Daher ist das schönste Zeichen der Originalität,
wenn man einen empfangenen Gedanken dergestalt fruchtbar zu entwickeln weiß,
dass niemand leicht, wieviel in ihm verborgen liege, gefunden hätte.1
PROLOG
Ein Vortrag im Rahmen dieser Vorlesungsreihe hat seinen besonderen Reiz, denn im Grunde erleben wir hier einen Praxistext dessen, worüber ich nun sprechen möchte: Die Dramatisierung von Romanen für die Bühne. Denn auch hier geht es doch darum, einen Text, der eigentlich nur zum Lesen gedacht war, so zu verändern, dass er mündlich vorgetragen werden kann.
Veränderung ist für mich hier tatsächlich das Schlüsselwort, denn nur durch beherzte Eingriffe und eigene Akzente lässt sich eine neue, in sich geschlossene Adaption erschaffen, die ohne Kenntnis der Vorlage bestehen kann.
Um diese These nun zu fundieren, habe ich mich für einen Dreiakter entschieden:
I. Akt: Exposition und Rahmenbedingungen
Nach dieser kurzen Einleitung werde ich zunächst ein paar Überlegungen zum Verhältnis von Roman und Drama anschließen, bevor wir dann ganz konkret am Beispiel Falladas sehen werden, wie sich die Dramatisierung von ihrer Inspirationsquelle unterscheidet.
Zugrunde liegt hier die Bühnenfassung von Jens Groß, die er als leitender Dramaturg des Maxim Gorki Theater erstellt hat. Inszeniert wurde sie dann von Jorinde Dröse, die Premiere war im September 2011.
Ich habe die Dramatisierung nicht unter theaterwissenschaftlichen, sondern unter literaturwissenschaftlichen Aspekten untersucht. Die Basis der Arbeit bildet daher ein Textvergleich, die Aufführung habe ich nur am Rande berücksichtigen können und möchte sie in diesem Vortrag vorerst vernachlässigen. Es könnte die Frage entstehen, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, den Text als Grundlage für eine Analyse zu nehmen. Schließlich ist er ja ein Zwischenprodukt, das doch ohnehin nur zur Aufführung bestimmt ist. Ich behaupte natürlich: ja, das ist gerechtfertigt und zwar aus mehreren Gründen.
Der erste und entscheidende: Jede Inszenierung ist bereits eine persönliche Interpretation des zugrunde liegenden Textes. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass zwischen dem Roman und der Inszenierung zwei Adaptionen stattfinden. So wie die Dramatisierung des Romans eine intertextuelle Adaption ist, vollzieht sich in der Inszenierung eine weitere, intermediale Adaption. Das wird besonders deutlich, wenn man mal zwei verschiedene Inszenierungen des gleichen Textes gesehen hat. Es gibt Kürzungen, Veränderungen und Umdeutungen, die manchmal völlig von der Vorlage abweichen. Daher wäre es aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht schlüssig, die Aufführung als Grundlage zu nehmen. Was die Vergleichbarkeit angeht, ist es zudem ohnehin naheliegender, zwei Texte zu analysieren als Werke verschiedener Medien.
Der zweite Grund ist die Publikation der Dramatisierung. Oftmals entstehen Dramatisierungen explizit für eine Inszenierung, manchmal gar auf die Schauspieler gemünzt. Doch durch die Publikation im Felix Bloch Erben Verlag kann sich jedes Theater die Version von Jens Groß bestellen, die Möglichkeit weiterer Inszenierungen besteht also.2
Der dritte Grund führt uns schon in den nächsten Akt: Damit eine Inszenierung auf einer dramatisierten Textvorlage aufbauen kann, muss diese ein eigenständiges Werk sein, das als Interpretationsbasis dienen kann.
Es gibt bekanntermaßen viele Regisseure, die eher mit Textflächen oder Prosa arbeiten. Wenn der Schritt zur dramatischen Fassung allerdings gemacht wird, dann nur deshalb, weil sie sich deutlich vom Roman unterscheiden soll. Wo also hört Roman auf und fängt Drama an?
