Grabner-Haider/Davidowicz/Prenner: Kulturgeschichte der frühen Neuzeit – Ein Verriss…

Der Rezensent von Literaturkritik.de ist so gar nicht angetan von dieser Neuerscheinung, die noch dazu zu einem absurd hohen Preis (70 Euro für 287 Seiten) angeboten wird: "Pennälerhafte Fachprosa", "nicht nur peinlich, sondern unverschämt", "eine stilistische Entgleisung bei inhaltlicher Bedeutungslosigkeit", "naive Banalität", "im Aufbau weder Sinn noch Verstand". Das Buch scheint also fürwahr keinen Beleg für die oftmals gegen Open Access angeführte segensreiche Tätigkeit von Verlagen zu liefern.

Grabner-Haider, Anton/Davidowicz, Klaus S./Prenner, Karl: Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Von 1500 bis 1800. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. [Verlags-Info]

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/894832006/

Weiterlesen

Gavre Princip – Himmel unter Steinen

Wenn es einen Sarajevo-Film gibt, den ich in sehr guter Erinnerung habe, dann wohl Peter Patzaks Gavre Princip - Himmel unter Steinen (Österreich 1990), der radikal parteilich die Sicht Gavrilo Princips einnimmt. Ganz vorbei kommt der ORF an diesem Film anlässlich des Jubiläumsmassakers nun doch nicht, aber leider versteckt er ihn auf ORF III, wo er dafür dann ab der Nacht auf den 28.6. gleich viermal ausgestrahlt wird.

Apropos Jubiläum, es sei hier eine kleine WK I Rückschau durch den Filter des Adresscomptoir gestattet:

1) http://adresscomptoir.twoday.net/stories/534900219/
Twitterdebatte um die Rauchensteiner-Schmonzette.

2) http://adresscomptoir.twoday.net/stories/706565480/
Richard Schuberths Eintrag in seinem neuen Wörterbuch des Teufels:

Princip, Gavrilo
Früher Märtyrer der Ökobewegung, der dem Tiermörder Franz Ferdinand das Handwerk legte, ehe der auch das 274.512. Wildtier seiner Jägerlaufbahn massakrieren konnte.


3) http://adresscomptoir.twoday.net/stories/603124518/
Der schöne Beweis, dass auch die Fleischer der Schlächter gedenken:

Fleischer_WienHegelg8

Und, weltexklusiv kündige ich an, dass auch das Adresscomptoir zum fröhlichen Jubiläum kommenden Samstag seinen ihm adäquaten Beitrag leisten wird, keep tuned!

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/894832001/

Weiterlesen

Erschließung von Beziehungsgeflechten mit MidosaXML – Teil 2: Ziele, Ordnung, Verzeichnungsstufen


B. Erschließungsrichtlinien

I. Ziele und Aufgaben

  1. Ziel der archivischen Erschließung ist es, durch die Bereitstellung von Informationen über das Archivgut, die für seine Entstehung verantwortlichen Akteure und Funktionen sowie über das verwahrende Archiv den Zugang zum Archivgut zu ermöglichen. Hierzu werden geeignete Findmittel erarbeitet, die im Archiv der Universität und nach Möglichkeit im Internet zur Verfügung gestellt werden.
  2. Aufgabe der archivischen Erschließung ist es, die Struktur der Bestände, ihre Inhalte, ihre Entstehungs- und Überlieferungszusammenhänge transparent zu machen.
  3. Die Methoden der Erschließung orientieren sich an international anerkannten Standards.
  4. Die vorliegenden Richtlinien setzen einen Rahmen, der angesichts unterschiedlicher Strukturen des Archivguts zweckmäßige Abweichungen zulässt. Zu ihrer Dokumentation sollen gegebenenfalls Richtlinienspezifikationen für einzelne Erschließungsvorhaben niedergelegt werden.

