meiner Grossmutter, die noch 3 Monate vor Ende des Krieges im Zentrum Berlins (Mitte), durch eine Sprengbombe bei einem Luftangriff im Luftschutzkeller ums Leben kam. Der Grossvater war zu diesem Zeitpunkt noch an seinem Arbeitsplatz, wenige Kilometer entfernt. Er hat den Tod seiner Frau nie mehr verwunden. Und diese Grossmutter hatte bei Familienfesten nie verabsäumt, über ‘diesen Verbrecher, diesen Halunken….’ zu schimpfen.
Nach dem Sommer 45, als die Dinge sich einigermassen wieder ‘normalisiert’ hatten, bekamen wir einen neuen Mathe-, Physik- und Chemielehrer’, direkt aus Auschwitz. Er sah sehr jüdisch aus und war mild und sehr freundlich. Er war, denke ich, nicht älter als Ende 2O. Er stellte uns auch seine junge Frau vor, ebenfalls sehr jüdisch aussehend. Sie hatten beide Auschwitz überlebt, aber nicht ihre dort geborenen Zwillinge. Etwa 25 Jahre später hatte ich beide in San Francisco/Cal. besucht und später mit einer Schulfreundin auch die
Witwe allein noch einmal. Sie hatten sich sehr über unsere Besuche gefreut, – auch wenn wir die einzigen Schülerinnen waren, von denen sie jemals noch nach ihrem Auszug aus Berlin etwas gehört oder gesehen hatten.

Verzeihen Sie, dass diese e-mail so lang geworden ist. Es ‘läppert sich’ zusammen, auch wenn man nur einige Punkte aus einem langen Leben erwähnen wollte.

Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Studien. Und viel verwendbares Material!

Mit freundlichen Grüssen
HL

Auf diese Email hin fragte ich nach, ob ich sie als Erfahrungsbericht veröffentlichen darf und ob sich die Erfahrungen ihrer Meinung nach auf ihren Lebenslauf ausgewirkt haben. Als Antwort erhielt ich eine weitere spannende Email:

Lieber Sascha Foerster,

ich bedanke mich sehr für Ihre e-mail, die nun schon seit dem 4. Juli auf meine Antwort hier auf meinem laptop wartet. Entschuldigung! Es ist so heiss hier, in Südwest-Spanien an der Küste und ich habe mich z.T. nicht gut genug gefühlt, um zu antworten. Aber – obwohl es heute genauso heiss ist – fühle ich mich doch beinahe genötigt, Ihnen zu antworten: es ist der 70. Jahrestag des Hitler Attentats und gleichzeitig der 70. Todestag des  damaligen Hitler-Attentäters Stauffenberg und ich kann mich noch sehr genau an meine Reaktion – die eines ignoranten 12-jährigen BDM-Mädchens – erinnern auf die Radiomeldung vor 70 Jahren! Heute bewundere ich Stauffenberg sowie den gesamten Hitler-Widerstand natürlich sehr, und bedaure ausserordentlich, dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg sein Leben daraufhin lassen musste und der wahre Kriegsverbrecher und Mörder nochmals fast ein weiteres Jahr weiterherrschen konnte!

Sie dürfen meine Reminiszenzen gerne weiterverwenden, wenn sie Ihnen für Ihr Projekt dienen können. Auf Ihre Frage nach direkten Einwirkungen des 2. Weltkrieges und besonders des Hitler-Regimes auf meinen Lebenslauf, kenne ich nur einen Punkt: Ich habe mich von meinem 13. Lebensjahr bis vor wenigen Jahren – bis es mir ganz bewusst war – als Deutsche SEHR SCHULDIG gefühlt! Vergessen Sie nicht: uns wurde schon bei den Jungmädchen (die jüngere Garde der BDM-
Mädchen, von 10 – 14 Jahren) eingeredet, dass WIR, besonders die blonden, blauäugigen Menschen die wertvolleren der Spezi Mensch waren. (Da kommt mir eine Erinnerung: Ich fuhr einmal während des Kriegs mit einem Zug – ich vermute von Küstrin oder Landsberg a. W. nach Berlin und, als der Zug kurz halten musste an einem kleinen Bahnhof, sah ich eine Gruppe, – wohl Kriegsgefangener,  -  dort stehen. Einer der Zuggäste meinte, es seien kanadische Kriegsgefangene. Daraufhin beobachtete ich die Männer ganz genau und fand, als 11-12-jähriges Kind, dass
diese eigentlich genauso aussähen wie Deutsche!) Irgendwie tröstet mich diese Erinnerung, die sehr lebhaft ist, denn sie zeigt, wie immer man uns von der Politik oder der Hitler-Jugend indoktriniert hatte:
Ich kleines Mädchen hatte mir eine eigene Meinung gebildet, wenn mir die Möglichkeit gegeben war, selber zu beurteilen. Natürlich lebten wir damals ohne die vielen Medien, die Kindern, resp. allen Menschen, heute zur Verfügung stehen. Meine Eltern konnten sich – finanziell - nur EINE Tageszeitung halten, es gab kaum, – oder meine Eltern konnten es sich nicht leisten- , Wochenzeitschriften, keine anderen politischen Radiosendungen als die NAZI-gesteuerten, die ebenfalls von
der Regierung erstellten Wochenschauen im Kino, natürlich kein Fernsehen etc. Ich frage mich natürlich, wenn ich meinen letzten Absatz nachlese, können Sie, ich meine, Ihre Generation, noch vollumfänglich die Grenzen nachvollziehen, die die den Menschen damals gezogen wurden? Das ist nicht als Kritik gedacht, natürlich nicht. Ich kann nur alle jungen Menschen ermuntern, sich für demokratische, freiheitliche Regierungen einzusetzen, dafür zu kämpfen, für sich und die folgenden Generationen.