II. Akt: Roman vs. Drama
Ich bin natürlich nicht der Erste, der sich mit dieser Frage beschäftigt und werde sie hier auch nicht beantworten können. Deshalb geht es an dieser Stelle nur um einen Punkt dieser Thematik, den ich für grundlegend halte: Die Erzählinstanz im Drama. Goethe und Schiller haben sich damals in ihrem kleinen Aufsatz „Über epische und dramatische Dichtung“ auch schon Gedanken dazu gemacht und dabei festgestellt, dass der Dramatiker die Handlung als vollkommen gegenwärtig darstellt, der Epiker hingegen als vollkommen vergangen.3 Diese These hält sich seither mit verschiedenen Variationen in Dramentheorien ziemlich konstant, manchmal wird die „Gegenwärtigkeit“ dabei zur „Unmittelbarkeit“.4
Fazit bleibt meistens, dass das Drama stets im „Modus der Darstellung steht“ und dass nicht „der Dichter selbst spricht“.5
Wenn das aber der Fall ist: was ist dann mit all den Nebentexten, Rollenangaben und Regieanweisungen? Gibt es nicht auch im Drama eine Erzählinstanz, die ordnet und gestaltet, die vor allem aber vermittelt?
Wenn wir uns etwa eine Passage wie diese anschauen:
Hexenküche
Auf einem niedrigen Herde steht ein großer Kessel über dem Feuer. In dem Dampfe, der davon in die Höhe steigt, zeigen sich verschiedene Gestalten. Eine Meerkatze sitzt bei dem Kessel und schäumt ihn, und sorgt dass er nicht überläuft. Der Meerkater mit den Jungen sitzt darneben und wärmt sich, Wände und Decke sind mit dem seltsamsten Hexenhausrat ausgeschmückt.6
Das könnte auch der Beginn einer Erzählung oder einer Fabel sein. Es handelt sich hier um einen extradiegetischen Erzähler, der uns die Hexenküche aus Goethes Faust beschreibt. Dieser Erzähler ist nicht personalisiert und damit nicht auf Figurenebene angesiedelt.
Ein Gegenbeispiel sei dieses hier:
Geräumige, überdachte Terrasse einer großbürgerlichen Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende zwischen Bonn und Bad Godesberg, früh an einem Spätsommermorgen, Blick aufs gegenüberliegende Rheinufer, wo man hinter Auwäldchen und Gebüsch größere Villen sieht. Erika Wubler sitzt im Morgenrock am Frühstückstisch, neben sich die Zeitung, in der Hand ein Manuskript, in dem sie liest, als Katharina mit dem Kaffee kommt. Katharina stellt die Kaffeekanne hin.
ERIKA WUBLER blickt auf: Danke. Kein Ei für mich. Was macht mein Mann? Ist er auf?
KATHARINA RICHTER Er sitzt in der Badewanne und trinkt Kaffee. Herr… Ich Mann meint, ich sollte für Sie das graue Jackenkleid aus dem Schrank nehmen, es noch einmal aufbügeln… Er meint, Sie könnten dazu Korallen tragen.7
Es ist der Beginn von Heinrich Bölls Frauen vor Flusslandschaft. Ein Roman in Dialogen mit klassisch dramatischer Struktur.
Ich zeige diese (natürlich extremen) Beispiele, weil sie deutlich machen, dass sowohl das Drama, als auch die Erzählung aus einer Mischung von vermittelnder Berichterstattung einerseits und direkter, unvermittelter Rede andererseits bestehen und dass diese Mischung variabel ist. Die Gattungstheorie orientiert sich an Prototypen, die entstanden sind, weil das Verhältnis von Erzählertext und Dialog klassischerweise verschieden gewichtet ist. Notwendig ist diese Gewichtung aber nicht und damit auch kein hinreichendes Unterscheidungskriterium. Schaut man sich die vielen hybriden Texte der Postdramatik an, wird dieser Eindruck bestätigt.
Es bleibt letztendlich dem Regisseur überlassen, wie er mit den mehr oder weniger langen erzählerischen Passagen im Dramentext umgeht. Es ist die Tatsache, dass sie meistens auf der Bühne nicht ausgesprochen werden, die den Eindruck erweckt, es gebe keinen Erzähler oder man könne ihn vernachlässigen. Daher noch ein letztes Beispiel, wie entscheidend er ins Drama eingreift:
Wenn wir ein Drama lesen, vertrauen wir der Erzählinstanz in der Regel sogar mehr, als den Figuren. Das sehen wir etwa an diesem Minidrama:
JEMAND: Warst du vor deinem Vortrag eigentlich aufgeregt?