II. Bewertung und Ordnung

  1. Dem Erschließungsvorgang geht die Bewertung grundsätzlich voraus.
  2. Die Bewertung erfolgt nach Möglichkeit auf der Grundlage von Aussonderungslisten. Darauf wird Archivwürdigkeit als A, Kassation als K und nötige Einsichtnahme als E vermerkt. Die mit A und E bewerteten Unterlagen werden ins Archiv übernommen. Die endgültige Bewertung der mit E gekennzeichneten Unterlagen erfolgt spätestens im Zuge der archivischen Erschließung. Über die mit K gekennzeichneten Unterlagen wird ein Inventar auf der Grundlage der Angaben in der Aussonderungsliste angefertigt. Dieses wird der Kassationsverfügung als Anlage beigegeben und im Archiv öffentlich einsehbar gemacht. Auf diese Weise wird der Bewertungsvorgang dauerhaft transparent und nachvollziehbar erhalten.
  3. Um Akzessionen schnellstmöglich nutzbar zu machen, können Aussonderungslisten und Akzessionsverzeichnisse als vorläufige Findmittel auch vor dem Abschluss der Bewertung bereits öffentlich zugänglich gemacht werden. Sofern dafür vorläufige Erschließungsarbeiten des Archivs erforderlich werden, sollen diese flach erfolgen. Anhand von Bewertungskategorien sollen Unterlagen, deren Archivwürdigkeit aus formalen Gründen bezweifelt werden kann, nur durch eine einfache Aufnahme des Vorlagetitels erfasst werden.
  4. Akzessionsverzeichnisse beziehen sich auf jeweils eine abgebende Stelle. Übergreifende Akzessionsverzeichnisse sind nach abgebenden Stellen gegliedert.
  5. Vor dem Beginn der eigentlichen Erschließung soll der Bestand nach Möglichkeit vorgeordnet werden. Fällige Feinordnungsarbeiten und endgültige Bewertungsentscheidungen in Einzelfällen können im Zuge der Verzeichnung erfolgen.
  6. Bei der archivischen Erschließung erfolgt die Gliederung der Bestände nach den die Unterlagen tatsächlich zuletzt bearbeitenden und die Unterlagen formierenden Stellen (Provenienzstellen). Keine Provenienzstelle in diesem Sinne ist eine abgebende Stelle, die die Unterlagen im Zuge ihrer Aufgabenerfüllung nur sammelte, aber nicht sachlich und inhaltlich weiterbearbeitet hat.
  7. Bei der Ordnung auf der Ebene der Archivalieneinheiten („file-level“) werden Dokumente und Vorgänge („item-level“) zu Verzeichnungseinheiten auf File-Ebene[1] zusammengefasst, sofern der Bearbeiter nicht entscheidet, dass diese als selbständige Einheiten in das Findmittelsystem Eingang finden sollen.[2] (Näheres in Abschnitt III. Stufen der Verzeichnung). Aus den Verzeichnungseinheiten definiert das Archiv Bestände und Tektoniken, die den Zugriff auf das Archivgut als Einheiten gemeinsamer Beziehungen ermöglichen.
  8. Die Identifikation des Archivguts erfolgt mittels Akzessionssignaturen, Magazinsignaturen und Archivsignaturen.
    1. Die Akzessionssignatur bezeichnet die abgebende Stelle durch eine römische Zahl, die Nummer der Aussonderung durch eine arabische Zahl (z.B. 1., 2. Oder 3. Aussonderung) sowie die Nummer der Unterlageneinheit (Akzessionseinheit) durch eine weitere arabische Zahl (Bsp: XV/1/193: Akte 193 aus der ersten Aussonderung der Abgabestelle Nr. XV). In gleicher Weise werden die Unterlagen bis zu Ihrer weiteren Bearbeitung beschriftet. Die Akzessionssignatur wird in MidosaXML in das Feld „Bestellnummer“ und in das Feld „Alte Signaturen“, dort mit dem erläuternden Text „Akzessionssignatur“, eingetragen. Ein separat geführtes Lokaturverzeichnis gibt Auskunft über den genauen Lagerungsort innerhalb des Magazins.
    2. Die Magazinsignatur ist eine fortlaufende Nummer, die bei der Erschließung anstelle der Akzessionssignatur vergeben wird. Sie bezeichnet eine physische Archivalieneinheit, die in dieser Form und in diesem Umfang im Magazin gelagert wird. Die Magazinsignatur wird in MidosaXML in das Feld „Bestellnummer“ und in das Feld „Lagerungsort“ eingetragen. Im Feld „Bestellnummer“ ersetzt sie die ggf. vorher dort befindliche Akzessionssignatur. Ein separat geführtes Lokaturverzeichnis gibt Auskunft über den genauen Lagerungsort innerhalb des Magazins.
    3. Die Archivsignatur bezeichnet zunächst eine im Erschließungsprozess identifizierte Beziehungsgemeinschaft im Rang einer Archivalieneinheit. Diese stimmt in Form und Umfang mindestens mit der magazinierten physischen Einheit überein. Deshalb ist in diesen Fällen die Magazinsignatur mit der Archivsignatur identisch. Es erfolgt dann kein eigener Eintrag für die Archivsignatur in MidosaXML.
    4. Die Archivsignatur kann darüber hinaus auch zur Identifizierung von Verzeichnungseinheiten auf der Grundlage von Beziehungsgemeinschaften dienen, die nicht für die registraturmäßige Struktur, Form und Umfang der physisch vorliegenden Archivalieneinheit[3] (Magazinierungseinheiten) verantwortlich waren.[4] Dies ist der Fall, wenn mehrere Magazinierungseinheiten oder Teile aus unterschiedlichen Magazinierungseinheiten zu einer Verzeichnungseinheit zusammengefasst werden. Dabei wird in das Feld „Bestellnummer“ anstelle der Magazinsignatur der Buchstabe D und eine innerhalb des Buchstabens fortlaufende Nummer eingetragen (z.B. D 143). Die betroffenen Magazinierungseinheiten werden dann mittels ihrer Magazinsignaturen im Feld „Lagerungsort“ hintereinandergereiht. Sofern es sich nur um Teile von Magazinierungseinheiten handelt, sind hinter der betreffenden Magazinsignatur die jeweiligen Folionummern zu vermerken.

Beispiel: „13, 35 fol. 13-54, 44, 105 fol. 87-99“; d.i.: Magazinierungseinheit 13, Magazinierungseinheit 35 (nur Blätter 13 bis 54), Magzinierungseinheit 44 und Magazinierungseinheit 105 (nur Blätter 87 bis 99). Um derartige Verzeichnungseinheiten tatsächlich vorlegbar zu machen, ist eine Digitalisierung des betroffenen Archivguts auf Dauer unumgänglich.

Die Zuordnung desselben Archivguts kann zu beliebig vielen Verzeichnungseinheiten mit D-Signaturen erfolgen.[5]

E. Erscheint es im Hinblick auf die Nachnutzbarkeit zur Bildung von Verzeichnungseinheiten mit D-Signaturen zweckmäßig, können Magazinierungseinheiten bei der Verzeichnung in Unterabschnitte eingeteilt werden. Diese sind in MidosaXML als „Vorgänge“ anzulegen und am physischen Archivgut durch geeignete beschriftete Einlageblätter zu kennzeichnen.

