Die Fortschrittsidee sei deshalb so wirkmächtig, schreibt Golan Gur, weil sie das Verstehen der Vergangenheit mit dem Vorhersagen der Zukunft verbindet. So nennt der Musikwissenschaftler seine Dissertation auch „Orakelnde Musik“ in Anspielung auf Karl Popper, der in seiner kritischen Betrachtung der Geschichtsphilosophien von Hegel und Marx von einer orakelnden Philosophie spricht. In seiner 2013 in der Reihe „Musiksoziologie“ veröffentlichten Studie möchte Gur zeigen, „wie die Kategorie des Fortschritts als Quelle der künstlerischen Motivation und Legitimation im musikalischen Denken einer von Richard Wagner bis Pierre Boulez gefassten Moderne insgesamt Bedeutung erlangt hat.“1 Im Mittelpunkt steht dabei die Fortschrittsidee, wie sie in den musikästhetischen Schriften Arnold Schönbergs ausgeprägt ist. Auch ihren geistes- und ideengeschichtlichen Hintergründen gibt der Autor viel Raum: So liest sich seine Arbeit letztlich wie eine historische Abhandlung über den Fortschrittsgedanken in der Musik, orientiert an und zentriert um Arnold Schönberg. Dabei setzt Gur die Idee eines musikalischen Fortschritts nie als gegeben voraus, sondern unterzieht sie stets einer kritischen Prüfung.
Im ersten Kapitel („Modernismus, historische Erzählungen und ästhetische Ideologien“) werden einleitende, allgemeine Gedanken zum Fortschrittsbegriff in der Moderne vorausgeschickt. Besonders wichtig ist Gur der Zusammenhang zwischen Fortschritt und Historizismus, also einer Sichtweise, nach der die Geschichte allgemeinen Gesetzen unterworfen ist, die ihren Verlauf voraussagbar machen. Mit diesem von Popper geprägten Begriff betont Gur das ideologische Moment der Fortschrittsidee: Was sich als allgemeine Gesetzmäßigkeit darstellt, ist vielmehr eine selektive Interpretation der Geschichte. „Fortschritt“ fasst er auf als ein Narrativ, mit dem Musikgeschichte erzählt wird bzw. werden kann. Damit sind Fortschritt und (Musik-) Historiographie eng verzahnt.
So richtet er seinen Blick in den Kapiteln 2 („Der Fortschrittsbegriff im musikalischen Denken“) und 3 („Musik und Fortschrittsideologien des 19. Jahrhunderts“) nicht nur auf die Entstehung des modernen Fortschrittsbegriffs, sondern auch auf die Entwicklung der Musikgeschichtsschreibung. Ist in der Antike ein zyklisches Geschichtsbild verbreitet, und wird Fortschritt in der Renaissance noch als Rückgriff auf Vergangenheit verstanden, so stellt sich dann im 18. Jahrhundert die Musik als ein Ort dar, an dem sich der Fortschritt der Menschheit vollzieht. Dabei spannt Gur einen Bogen von der Ars nova über die Querelle des Anciens et des Modernes bis ins 19. Jahrhundert und weist glaubwürdig nach, wie sich hier langsam ein neues Geschichtsbewusstsein entwickelt und wie dies nach und nach auch für die ästhetischen Überlegungen von Komponisten bedeutsam wird. Im 19. Jahrhundert sind es das geschichtsphilosophische Modell Hegels sowie die darwinistische Idee einer evolutionären Entwicklung von Kunst, die das Verständnis des musikalischen Fortschritts zentral prägten.
Für mich war es hier besonders spannend zu lesen, wie der Autor die frühe Musikwissenschaft um die Jahrhundertwende in diesem ideengeschichtlichen Kontext positioniert. Er zeigt, dass die Musikwissenschaft nicht nur in der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts verwurzelt ist, sondern auch evolutionistische Ideen aufgenommen hat. Guido Adler, der als ein Gründungsvater der akademischen Musikwissenschaft gilt, hat von seinem Lehrer Eduard Hanslick („Vom Musikalisch-Schönen“, 1854) die Einstellung übernommen, ein Kunstwerk lasse sich objektiv nur unter formalen Gesichtspunkten (Stil etc.) analysieren, während kontextbezogene (kulturelle, soziale, politische etc.) Aspekte nicht ins Gewicht fallen. Beeinflusst durch die evolutionistische Theorie von Herbert Spencer entwickelte er darüber hinaus die Idee, dass die Musikgeschichte nach bestimmten (eigenen) Gesetzen verlaufe, nämlich in Hinblick auf eine zunehmende Komplexität der Kompositionen. – Ist nicht auch heute noch innerhalb des Faches die Meinung weit verbreitet, dass nur aus der musikalischen Analyse sicheres Wissen über Musik resultiere? Und wie oft wird das Bild einer natürlichen, vielleicht sogar notwendig verlaufenden Entwicklung gezeichnet, die von Bach über Beethoven bis zu Schönberg reicht? Mir scheinen diese ästhetischen und geschichtsphilosophischen Annahmen tief in der Disziplin der historischen Musikwissenschaft verwurzelt zu sein. Eine Thematisierung und kritische Auseinandersetzung mit diesen Ursprüngen sollten unbedingt in die Curricula aufgenommen werden!