STUDENT (lügt): Nee, eigentlich gar nicht…
JEMAND: Echt? Wow!
Es geht hier natürlich um den kleinen kursiven Einschub „lügt“. Deutlich wird: Die Figurenrede kann durchaus falsch sein, der Nebentext in Klammern ist dagegen eine Instanz, der wir automatisch vertrauen, nicht zuletzt, weil sie außerhalb des Geschehens steht.
Wir müssten uns also bei der szenischen Umsetzung darauf verlassen, dass die Lüge, von der wir als Leser ja erfahren, auch dem Zuschauer in irgendeiner Form vermittelt wird.
Da die direkte Rede der Figuren unverändert übernommen werden kann, ist die entscheidende Frage also: Wie werden die erzählerischen Passagen des Romantextes umgewandelt?
Die einfachste Form einer Dramatisierung wäre schon erfolgt, wenn man dem gesamten Text die Figurenzuweisung „Erzähler“ beifügen würde. So entstünde quasi ein dramatischer Monolog. Die Entsprechung für diese Veranstaltung wäre, wenn ich hier einfach meine Bachelorarbeit vorlesen würde.
Das mag nach einem Konstrukt klingen, doch auf der Suche nach einem geeigneten Stück für meine Bachelorarbeit begegnete mir genau diese Form der Dramatisierung in Falladas Der Trinker am Maxim Gorki Theater: Andreas Leupold und Samuel Finzi saßen den größten Teil des Abends auf der Bühnenkante und haben eine Strichfassung des Romans erzählt, ohne dass dabei bestimmte Rollen zugewiesen wurden. Nur in den Szenen des Alkoholrausches gab es ein wenig Bewegung auf der Bühne.
Anders war es dann bei der nächsten Fallada-Inszenierung. Für Jeder stirbt für sich allein wurde eine Dramatisierung angefertigt.
III. Akt: Die Fallada-Dramatisierung
Eine der großen Stärken von Falladas Roman ist die Nähe, die der Leser zu den Figuren aufbauen kann. Auf knapp 700 Seiten berichtet der Erzähler mit vielen Perspektivwechseln von Anna und Otto Quangel, die nach dem Tod ihres Sohnes eine eigene Form des Protestes gegen das Nazi-Regime suchen. Sie fangen an, aufrührerische Postkarten zu schreiben und sie in Berliner Treppenhäusern zu verteilen. Nach einigen Jahren werden sie dabei erwischt und bezahlen mit ihrem Leben, obwohl diese Karten nie jemanden erreichen und bekehren – bis auf den zuständigen Kommissar Escherich. Das ganze basiert auf einer wahren Geschichte.
Ich werde versuchen, die Methoden der Dramatisierung mit möglichst vielen Beispielen zu illustrieren und dabei erfolgreiche und missglückte Beispiele gleichermaßen zu nennen.
Bei der Analyse werde ich in Anlehnung an die formalistische Trennung zwischen histoire und discours unterscheiden zwischen den Änderungen auf Handlungsebene (das wäre zum Beispiel der Verzicht auf eine Information) und den Änderungen auf der Darstellungsebene (wenn die Information also beibehalten wird, die Darstellung sich aber ändert). Manchmal lassen sich Eingriffe natürlich nicht nur einer dieser Ebenen zuordnen, da Form und Inhalt letztendlich nicht voneinander zu lösen sind.
Rein formal kürzt Jens Groß den Roman, der aus 4 Teilen mit insgesamt 73 Kapiteln besteht, zu einem Drama aus drei Teilen und 31 Szenen plus einem Epilog. Der gesamte vierte Teil des Romans, der das Leben im Gefängnis und die Gerichtsverhandlungen beschreibt, wird im Drama übersprungen, nur die Todesumstände der Hauptrollen werden im Epilog zusammengefasst.
Abgesehen von dieser großen Kürzung verzichtet die Adaption auf einige kleinere Handlungsstränge. Es wird etwa nicht berichtet, wie die erste Karte ihren Weg zur Gestapo findet, der Kommissar hält sie gleich zu Beginn des zweiten Teils in den Händen.