III. Stufen der Verzeichnung

Die Tradition, Archive in voneinander abhängigen, in hierarchischen Beziehungen stehenden Ebenen zu beschreiben, wurde als Stufenmodell im International Standard Archival Description (General), kurz ISAD(G), manifestiert. Erschließung in Stufen bedeutet, dass Erschließungsinformation, die bereits auf höherer Ebene erfasst wurde, sich auf die nachgeordneten Ebenen vererbt und dort nicht mehr explizit wiederholt wird. Auf diese Weise unterscheidet sich die archivische Erschließung fundamental von der bibliothekarischen Katalogisierung. Die Stufenverzeichnung ist ein Versuch, der „Vereinzelung von Archivguteinheiten entgegenzuwirken, indem diejenige Information, die mehrere Verzeichnungseinheiten gleichzeitig betrifft, auf einer höheren Stufe erfasst und dadurch mit den Elementen der nachgeordneten Ebenen verknüpft wird.“[6] Damit soll der Gefahr der Individualisierung der Einzelstücke begegnet werden. Mit diesem Verzeichnungsprinzip ist ein Bestandsabgrenzungsprinzip verbunden, das die Kohärenzen innerhalb eines Bestandskorpus zu bewahren bestrebt ist. Der Verzeichnungsstandard ISAD(G) setzt somit ein hierarchisches Informationsgeflecht zwischen Archivalieneinheiten, Archivaliengruppen und Teilbeständen voraus, um sinnvoll angewandt zu werden. Auf diese Weise ergänzen sich das Prinzip der Bestandsbildung auf der Grundlage der Provenienz und das Prinzip der integrativen Verzeichnung hierarchisch aufeinander aufbauender Informationsebenen (Stufenverzeichnung). Die Verzeichnungseinheiten werden dadurch allerdings in statischen Kontextstrukturen fixiert. Sie zusätzlich in anderen Beziehungsgemeinschaften darzustellen, kann problematisch werden, wenn Information über die Verzeichnungseinheit referenziert werden soll, die nicht unmittelbar mit ihr verknüpft, sondern hierarchisch höher, z.B. auf der Ebene eines Teilbestands fixiert wurde.

Das Stufenmodell, das die Bezeichnung der einzelnen Ebenen im Begriff der „Verzeichnungsstufe“ differenziert, lässt sich mit den „Kompositionsstufen“ der Erschließungslehre von Johannes Papritz in Beziehung bringen. Dabei besteht jede Kompositionsstufe aus Einheiten von verknüpften Elementen (Kompositionen), deren jedes für sich in einer voneinander verschiedenen Entstehungsstufe (Entwurf, Ausfertigung usw.) existieren kann. Diese Einheiten oder Kompositionen bieten die Grundlage für die Verzeichnungsstufe. Eine Zusammenstellung von Schriftstücken kann unter bestimmten Voraussetzungen als Akte bezeichnet werden, die auf der Verzeichnungsstufe der Akte beschrieben wird. Bilden mehrere Akten eine Serie, wird die Serie auf der Verzeichnungsstufe der Serie/Aktengruppe beschrieben, wobei die Erschließungsinformationen, die für alle diese Akten zutreffen, auf der Verzeichnungsstufe der Serie hinterlegt werden. Auf der Verzeichnungsstufe Akte finden sich dann nur die Informationen, die die einzelne Akte der Serie von der anderen Akte unterscheiden. Das Stufenmodell des ISAD(G) ist somit ein hierarchisches Modell der Beschreibung von Einheiten ohne informative Redundanz. Das Beschreibungsmodell wird auf diese Weise sehr komplex, je höher die oberste Verzeichnungsstufe angesetzt wird.

Die deutsche Terminologie überschneidet sich in einigen Fällen bei Kompositionsstufen und Verzeichnungsstufen, wobei die stufenmäßige Abgrenzung von Kompositionen selten tatsächlich eine Rolle spielt. Deshalb soll im Folgenden stattdessen vorwiegend von Kompositionsformen die Rede sein.

Verzeichnungsstufe = relative Kategorisierung von Archivgut gemäß der durch Findmittel dargestellten Mikro-Tektonik;
Kompositionsstufe = absolute Kategorisierung nach Aggregationsgrad von Archivgut;
Kompositionsform = Kategorisierung nach Archivaliengattungen.

Eine solche Unschärfe besteht beispielsweise bei der Kompositionsform Akte und der Verzeichnungsstufe Akte. Da auf der Verzeichnungsstufe „Akte“ jeweils das verzeichnet wird, was vom Bearbeiter als für diese Ebene vorgesehene Kompositionsform vorgesehen wird, können dies z.B. Fotos oder Fotoalben, Filme, Urkunden, Briefe oder – auch – Akten sein. Es wäre daher empfehlenswert, die Terminologie der Verzeichnungsstufen von der der Kompositionsformen deutlicher zu trennen. Brauchbar könnte eine Unterscheidung innerhalb der Verzeichnungsstufen auf unterer Ebene zwischen „file“ als der kleinsten bei der Erschließung als selbständig behandelten Verzeichnungseinheit und „item“ als der kleinsten unselbständigen bei der Verzeichnung berücksichtigten Verzeichnungseinheit (z.B. Foto (item) innerhalb eines Fotoalbums (file)) sein. Die terminologische Entsprechung dazu, dass Verzeichnungsstufen relative Größen sind und ein nur relatives Verhältnis zu den Kompositionsformen und Kompositionsstufen haben, macht auch die Verwendung des Serienbegriffs als Verzeichnungsstufe fragwürdig. Die Serie im Sinne einer Verzeichnungsstufe ist nichts anderes als eine selbständige oder unselbständige, den als kleinste selbständige definierten Einheiten übergeordnete Einheit.[7] Der Begriff der Serie bezieht sich als Terminus für eine Verzeichnungsstufe demnach auf die tektonische Behandlung von Archivalieneinheiten im Archiv, während sich die Begriffe der Kompositionsformen und –stufen auf die Archivaliengattung und ihre Strukturtypen erstrecken.