Ja, jetzt möchte ich doch noch einmal auf meine Schuldgefühle, die mich als junges deutsches Mädchen bei Kriegsende befallen und mich dann mindestens 5 Jahrzehnte belagert hatten, ein-
gehen. Ich war als 13-Jährige so entsetzt, was ich nach Kriegsende in den Zeitungen las über die Naziverbrechen – besonders die KZs – und was den Juden dort angetan worden war, dass es meine Seele wohl für Jahrzehnte zugeschüttet hatte.

Nach Schulabschluss, 1950, in Berlin, war einerseits meine Angst davor, dass die Russen eines Tages/Nachts diese Insel einfach einnehmen konnten,so gross und andrerseits die Alternative: ‘Was tun?, sprach Zeus’  so erdrückend, dass ich mich als unerfahrene Achtzehnjährige (mein Vater hatte mir eröffnet, dass er mir kein Studium zahlen würde/könnte und mein Minderwertigkeitsgefühl so gross (Studium? Welches? Und : Das würde ich sowieso nicht schaffen/können) umsah und – mir einen Platz als mothers’ help (heute: au pair) in einem englischen Haushalt besorgte!  Wohlbemerkt: ohne PC, i-Pad, i-Phone, Fax, handy oder Telefon (wir hatten keines!).
Es ging auch mit Briefmarken, Adresse noch mit Füller aufs Couvert schreiben. Kugelschreiber gab es, glaube ich, auch noch nicht! Und, natürlich, ohne Flugticket, sondern als Beifahrerin in einem Laster bis Köln, glaube ich, und von da mit der Bahn (3. Klasse, Holz!) bis an den Kanal in Belgien. Dann kam der wunderbare englische Zug mit gepolsterten(!) Bänken, einem aufgeklappten Tisch zwischen den beiden Bänken, auf dem ein Zugkellner ‘high tea’ servierte. Gottlob war mein Englisch (8 Jahre am Lyzeum bis zum Abitur) recht gut und ich konnte meinen englischen Mitreisenden, die mich dann zum high tea eingeladen hatten, als sie das dünne, blonde, deutsche Mädchen hörten, eindrücklich auf Englisch alles erzählen. Von Berlin und von East Yorkshire, wohin ich noch mit dem Zug von London aus reisen musste. Nun, ich hatte sehr viel Glück
mit der englischen Familie mit drei kleinen Mädchen, dem etwa 30-jährigen Ehepaar, mit dem grossen englischen
Land-/Farmhaus und mit allen Verwandten und Nachbarn der Familie. Ich wäre dann gerne nach knapp 2 Jahren für immer
in England geblieben. Das liess sich jedoch nicht verwirklichen, 5 – 7 Jahre nach dem Krieg!
So bin ich danach wieder zurückgefahren nach Berlin, habe mich sofort umgesehen, fand aber keine Arbeit. Aber ich war hartnäckig. Und hatte nach 3 Monaten dann doch eine Stelle als ‘Empfangsvolontärin’ für DM 50.- im Monat!!!!  So bin ich also in die Hotelerie ‘gerutscht’, habe ich mich hochgearbeitet, mich selber weitergebildet und habe dann nochmal für 3 Monate eine Stelle in einem französischen Haushalt mit (5 Kindern) in Paris angenommen, um mein Schul-Französich aufzubessern. Anschliessend fand ich heraus, dass die Schweizer Hotelerie händeringend in den 50er-Jahren Sprachkundige als Hotelsekretärinnen suchte. So kam ich 1954 (wenige Wochen vor dem ‘Wunder von Bern’) in die Schweiz und konnte meine Sprachkenntnisse gut einsetzen und sogar noch eine weitere autodidaktisch dazulernen.

Ich war in die Schweiz gekommen, um  eine halbwegs gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden, war aber im heiratsfähigen Alter und – blieb dann insgesamt knapp 50 Jahre dort, bis ich mich entschloss, mich in Südspanien niederzulassen, weil meine Schweizer Rente hier weiter reicht.

Erst in den letzten – vielleicht 15 – 20 Jahren – fühle ich mich nicht mehr ständig schuldig dafür, in den dreissiger Jahren in Berlin/Deutschland geboren worden zu sein. Mein ‘Herumzigeunern’ in verschiedenen europäischen Ländern jedoch ist wohl mein ganz persönliches Schicksal, das – so wie ich es sehe, – wenig mit der politischen Vergangenheit meines Heimatlandes zu tun hat. Aber als ‘Deutsche’ habe ich den Kopf oft einziehen müssen (oder freiwillig eingezogen) – auch in der Schweiz – , wohl vor allem aus eigenen Schuldgefühlen.

Falls Sie noch ein bisschen Hitze brauchen können: Ich würde Ihnen gerne ein paar Grad C schicken. Aber der Osten Deutschlands hat momentan wohl auch noch rund 30°. Wir hier haben seit langem keinen Regen mehr gehabt!

Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüsse Sie
freundlich,
Ihre
HL

  1. Natürlich veröffentliche ich solche Emails nur nach Zustimmung und anonymisiert.

Quelle: http://zakunibonn.hypotheses.org/1269

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