Verzichtet wird auch auf bestimmte Figuren. Damit meine ich nicht die, die durch die Streichung von Handlungssträngen oder Szenen wegfallen (wie etwa der Schauspieler Max Harteisen, der die erste Karte findet). Es gibt auch Figuren, die wegfallen, obwohl die Szene erhalten blieb. Dies ist etwa in vielen Szenen, die im Kommissariat spielen, der Fall.
Gleichermaßen wird auf Orte verzichtet, an denen sich eine Handlung vollzieht. Es gibt beispielsweise ein Treffen einer geheimen kommunistischen Zelle, das im Rahmen einer Nazi-Feier stattfindet und dadurch besonders gefährlich wird. Im Drama findet das Treffen in einem anderen Kontext statt und verliert an Brisanz.
Zuletzt entfallen natürlich viele Hintergrundinformationen, Gedanken und Beschreibungen, das ist sicherlich die häufigste Form der Kürzung.
Hin und wieder werden auch verschiedene Kapitel zu einem montiert oder Aussagen eines Kapitels in verschiedene andere verteilt. Diese Art der Ausdünnung führt manchmal dazu, dass die Bedeutung sich verändert oder verloren geht, so etwa bei Kuno-Dieter. Von dem weiß der Leser und Zuschauer ungefähr genauso viel wie Sie jetzt gerade. Es ist der Sohn eines anderen Bewohners aus Quangels’ Haus, er flieht aufs Land und kommt bei Eva Kluge unter, die die Stadt verlassen hat.
Fallada beendet seinen Roman später mit ihm – mit einiger Moraldidaktik und Programmatik:
Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht, dem unbezwinglichen, immer von neuem über Schmach und Elend und Tod triumphierenden Leben.8
Dies ist der Beginn des letzten Kapitels, das Kuno-Dieter als Hoffnungsträger darstellt.
Da der ganze letzte Teil wie erwähnt gestrichen ist, fehlt auch diese letzte Szene. Kuno-Dieter kommt zuvor zwei Mal vor, ohne dass klar ist, wer dieser Junge überhaupt ist. Seine Rolle als Hoffnungsträger oder Repräsentant der Folgegeneration hat er verloren. Seine Funktion im Drama bleibt unklar und geht gegen Null.
Gehen wir über zu den Änderungen auf Darstellungsebene, die meines Erachtens sowieso die spannendere und entscheidende ist.
Vergleichen wir den Beginn von Roman und Drama, so finden wir direkt ein Beispiel für die vorhin erklärte simpelste Form der Dramatisierung. Der Erzählertext wird einer Figur zugeordnet (Eva Kluge), die damit Erzählerfunktion bekommt. Der Text unterscheidet sich bis auf ein eingefügtes „nein!“ gar nicht. Im weiteren Verlauf der ersten Szene findet sich Rollentext, einmal vom Hausbewohner Persicke, einmal von Eva. Diese Rollen befinden sich nun auf der metadiegetischen Ebene. Das lässt sich unterscheiden, weil der Erzählertext kursiv gedruckt ist. Die Nebentexte sind zwar auch kursiv gedruckt, aber in einer anderen Schriftart. Damit gibt es drei Textarten: Kursive Nebentexte mit Handlungsanweisungen von der externen Erzählinstanz; Kursive Erzählertexte, die einer Figur zugeordnet sind und schließlich: die Rollentexte.
Im Spiel macht sich der Sprung zwischen den Erzählebenen dann durch einen Adressatenwechsel bemerkbar. Erzählertexte richten sich ans Publikum, Figurentexte an die anderen Figuren auf Spielebene.
Auf diese Weise kann die Postbotin ihren Weg durchs Haus beschreiben und alle Bewohner kurz vorstellen – eine klassische Exposition also. Auch im weiteren Verlauf des Dramas wird Eva Kluge immer wieder die Erzählerposition einnehmen und auch einige andere Figuren auf gleiche Weise. So etwa Hete Häberle, die sich um Evas Ex Enno kümmert.
Frau Hete beschließt, stark für zwei zu sein. Frau Hete beschließt, ihn vor allen von der Gestapo drohenden Gefahren zu behüten [...] Frau Hete beschließt, in dieses Leben da, das nun bei ihr liegt, Ordnung und Sauberkeit zu bringen.