Folgende Verzeichnungsstufen werden verwendet (in Klammern dafür gebräuchliche englischsprachige Begriffe für die häufigsten damit verbundenen Kompositionsformen und -stufen):

  1. Bestandsgruppe [fakultativ]
  2. Bestand (fonds, collection)
  3. Teilbestand, Klasse (subfonds, subcollection, class)
  4. Serie (series) [fakultativ]
  5. Akte / File (file, record)
  6. Vorgang (subfile) [fakultativ]
  7. Einzelstück / Item (item, piece)

Weniger aus grundsätzlich-methodischen Erwägungen, als vielmehr aus pragmatischen Gründen, um Komplikationen bei der Datenverarbeitung aus dem Weg zu gehen, sollen die strengen Regeln der ISAD(G)-Vererbungslehre in diesen Richtlinien außer Kraft gesetzt werden. Die Verzeichnungsmethode im Universitätsarchiv Bayreuth strebt dahin, Erschließungsinformation über ein Objekt nach Möglichkeit unmittelbar mit dem Objekt selbst und direkt zu verknüpfen.

Die Trennung von Verzeichnungsstufe und Kompositionsform bzw. –stufe spielt insbesondere dann eine wichtige Rolle, wenn Strukturtypen unvoreingenommen bei der Erschließung so bezeichnet werden sollen, wie sie vorliegen, und zwar unter Berücksichtigung ihres Überlieferungskontextes. So ist es beispielsweise möglich, eine Sammlung innerhalb einer Akte vorzufinden. Dies sollte dann auch so verzeichnet werden. So könnten etwa folgende Entsprechungen in der Praxis vorliegen: Verzeichnungsstufe File – Kompositionsform Akte; Verzeichnungsstufe File – Kompositionsstufe Item; Verzeichnungsstufe File – Kompositionsstufe Sammlung; Verzeichnungsstufe Serie – Kompositionsform Fotoalbum usw.[8]

1. Bestandsgruppe

Die Bestandsgruppe ist ein fakultatives Element in der Tektonik eines Archivs, das nicht durchgängig für alle Bestände existieren muss. Bei der Erschließung werden die gemeinsamen Merkmale beschrieben. Die Bildung von Bestandsgruppen soll für den äußeren Betrachter nachvollziehbar, transparent und einsichtig sein.

2. Bestand

Der Bestand ist das zentrale Strukturierungselement des Archivguts eines Archivs. Er ist auf der ersten (bzw. zweiten, falls Bestandsgruppen vorhanden) Gliederungsstufe innerhalb der äußeren Tektonik eines Archivs angesiedelt. Ein Bestand, der nur Archivgut unter Wahrung der Entstehungszusammenhänge umfasst, wird als Fonds bezeichnet. – Auf die gemeinsame Herkunft des Archivguts in einem Bestand legt die Definition des ISAD(G) besonderen Wert. Bestand und Fonds werden dort grundsätzlich gleichgesetzt: „Alle Unterlagen, unabhängig von Form und Trägermaterial, die auf organische Weise bei einer Person, Familie oder Körperschaft im Rahmen ihrer Tätigkeit und Funktion erwachsen und / oder von ihr zusammengestellt bzw. genutzt worden sind.“[9] Daneben existiert (ohne Erwähung im ISAD(G) (!) der Sammlungsbestand, der nach anderen als Provenienzkriterien zusammengesetzt sein kann.[10]

3. Teilbestand, Klassifikationsgruppe (Klasse)

Teilbestände werden als verknüpfende Elemente der Gliederung (Klassifikation) abgebildet (Gliederungspunkte). Sie sollen den Aufbau der Stelle wiederspiegeln, in deren Wirken der Bestand entstanden ist (Provenienzstelle). Sofern das nicht rekonstruierbar oder aus Gründen einer davon abweichenden Anwendung des Provenienzprinzips nicht beabsichtigt ist, gliedern Teilbestände den Bestand nach geographischen, chronologischen, funktionalen oder ähnlichen Kriterien.

4. Serie

Die Serie als Verzeichnungsstufe ist ein referenzierbarer (selbständiger) oder nicht referenzierbarer (unselbständiger) Container für nachgeordnete referenzierbare (selbständige) Verzeichnungseinheiten. Die Entscheidung darüber, ob die Verzeichnungsstufe Serie verwendet werden soll, soll sich nach Möglichkeiten an den Voraussetzungen orientieren, die eine Kompositionsform als Serie definieren:

Die Kompositionsform Serie sind „Unterlagen, die nach einem Schriftgutverwaltungssystem geordnet oder als Einheit aufbewahrt werden, weil sie aus derselben Sammlung, demselben Entstehungsprozeß oder derselben Tätigkeit erwachsen sind, eine besondere Form aufweisen oder weil sie in besonderer Beziehung zueinander stehen aufgrund ihrer Entstehung, ihres Empfangs oder ihrer Nutzung. Eine Serie kann als Aktenserie aufgefasst werden.“[11] Innerhalb einer Serie gibt es unter den Serienelementen keine inneren Anhaltspunkte zu einer Systematisierung. Als äußere Kriterien kommt beispielsweise die alphabetische, numerische oder chronologische Sortierung in Betracht, ebenfalls auch nach Korrespondenzpartnern. Die physischen Einschnitte werden durch Lagerungs- und Kompositionstechnik bedingt. Serienelemente können keine eigenen Titel haben, vielmehr muss dieser immer dem Serientitel entsprechen und kann durch einen Enthältvermerk bei Bedarf näher spezifiziert werden. Die Erfüllung dieser Mindestvoraussetzung muss auch dann bei der Bildung von Serien und Aktengruppen beachtet werden, wenn sie erst im Archiv geschieht (archivische Serien).

5. File / Akte

Die Verzeichnungsstufe File bezeichnet das, was in einem Findbuch als kleinste selbständige, d.h. mit eigener Signatur versehene Verzeichnungseinheit existiert. Dies ist unabhängig vom Strukturtyp und der Gattung des Archivale. Beispielsweise befindet sich eine Verzeichnung von Einzelfotos als selbständige Verzeichnungseinheiten mit jeweils eigener Signatur pro Foto aus diesem Grund auf der Verzeichnungsstufe der File-Ebene und nicht auf der der Item- oder Einzelstückebene, obwohl es sich um die Kompositionsstufe des Einzelstücks handelt.