In Kapitel 4 („Schönberg und der ‚Fortschritt‘ der Musik“) geht es dann um Schönbergs Konzeption des musikalischen Fortschritts. Schönberg geht von einer organischen Entwicklung der Musik aus, die sich in der harmonischen Emanzipation äußert: Die immer freiere Verwendung von Dissonanzen bis hin zur Auflösung der Tonalität stellt für ihn eine historische Notwendigkeit dar. Schönberg, die diese Auflösung in der Zwölftonmusik vollzieht, inszeniert sich damit als (der) Komponist, der die abendländische Musiktradition fortführt. Gur verweist hier nochmals auf Poppers Begriff des Historizismus, um Schönbergs Deutung der Musikgeschichte und seinen Anspruch auf den (alleinigen) Fortschritt zu problematisieren. Schönbergs Fortschrittsidee ist aber bei weitem nicht bloß ein theoretisches Konstrukt, so lautet eine von Gurs Thesen, sondern sie steht in Wechselwirkung mit seinem kompositorischen Schaffen. Für ein umfassendes Verständnis seiner musiktheoretischen Schriften sowie seiner Kompositionen ist die Idee des Fortschritts also unerlässlich. Von Schönberg und vielen seiner Zeitgenossen wurde Fortschritt als selbstverständlich vorausgesetzt. So heißt es in der vorliegenden Studie: „Für Schönberg, wie für viele andere moderne Komponisten, war der Fortschrittsglaube fester Bestandteil einer Werteordnung, ohne welche die Kunst nicht ein wahrhaftiges Unterfangen von Bedeutung sein konnte.“2
Schönbergs Konzept von Fortschritt, so Gur, hatte großen Einfluss auf das Denken über Musik im 20. Jahrhundert, insbesondere auf die Musikphilosophie Theodor W. Adornos. Dabei zeichnet er nach, wie Schönbergs Ideen durch die Emigration seiner Schüler und Anhänger nach 1933 in andere Länder (USA, England, Frankreich) Einzug fanden. Im letzten Kapitel („Die Avantgarde und der Weg zum Pluralismus“) gibt der Autor einen Ausblick darauf, wie musikalischer Fortschritt nach 1945 konzipiert wird, besonders im Kontext der europäischen Avantgarde und sozialistisch geprägten Staaten.
In seinen Überlegungen zum modernen Fortschrittsbegriff betont Gur das ausgeprägte Geschichtsbewusstsein der Moderne sowie das Bedürfnis der Komponisten, ihren eigenen Standort in der Geschichte zu reflektieren. Darüber hinaus stellt er die These auf, dass der Begriff des Fortschritts – auch bei Schönberg – nie einheitlich verwendet wurde: Vielmehr gibt es eine Bandbreite an Facetten und Bedeutungen. Das sehe ich im Übrigen genauso: In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich für die 1950er Jahre das reiche Spektrum an Positionen zum musikalischen Fortschritt, die auf ganz unterschiedliche Traditionen zurückgeführt werden können.
Zur Bedeutung der Fortschrittsidee in der Musik schreibt Gur: „Fortschritt wurde dadurch zur Realität, dass Komponisten und Musiker dieses Konzept rezipierten und in ihre künstlerischen Entscheidungen und Präferenzen integrierten.“3 Auch wenn die Idee des Fortschritts als historizistisch oder als ideologisch entlarvt wird, so ist sie doch eine zentrale Idee, die noch bis heute in vielen Bereichen des Lebens wirkt – als Legitimation und Orientierung. Das macht eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr so spannend und wichtig!
Musikwissenschaftler, die sich für die Ästhetik und Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts interessieren, können sich in „Orakelnde Musik“ über die kritische Besprechung vieler Quellen freuen. Auch über die Grenzen der Musikwissenschaft hinaus ist dieses Buch erkenntnisreich für jeden, der sich mit der Fortschrittsidee und ihren Ausprägungen im Laufe der abendländischen Geschichte beschäftigen möchte.
1Golan Gur, Orakelnde Musik. Schönberg, der Fortschritt und die Avantgarde, Kassel 2013 (Musiksoziologie, 18), S. 15.
Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/124