Und Frau Hete hat keine Ahnung, dass dieser schwache Mann an ihrer Seite stark genug sein wird, Unordnung, Leid, Selbstvorwürfe, Tränen, Gefahr in ihr Leben zu bringen. Frau Hete hat keine Ahnung, dass all ihre Stärke zu nichts wurde im gleichen Augenblick, als sie beschloss, diesen Enno Kluge bei sich zu behalten.9
Im Drama endet dieser Text allerdings nach dem ersten Absatz und das nicht nur, um zu kürzen, denn im Roman mischt sich der allwissende Erzähler mit einer Vorausdeutung plötzlich in Hetes Gedanken ein – darauf verzichtet das Drama, wahrscheinlich um unfreiwillige Komik durch diese hellseherische Gabe zu vermeiden.
Erzählertexte können natürlich auch übernommen werden, ohne sie einer Figur zuzuweisen. Das geschieht zum Beispiel bei Szeneneinführungen. Der Romanauszug:
Kommissar Escherich, ein langer schlenkriger Mann mit einem losen, sandfarbenen Schnurrbart, in einem hellgrauen Anzug – alles an diesem Menschen war so farblos, dass man ihn gut für eine Ausgeburt des Aktenstaubes halten konnte –, also, Kommissar Escherich drehte die Karte zwischen den Händen hin und her.10
wird zu einem schlichten „Escherich drehte eine Karte zwischen seinen Händen hin und her“.11
Escherich hat die Karte in der Hand, auf die ausführliche Beschreibung wird sinnvollerweise verzichtet.
Es gibt noch eine weitere Umwandlungsmethode von Erzähltexten – leider eine, die häufig missglückt. So etwa, wenn der Inhalt durch die Veränderung nicht mehr glaubwürdig ist. Wo der Roman berichtet: „Nun steht er [Otto] ihr gegenüber; er hat die dünne Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und wartet auf das freudige Erglänzen ihres Gesichtes. Er liebt in seiner wortkargen, stillen, ganz unzärtlichen Art diese Frau sehr“12 findet sich in der Adaption die Aussage Ottos „Gleich wird sie vor Freude strahlen. Ich liebe diese Frau sehr“ (Fallada; Groß, S. 2), die so wenig zu seiner „wortkargen, stillen, ganz unzärtlichen Art“ passen will. Otto muss durch die Verbalisierung mit seinem eigentlichen Charakter brechen.
Werden Figuren aus dem Roman gestrichen, ohne dass die Szene gestrichen wird (wie vorhin beschrieben), bedeutet das nicht unbedingt, dass ihr Text mit ihnen verschwinden muss. So werden Texte manchmal anderen Figuren zugeordnet, die eine ähnliche Gesinnung haben oder, wie im Falle des Kommissars, wird aus einem Dialog einfach ein Monolog:
„Eine neue Platte“ meinte er dann. „Die habe ich noch nicht in meiner Sammlung. Schwere Hand, hat nicht viel geschrieben in seinem Leben, immer mit der Hand gearbeitet.“
„Ein Kapediste?“, fragte das Füchslein.
Der Kommissar Escherich kicherte: „Machen Sie doch keine Witze, Herr! So was und ein Kapediste! Sehen Sie, wenn wir eine richtige Polizei hätten und die Sache wäre es wert, so wäre der Schreiber da in vierundzwanzig Stunden hinter Schloss und Riegel.“
„Und wie würden Sie das machen?“
„Das ist doch ganz einfach! Ich ließe überall in Berlin recherchieren, wem in den letzten zwei, drei Wochen ein Sohn gefallen ist.“13
Die Dramatisierung bündelt diese Informationen folgendermaßen:
ESCHERICH Schwere Hand, hat nicht viel geschrieben in seinem Leben, immer mit der Hand gearbeitet. Wenn wir eine richtige Polizei hätten und die Sache wäre es wert, so wäre der Schreiber da in vierundzwanzig Stunden hinter Schloss und Riegel. Ich ließe überall in Berlin recherchieren, wem in den letzten zwei, drei Wochen ein Sohn gefallen ist.14
Dieses Vorgehen birgt natürlich die Gefahr, einzig zur Informationsvermittlung zu dienen. Es ist nicht ganz klar, warum Escherich diesen langen Text vor sich hin monologisieren sollte. Es handelt sich ja um Rollentext, nicht um Erzählertext. Noch einmal sei hier betont: Natürlich betreffen diese Änderungen nicht nur die Darstellungsebene. Mir geht es hier aber vor allem darum, wie mit dem Text umgegangen wird, der im Drama behalten wird. Der Inhalt schien Jens Groß an dieser Stelle offenbar übertragenswert, der Kollege jedoch nicht, also stellt sich die Frage, was er daraus macht.