6./7. Vorgang, Einzelstück

Vorgänge und Einzelstücke bezeichnen als Verzeichnungsstufen unselbständige, d.h. nicht selbständig referenzierbare Verzeichnungseinheiten, die immer einer selbständigen Verzeichnungseinheit (File) nachgeordnet sind. Als nicht selbständig sollen sie dann verzeichnet werden, wenn ihre selbständige Aufnahme ins Findmittelsystem dazu führen könnte, Entstehungskontext zu verdunkeln und das Archivgut ohne Not aus seinen Entstehungszusammenhängen herauszulösen und isoliert darzustellen. Möchte man Stücke, die ihrer Kompositionstufe entsprechend Einzelstücke sind, als selbständige Einheiten verzeichnen, ist dafür die Verzeichnungsstufe „File“ angebracht. Die übergeordnete Einheit wäre demzufolge in der Verzeichnungsstufe „Serie“ zu beschreiben.

Die Verzeichnungsstufe „Vorgang“ soll regelmäßig dann genutzt werden, wenn Archivalieneinheiten, z.B. Akten, in der Entstehungsstelle bewusst in erkennbar abgegrenzte Vorgänge untergliedert wurden, und wenn gleichzeitig wesentliche Information verloren ginge, wenn diese Untergliederung bei der Verzeichnung nicht abgebildet würde. Bei der Wahl der Verzeichnungsmethode ist in den übrigen Fällen zwischen der Nutzung von Enthältvermerken an Verzeichnungseinheiten auf File-Ebene und der Nutzung der tieferen Verzeichnungsstufe „Vorgang“ abzuwägen.

[1] In MidosaXML: Akte.

[2] In letzterem Fall ist die Einheit in MidosaXML als „Akte“ aufzunehmen.

[3] Physisch vorliegende Archivalieneinheiten = Magazinierungseinheiten.

[4] Beziehungsgemeinschaften können hier z.B. Gemeinschaften oder Schnittmengen von Funktionen sein, deren Ausübung für die Entstehung des Archivguts ursächlich war. Dabei können auch mehrere Funktionen zugleich für die ganze Akte oder Teile der Akte als entstehungsursächlich gewirkt haben. Daraus lassen sich mehrere – funktionsbasierte – Beziehungsgemeinschaften identifizieren.

[5] Über die bei der Vergabe von D-Signaturen jeweils anzuwendenden Verzeichnungsstufen in der Archivsoftware siehe Abschnitt III. Stufen der Verzeichnung.

[6] ISAD(G) – Internationale Grundsätze für die archivische Verzeichnung, 2., überarb. Aufl., übersetzt und neu bearbeitet von Rainer Brüning, Werner Heegewaldt, Nils Brübach, Marburg, 2002, S. 5 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 23).

[7] Ganz anders dagegen die Kompositionsstufe oder -form „Serie“, die eine genuine selbständige Archivalieneinheit bezeichnet.

[8] Eine separate Erfassung von Verzeichnungs- und Kompositionsstufe in den Findmittelsystemen wäre wünschenswert. In EAD werden Kompositionsformen bereits jetzt im Abschnitt <physdesc> festgehalten. Denkbar wäre es, die Kompositionsstufe unter <arrangement> innerhalb der c-Ebenen einzufügen, etwa als „level of arrangement“.

[9] ISAD(G), deutsche Übersetzung 2002 (s. Fn. 12), Glossar s.v. Bestand.

[10] Vgl. Multilingual Archival Terminology, hrsg. vom International Council on Archives (ICA), s.v. Sammlung: http://www.ciscra.org/mat/termdb/term/1460.

[11] Angelika Menne-Haritz: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie, Marburg, Nachdruck der 3., durchgesehenen Auflage, 2006, s.v. Serie (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, Nr. 20).

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1787

Weiterlesen

Sektion 3: Abstract zum Referat von Dipl.-Archivar David Kraus über die Zentralisierung von Sportbeständen

Dipl.-Archivar David Kraus spricht in seinem Referat „Überlieferungsbildung in der Fläche. Zur zentralen Archivierung von Überlieferungen aus saarländischen Sportverbänden und Sportvereinen“ über den Aufbau eines zentralen Saarländischen Sportarchivs.

Im Saarland ist es 2001 gelungen, der Überlieferung des archivisch bislang vernachlässigten Gesellschaftsbereichs Sport eine sichere Heimstätte zu geben. Als Kooperationspartner haben der Landessportverband für das Saarland als Dachorganisation des saarländischen Sports und das Land Saarland zueinander gefunden und gemeinsam das Saarländische Sportarchiv im Landesarchiv des Saarlandes eingerichtet, ohne eine dafür notwendige archivtechnische Infrastruktur neu schaffen zu müssen. Quasi als Zentralarchiv des Saarsports bemüht sich das Saarländische Sportarchiv um die Archivierung überlieferungswürdiger Unterlagen von Sportverbänden, Sportvereinen, bedeutenden Sportlern, wichtigen Funktionären und Sammlern und stellt sie einem breiten Interessentenkreis unter Wahrung archivrechtlicher Belange zur Nutzung bereit. Um Redundanzen zu vermeiden und die verschiedenen Sportüberlieferungen aufeinander abzustimmen, werden bei der Überlieferungsbildung alle relevanten Registraturbildner berücksichtigt, selbst die staatlichen Sportreferate werden miteinbezogen.