Als Verfasser einer Dramatisierung muss man sich natürlich nicht auf das Textmaterial beschränken, was man mit dem Roman vorfindet. Eine weitere Möglichkeit der Adaption ist es, andere oder eigene Texte einzubringen.
Eine gewaltige Jagd nach Enno Kluge, der eine Weile lang für den Schreiber der Karten gehalten wird, erspart sich das Drama durch die einfache Regieanweisung „Escherich findet Enno Kluge“.15 Eine sehr pragmatische Einfügung eines Nebentextes also, die das 31. und 32. Kapitel des Romans zusammenfasst. Missglückt ist hingegen dieses Beispiel eigener Texteinfügung:
Der Roman berichtet an einer Stelle vom Ehepaar Quangel: „Aber sosehr sie sich jetzt auch anschauten, sie hatten einander kein Wort zu sagen.“16 Daraus wird im Drama die Regieanweisung „Die Quangels still nebeneinander. Beide sehen in verschiedene Richtungen“.17
Der hilflose, beklemmende Blick wird hier durch demonstratives Abgewendetsein ersetzt – für mich ein deutlicher Verlust an Intensität.
Es gibt zwei Stellen, an denen Jens Groß sich entschieden hat, fremde Texte ins Spiel zu bringen. Einerseits fügt er beim Treffen der vorhin schon einmal erwähnten geheimen kommunistischen Zelle einen Teil aus Albert Ostermaiers Drama Aufstand ein. Dieses Drama basiert auf der Flugschrift Der kommende Aufstand des Comité Invisible ein. Jens Groß bedient sich in diesem Fall bei Ostermaier und unterstreicht damit die revolutionäre, aufrührerische Stimmung.
Die zweite, weitaus interessantere Stelle ist ein Absatz aus einer Hitler-Rede an die deutsche Reichsjugend. Sie stammt vom Nürnberger Parteitag 1934 und wird im Drama Baldur Persicke, den wir schon vom Anfang kennen, zugeschrieben:
BALDUR Ich möchte beinahe die beiden Kerle laufenlassen. Sie tun mir leid, Herr Kammergerichtsrat, es sind doch bloß kleine Kläffer.
Wir wollen ein Volk sein. Wir wollen, dass dieses Volk einst gehorsam ist und ihr müsst euch in diesem Gehorsam üben. Wir wollen, dass dieses Volk einst friedliebend und aber auch tapfer ist, und ihr müsst friedfertig sein und mutig zugleich. Wir wollen, dass dies Volk einst nicht verweichlicht wird, sondern dass es hart sein kann. Und ihr müsst euch in der Jugend dafür stählen. [...].18
Im Raum sind nur der betagte Kammergerichtsrat Fromm und Otto Quangel. Die können also eigentlich nicht als Adressat dieser Ausführungen gemeint sein. Zudem vollzieht sich hier natürlich ein Stilwechsel. Wenn man dann noch den Kontext bedenkt (Baldur wurde gerade bei einem Einbruch erwischt und wollte eigentlich im letzten Absatz noch die Verantwortung abgeben), wirkt dieser plötzliche Umschwung in der Haltung doch sehr befremdlich. Die Unterstreichung der Nazi-Gesinnung Baldurs (ein anderer Grund für diesen Text ist mir zumindest nicht ersichtlich geworden), hätte man vielleicht auch subtiler gestalten können. Auch Jorinde Dröse hat in ihrer Inszenierung auf diesen Einschub verzichtet.
Ein letztes Beispiel zum Schluss. Ich habe gesagt, eigene Setzungen seien wichtig. Die ergeben sich einerseits ja daraus, für welche Episoden, Figuren und Texte man sich entscheidet. Auch die Hinzufügung einer Hitler-Rede kann man durchaus als eine persönliche Interpretation sehen. Ich könnte aber auch noch ein für meine Begriffe geglücktes Beispiel nennen: In der Einbruchsszene, die mit dem Hitler-Zitat endet, stehen zuvor schon Enno und sein Kumpane Emil in der Wohnung und wollen sie ausräumen. Währenddessen entdecken sie das Schnapsregal und kommen deshalb mit ihrem Beutezug nicht so wirklich voran. Jens Groß fügt hier geschlagene zwanzig Mal die Zeile „Prost Emil. Prost Enno.“19 ein und ironisiert die Szene damit sehr. Es entsteht ein eigener Schwerpunkt.
Dies sind natürlich nicht alle Methoden der Dramatisierung, doch gewisse Strategien lassen sich schon erkennen und ermöglichen das folgende Fazit.
Durch die Erhaltung eines heterodiegetischen Erzählers, der von verschiedenen Figuren übernommen wird, sichert sich die Dramatisierung die Möglichkeiten der Kommentierung, der Raffung, vor allem aber der Übertragung des ursprünglichen Erzählertextes.
Wenn man sich anschaut, was entstanden ist, als der Erzählertext in anderer Weise umgewandelt wurde, ist das wohl eine sehr gute Entscheidung.
Es ergibt sich daraus aber noch ein Nebeneffekt: Die Figuren, die die Erzähltexte sprechen, bleiben in ihrer Rolle erkennbar und damit ist der Erzähltext stets mit einer Figur verbunden. Auf diese Weise ist der Leser und Zuschauer näher an den Figuren. Diese Nähe zu den Figuren erzeugt der Roman durch den intern fokalisierten Erzähler – Jens Groß hat dafür eine passende Entsprechung gefunden.
Während diese Umwandlung gut gelungen ist, macht die dramatische Version deutliche Abstriche bei der Gestaltung der Figuren. Die Charaktere wirken flach und konturlos, von den Persönlichkeiten wird wenig übertragen. Einige Figuren bleiben so blass, dass man sie vielleicht besser weggelassen hätte, wie das Beispiel von Kuno-Dieter gezeigt hat.
Es sind diese logischen Schwächen, die dazu führen, dass man der Handlung manchmal nicht folgen kann und die Fassung nur versteht, wenn man den Roman kennt. Die Dramatisierung wird kein eigenes Werk, sondern bleibt ihrer Vorlage verpflichtet. Dabei geht durch missglückte Umwandlungen an vielen Stellen die authentische Atmosphäre und die Persönlichkeit einiger Figuren verloren.
Eine Dramatisierung, die unbedingt dem Roman gerecht werden will, wird das nicht schaffen – sie wird doch gerade erstellt, um sich zu unterscheiden. Solange der dramatische Text nicht in sich schlüssig ist, solange er nicht ohne Kenntnis des Originals zu verstehen ist, kann er auch nicht als eigenständige Vorlage für eine Inszenierung dienen.
In diesem Sinne kann ich nur hoffen, dass ich mich mit diesen Ausführungen halbwegs von meiner wissenschaftlichen Arbeit emanzipieren konnte und eine Adaption erstellt habe, die ohne Kenntnis des Originals zu verstehen war.
- Goethe: Maximen und Reflexionen
- Dass geglückte Dramatisierungen anschließend von vielen anderen Theatern verwendet werden lässt sich etwa an John von Düffels Buddenbrooks-Adaption beobachten oder – noch aktueller – an der Robert Koalls Bühnenfassung von Tschick, die derzeit landauf, landab nachgespielt wird.
- vgl. Goethe, Johann Wolfgang; Schiller, Friedrich: Über epische und dramatische Dichtung. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Band 12. München: Beck, 1998, S. 249-251.
- vgl. Szóndi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt: 1963, hier S. 15.
- Pfister, Manfred: Das Drama. München: 2001, hier S. 23.
- Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil
- Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft
- Fallada, Hans: Jeder stirbt für sich allein. Berlin: 2012, hier S. 662
- Fallada, S. 285
- Fallada, S. 211
- Fallada, Hans; Groß, Jens: Jeder stirbt für sich allein. Berlin: Felix Bloch Erben, 2011, hier S. 29
- Fallada, S. 12
- Fallada, S. 211 f.
- Fallada; Groß, S. 29
- Fallada; Groß, S. 43
- Fallada, S. 16
- Fallada; Groß, S. 3
- Fallada; Groß, S. 14
- Fallada; Groß, S. 11ff.
Quelle: http://schubladen.hypotheses.org/133