Als die größte Herausforderung im Archivierungsgeschäft mit dem Privatschriftgut des Sports stellen sich bisher jedoch die Uneinsichtigkeit der Archivierungs-Verständnisverweigerer und die Unbekümmertheit der eigenmächtigen Aktenentsorger in manchen Verbänden und Vereinen dar.

Der Vortrag gibt einen Einblick in den Aufbau, die Aufgaben und die Arbeitsweise dieses saarländischen Kooperationsprodukts des organisierten Sports und der staatlichen Archivverwaltung. Daneben stellt er den zahlreichen Vorteilen einer solchen Archivierungslösung auch Problemstellungen gegenüber.

——————————————————————–

Kurzbiographie von Dipl.-Archivar David Kraus

  • 2000–2003: Ausbildung zum Diplom-Archivar (FH) in Baden-Württemberg
  • Seit Okt. 2003 Archivar im Landesarchiv Saarbrücken: hauptsächlich mit Aufbau und Führung des Saarländischen Sportarchivs betraut, daneben zahlreiche Betätigungsfelder für das Landesarchiv (u. a. Vertretung des Saarlandes im Fototechnischen Ausschuss der ARK)

Quelle: http://lvrafz.hypotheses.org/1433

Weiterlesen

FAMI im LWL-Archivamt IV: Beratung und Bewertung

Fami_Legden_nvon Marcel Wachnau

Anderes als in anderen Archiven haben die FAMI-Auszubildenden im LWL-Archivamt den Genuss, in ihrer Arbeit andere Archive zu besuchen, um sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen.

Dies bringt den Vorteil mit sich, dass man über den Horizont des vertrauten Archives hinausblickte kann, und die Erfahrungen und Probleme aus anderen Archiven aus erster Hand kennen lernt. Dies kann gerade für die berufliche Tätigkeit nach der Ausbildung sehr nützlich sein, wenn man vor ähnlichen Problemen steht.

Zu den Archiven, zu denen man den Archivar auf seiner Reise begleitet zählen sowohl Adelsarchive als auch Kommunalarchive, die eine Beratung in Archivfachlichen Fragen wünschen. Dazu zählen im Besonderen Beratungen auf den Gebieten des Archivbaus, der Bewertung, der Erschließung, der Bestandserhaltung und der elektronischen Langzeitarchivierung. Gerade in der Ausbildung hat man somit die Möglichkeit, mit der Pluralität der Archivfachlichen Problemstellungen und Lösungsätzen vertraut zu werden. Bei der Frage nach der Bewertung sind kleinere Komunnen oft überfordert. Sie trifft nicht zuletzt die archivische Kernkompetenz.  Seiteneinsteiger, die ein Archiv verwalten können die Hilfe des LWL-Archivamts als Beratungsinstanz in Anspruch nehmen. Für einen FAMI-Auszubildenen ein interessantes Feld, denn in immer mehr potentiellen Arbeitsbereichen werden Kenntnisse in der Bewertung gefordert. Es ist dabei manchmal auch gundsätzlich  zu entscheiden, ob ein Aktenstück nicht nur archivwürdig, sondern auch archivfähig ist: Oder kürzer formuliert: Wann ist eine Akte so vom Schimmelzerstört, dass man sie (ohne teuren Aufwand) nicht mehr restaurieren kann?

Schimmel1

 

 

 

 

 

 

 

Famis2014MasterHier schreiben unsere FAMIS Marcel Wachnau (links) und Carsten Haubrock (rechts).

Quelle: http://archivamt.hypotheses.org/801

Weiterlesen

2. DiXiT-Camp in Graz: XML/TEI for Digital Scholarly Editions

Von 14.-19 September 2014 veranstaltet das Zentrum für Informationsmodellierung – Austrian Centre for Digital Humanities das zweite DiXiT-Camp mit dem Titel “XML/TEI for Digital Scholarly Editions – Standards, tools and software”. Der einwöchige Workshop findet im Rahmen des Marie-Curie Initial Training Network “DiXiT” (Digital Scholarly Editions Initial Training Network) statt. Die Unterrichtseinheiten werden von MitarbeiterInnen des ZIM und der Karl-Franzens-Universität, Experten der Universität Oxford, der Universität zu Köln, der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften, SynchRO, TEI-C und Text Grid abgehalten.

Das DiXiT-Camp ist der Erstellung von digitalen Editionen mit XML TEI P5 gewidmet, ergänzt um die Verwendung weiterer Standards, Werkzeuge und Software bei der digitalen Editionsarbeit. Der Kurs ist darauf ausgerichtet, zukünftige digitale Editoren zu befähigen, selbständig mit den Technologien umzugehen und sie in ihren Projekten praktisch einzusetzen.

Die TeilnehmerInnenzahl der Veranstaltung ist auf 25 beschränkt, wobei 12 Plätze bereits für die DiXiT Fellows reserviert sind. Insgesamt gibt es also 13 Plätze, die mit internationalen Universitätsabsolventen und Doktoranden, die bereits Erfahrung mit wissenschaftlichen Editionen haben, besetzt werden sollen. Die Unterrichtssprache ist Englisch.

Detaillierte Informationen zu Programm und Bewerbungsverfahren sind in der englischen Ausschreibung auf der Webseite des Zentrums für Informationsmodellierung zu finden: http://informationsmodellierung.uni-graz.at/de/forschen/dixit/

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=3695

Weiterlesen

Kloster und Wissen. Einige Thesen zur Diagrammatik der Philosophia mundi.

 

Zu Beginn des Jahres wurde eine deutlich erweiterte Fassung meiner Masterarbeit veröffentlicht, die mittlerweile auch online über den Freiburger Dokumentenserver zugänglich ist.1 In dieser Arbeit habe ich mich mit der so genannten Arnsteinbibel, London BL Harley 2798 und Harley 2799 beschäftigt.

“Das […] Buch behandelt die monastische Wissenskultur des hohen Mittelalters und basiert auf einer mit dem Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences (2013) ausgezeichneten Qualifikationsschrift des Autors. Anhand wissenschaftlicher Diagramme der so genannten Arnsteinbibel (British Library Harley 2799) werden die lebensweltlichen Bedingungen von Wissen im Prämonstratenserstift Arnstein a.d. Lahn im frühen 13. Jahrhundert untersucht. Dabei eröffnet sich dem modernen Betrachter ein ungewohnter, genuin mittelalterlicher Zugang zu naturwissenschaftlichem Wissen, das in Arnstein eine spirituelle und liturgische Dimension erhielt.“2

Harley 2799, fol. 166r (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

In dieser Arbeit vertrete ich unter anderem die These, dass der Diagrammzyklus in Harley 2799 größtenteils auf der Philosophia mundi Wilhelm von Conches basiert.

Harley 2799, fol, 242r. (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

Ich interpretiere die drei Diagramme auf folio 242r der Bibel als diagrammatische Synthese einer komplexen Stelle im zweiten Buch der Philosophia, in der die Beziehung zwischen dem Kosmos (vor allem dem jeweiligen Stand der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten) und dem menschlichen Körper beschrieben wird. Diese inhaltliche Interdependenz zwischen den astronomischen und medizinischen Phänomenen entspricht einer didaktischen Interdependenz zwischen den drei Diagrammen.3

Diese These scheint mir inhaltlich überzeugend, sie war in zweierlei Hinsicht aber nicht unproblematisch: Zum einen bezeugt der überlieferte mittelalterliche Katalog der Abtei4 keinen Eintrag, der sich eindeutig auf das Werk des nordfranzösischen Magisters beziehen ließe; und zum anderen konnte ich bislang keine entsprechenden Diagramme in der Überlieferung des zweiten Buches der Philosophia mundi ausfindig machen.

Erst nach Fertigstellung des Manuskripts der Arbeit konnten mit freundlicher Hilfe von Prof. Dr. Paul Dutton mittlerweile drei Handschriften gefunden werden, die zur Illustration der Textstelle auf eine ähnliche diagrammatische Formensprache wie die Arnsteinbibel zurückgreifen: Paris BNF Lat. 6560, Paris BNF Lat. 11130 sowie Zürich Car. C. 137 (299 Mohlberg).

Die beiden Pariser Handschriften sind mittlerweile (leider ebenfalls erst nach Abschluss des Manuskripts) online konsultierbar, bislang allerdings völlig unzureichend und fehlerhaft beschrieben.

Alle drei Handschriften stammen vermutlich aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die genaue Herkunft ist bislang nicht bekannt. Sie stellen neben der Arnsteinbibel die einzigen bekannten Zeugnisse dieser diagrammatischen Tradition dar. Während Lat. 11130 und Car. C. 137 die Zusammenhänge im Text ähnlich der Arnsteinbibel mit mehreren (zwei) Diagrammen illustrieren, sind die entsprechenden Elemente in Lat. 6560 in einem Diagramm zusammengefasst.

Paris BNF lat. 11130, fol. 47v und 48r.
Paris BNF lat. 6560, fol. 53r.

Diese neue Überlieferungslage stärkt die im Buch vertretene These, die Abtei habe tatsächlich eine Abschrift der Philosophia mundi besessen, die als Vorlage des Diagrammzyklus zu sehen ist.5

In seinem Standardwerk Album of Science hat sich John Murdoch 1984 wie folgt zur Erforschung der diagrammatischen Produktion geäußert:

„Our knowledge of how manuscript illustrations were produced is infinitely more complete in the case of the well known artistic miniatures of illuminated medieval manuscripts than in that of the scientific illustration or diagram.”6

Ich möchte an dieser Stelle vorsichtig die Vermutung äußern, dass die nunmehr vier Zeugen der Diagrammtradition einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieser Produktion ermöglichen und hierzu einige knappe Thesen skizzieren:

Die vier Zeugen lassen sich im Hinblick auf ihre Komplexität sortieren: Das eine Ende der Tradition bildet die Arnsteinbibel, die den Zusammenhang zwischen Kosmos und Körper mit drei Diagrammen darstellt. Lat. 6560 steht am anderen Ende, da es den gleichen Sachverhalt in einem einzigen Diagramm vereint (auch wenn auf der Folgeseite das Verhältnis der Elemente erneut dargestellt wird). Lat. 11130 und Car. C. 137 nehmen mit zwei Diagrammen eine Mittelstellung ein.

Es ist dabei verlockend, über diese unterschiedliche Komplexität auf verschiedene Phasen der Entwicklung dieser Diagramme zu schließen. Da der Arnsteinbibel wichtige gestalterische Elemente fehlen, die den anderen Handschriften gemein sind (hier sind vor allem die versetzte Anordnung der Sternzeichen sowie die doppelwandigen Halbkreise mit den Himmelsrichtungen und den Jahreszeiten zu nennen), scheint es wahrscheinlich, dass die Bibel einer früheren Entwicklungsstufe der Tradition entspricht. Lat. 6550 wäre in dieser Lesart der Endpunkt dieser Entwicklung.

In diesem Fall böte sich hier ein aufschlussreicher Einblick in die Entstehung dieser diagrammatischen Traditionen:

Eine ursprünglich diagrammfreie Fassung des zweiten Buches der Philosophia wurde vermutlich zur Klärung des komplizierten Textes mit Illustrationen versehen, die die wesentlichen Elemente der Textstelle verdeutlichen. Der Urheber dieser Abbildungen bediente sich dabei des klassischen bekannten Formenrepertoirs und war bemüht, die sehr unterschiedlichen thematischen Felder des Textes zu isolieren, gleichzeitig aber auch ihre Beziehung deutlich zu machen. Diese graphische Umsetzung besticht durch ihre Einfachheit, hat aber auch eine entscheidende Schwäche: Man muss erst erkennen, dass die drei Diagramme aufeinander zu beziehen sind, damit die Abbildungen ihren Sinn entfalten können.

Diesem Umstand trägt die zweite Entstehungsstufe in Lat. 11130 und Car. C. 137 Rechnung. Hier wird D2, also der Lauf der Sonne durch die Jahreszeiten, in die graphisch reduzierte Abbildung des Kosmos integriert und dem Schema der Elemente gegenüberstellt. So wird ein besseres Verständnis gewährleistet; die Diagramme verlieren dadurch aber auch an Bildlichkeit und werden abstrakter.

Lat. 6560 könnte nun den letzten Schritt in dieser Entwicklung darstellen. Die Elemente wurden auf ein stark abstrahierendes Diagramm reduziert. Die ursprünglichen klassischen Formen sind in einem neuen Diagramm aufgegangen.

Diese Beobachtungen – sollten sie sich erhärten lassen – legen den Schluss nahe, dass hochmittelalterliche  Diagramme nicht einfach aus dem Nichts geschaffen werden konnten, sondern zunächst aus dem überlieferten Formenspektrum schöpfen mussten. Damit bestätigt sich die Vermutung von Ramírez-Weaver:

“The creator of a diagram, even a new one […] was restricted by standard techniques of visualization […] medieval preferences for the formal arrangements
of charted information (like rotae), and a relatively straightforward adherence to well-known ›facts‹ […].”7

Einmal etabliert werden diese Diagramme dann zunehmend abstrahiert und in ein einzelnes Diagramm integriert.

Diese Überlegungen sind sicherlich noch sehr vorläufig und bedürfen eingehender Prüfung. Rätselhaft ist zum Beispiel das plötzliche Verschwinden dieser diagrammatischen Tradition mit Lat. 6560 ab dem 13. Jahrhundert. Die drei Handschriften der Philosophia, Car. C. 137, Lat. 11130 und Lat. 6560, scheinen auf jeden Fall in einer Beziehung zueinander und zur Arnsteinbibel zu stehen, die näher zu untersuchen sich sicherlich lohnen würde.8

  1. Schonhardt, Michael: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. (Reihe Septem, 2) Freiburg 2014.
  2. Kurzbeschreibung auf Freidok.
  3. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 58-61.
  4. Ediert in Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890, S. 293-298.
  5. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 98-100.
  6. Murdoch, John: Album of Science, Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 15.
  7. Ramírez-Weaver, Eric: Creative Cosmologies in Late Gothic Bohemia: Illuminated Diagrams and Memory Tools for the Court of Wenceslas IV, in: Manuscripta Bd. 54 (2010), S. 21–48, hier S. 31.
  8. Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht sicherlich von der geplanten Edition der Philosophia durch Paul Edward Dutton im CCCM zu erwarten.

 

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/228

Weiterlesen

Pariser Historische Studien: weitere Bände online!

Im Rahmen der Retrodigitalisierung der Buchreihe Pariser Historische Studien stehen nun vier weitere Bände kostenlos zur Verfügung. Die Nummern 91, 92, 95 und 96 sind bei perspectivia.net online.

Guido BraunGuido Braun: La connaissance du Saint-Empire en Franec du baroque aux Lumières 1643-1756.

Inhalt
Introduction – Le droit public allemand depuis les traités de Westphalie jusqu’à la fin du XVIIe siècle – La diplomatie française et la Constitution du Saint-Empire de Richelieu à Mazarin -  La France et les langues de l’Empire, du baroque aux Lumières – La France et l’histoire du droit public de l’Empire sous les règnes de Louis XIV et de Louis XV – Les Français et les institutions impériales. Du monde des diplomates à la culture des élites – Conclusion générale: Comment, de 1643 à 1756, les Français voyaient-ils l’Empire?

Thorsten Hiltmann

 

Thorsten Hiltmann: Spätmittelalterliche Heroldskompendien. Referenzen adeliger Wissenskultur in Zeiten gesellschaftlichen Wandels (Frankreich und Burgund, 15. Jahrhundert).

Inhalt
Einführung – Definition der Quellengruppe – Struktur der Heroldskompendien und ihre Überlieferung – Die Inhalte der Heroldskompendien – Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse

 

Peter GeissPeter Geiss: Der Schatten des Volkes. Benjamin Constant und die Anfänge liberaler Repräsentationskultur im Frankreich der Restaurationszeit 1814-1830.

Inhalt
Einleitung – Ideen- und verfassungsgeschichtliche Rahmenbedingungen liberaler Repräsentationskultur – Liberake Repräsentationskultur und Öffentlichkeit – Liberale Repräsentationskultur zwischen Hauptstadt und Provinz. Zwei Regionalstudien – Schlussbetrachtung

Christine Howald

 

 

Christine Howald: Der Fall Nicolas Fouquet. Mäzenatentum als Mittel politischer Selbstdarstellung 1653-1661.

Inhalt
Einleitung – Nicolas Fouquet: Quo non ascendet? – Schloss und Sammlung im Schatten Mazarins: Fouquets Kulturpatronage der Jahre 1653-1655 – Auf dem Weg zur königlichen Gunst: Prachtbau und Propaganda 1656-1661 – Die letzte Chance: das Fest vom 17. August 1661 – Epilog

_________

Siehe auch:

Bände 20-29 der Pariser Historischen Studien online, in: Digital Humanities am DHIP, 24.09.2013, http://dhdhi.hypotheses.org/2023.

Die ersten elf Bände der Pariser Historischen Studien online verfügbar, in: Digital Humanities am DHIP, 17.10.2012, http://dhdhi.hypotheses.org/1290.

Pariser Historische Studien ab Herbst im Open Access online, in: Digital Humanities am DHIP, 20.6.2012, http://dhdhi.hypotheses.org/847.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/2157

Weiterlesen