Projekt Lehrplan 21 – die Politik und die Geschichte
Er bewegt die Gemüter einer breiten Öffentlichkeit landauf und landab. Derzeit steckt er in der Konsultation. Der vieldiskutierte und heiß erwartete Lehrplan 21 dient der Umsetzung des Auftrags der Schweizer Bundesverfassung zur Harmonisierung der Ziele der Bildungsstufen.
Kantonaler Neubeginn
In der Schweiz liegt die Bildungshoheit in den Kantonen und nicht auf nationaler Ebene. 21 Deutschschweizer Kantone haben sich zusammengerauft und eine sinnmachende Koordination im Bildungswesen gemeinsam angepackt. Der Lehrplan 21 integriert die nationalen Bildungsziele (Bildungsstandards). Er gewährt damit Anschlussfähigkeit unter den Kantonen und reagiert auf die reale Mobilität der Familien innerhalb des Landes. Das ist erfreulich und bemerkenswert und in dieser Dimension auch erstmalig! Der Lehrplan 21 ist kein Reformprojekt und schließt nahtlos an die bereits bestehenden Lehrpläne an. Es soll ein alltagstaugliches Werkzeug für die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen schaffen, das die Arbeit erleichtert und Verlässlichkeit und Klarheit in den pädagogischen Alltag bringt.
… ein großes Leintuch, an dessen Ecken unglaublich viele Leute ziehen
Dass nun beim neuen Lehrplan die Kompetenzorientierung im Vordergrund steht, ist ein großer Gewinn. Der Lehrplan 21 beschreibt Kompetenzen, die am Ende der obligatorischen Schulzeit erreicht werden sollen. Der Aufbau wird über 3 Zyklen beschrieben, und für jeden Zyklus gibt es einen Mindestanspruch, den alle Schülerinnen und Schüler erreichen sollen. Mit der konsequenten Kompetenzformulierung zeigen wir, dass der Lehrplan nicht bereits erfüllt ist, wenn der im Lehrplan aufgelistete Stoff im Unterricht einfach „durchgenommen“ wurde, sondern erst dann, wenn die Kinder und Jugendlichen in einem umfassenden Sinne kompetent sind. Kompetent sein heißt, über das nötige Wissen zu verfügen und dieses Wissen in einer entsprechenden Situation auch anwenden können. Eines war mir von Anfang an klar: Der Lehrplan 21 ist ein großes Leintuch, an dessen Ecken unglaublich viele Leute in alle möglichen Richtungen ziehen. Dass sich Lobbyisten jeglicher Richtungen und Couleur mit Freude auf dieses gemeinsame Werk der 21 Deutschschweizer Kantone stürzen würden, konnte vorausgesagt werden. Ich gehe im folgenden nur kurz auf zwei Teilbereiche ein, nämlich ‘Politische Bildung und Geschichte’ sowie ‘ICT und Medien’.
„Geschichte wird abgeschafft“?
Aussagen zu den Themen Politische Bildung und Geschichte sind an folgenden Stellen im Lehrplan 21 zu finden:
- Im Kapitel Fächerübergreifende Themen unter der Leitidee Nachhaltiger Entwicklung, dort insbesondere unter der Marginalie ‘Politik, Demokratie und Menschenrechte’.
- Im Fachbereichslehrplan Räume, Zeiten, Gesellschaften (3. Zyklus) befassen sich die Kompetenzbereiche 5-8 mit Geschichte. Der Kompetenzbereich 8 enthält in einem Schwerpunkt Kompetenzen zur Politischen Bildung.
- Im Fachbereichslehrplan Natur, Mensch, Gesellschaft (1. und 2. Zyklus) haben die Kompetenzbereiche 9, 10 und 11 einen Schwerpunkt bei den Geschichtskompetenzen.
Kritik am Lehrplanprojekt vonseiten der Interessensgruppen Geschichte gab es bereits im Grundlagenprojekt. Die Kritik dauert bis heute an. Besonderen Unmut haben folgende drei Punkte ausgelöst: Zum einen die Zusammenfassung der Unterrichtsfächer Geografie und Geschichte zu einem Fachbereich ‘Räume, Zeiten, Gesellschaften’ auf der Sekundarstufe I, zum zweiten die Fachbereichs-Bezeichnung ‘Räume, Zeiten, Gesellschaften’, weil der Begriff Geschichte verschwinde, und zum dritten schließlich die Befürchtung, der Lehrplan 21 und dessen Planungsrahmen könnten die Kürzungen von Geschichtslektionen, die einzelne Kantone in der Vergangenheit vorgenommen haben, zementieren. Diese Kritikpunkte wurden auch von den Medien aufgenommen. Schlagwort bei den Artikeln war oft: Das Fach oder der Unterricht in Geschichte wird abgeschafft! Gerne übersehen wird allerdings, dass der Lehrplanentwurf dem historischen Lernen im Kindergarten und auf der Primarstufe (1. und 2. Zyklus) einen deutlich höheren Stellenwert einräumt, als es in aktuellen Lehrplänen der Kantone bisher der Fall ist. So können Kinder bereits in diesem Alter die Fähigkeit entwickeln, historisch zu denken. Damit reagiert der Lehrplan 21 auf die Erkenntnisse der empirisch forschenden Geschichtsdidaktik der letzten Jahre. Insgesamt wird das historische Lernen im Fachbereich ‘Natur, Mensch, Gesellschaft’ in den ersten beiden Zyklen deutlich aufgewertet.
Medienkompetenz entscheidend
Heute sind der Umgang mit der Informationstechnologie und die Medienkompetenz von entscheidender Bedeutung. Darum erhält bspw. ICT und Medien einen eigenen Lehrplanteil und wird in die Lehrpläne der einzelnen Fachbereiche eingearbeitet. Es ist die Zielsetzung von ICT und Medien im Lehrplan 21, dass die Schülerinnen und Schüler an der Mediengesellschaft selbstbestimmt, kreativ und mündig teilhaben können und sich sachgerecht und sozial verantwortlich verhalten. In diesem Bereich sind aber noch Fragen betreffend Rahmenbedingungen, Zuständigkeiten, Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen offen, die über den Lehrplan hinausführen. Diese Fragen werden ab Herbst 2013 von einer Arbeitsgruppe geklärt, damit die Überarbeitung des Lehrplans ICT und Medien nach Vorliegen der Ergebnisse der Konsultation zügig an die Hand genommen werden kann. Die Fachgruppe soll klären, welche Kompetenzen sinnvollerweise integriert in andere Fachbereiche erworben werden und für welche Kompetenzen und auf welchen Schulstufen allenfalls eigene Zeitgefäße nötig sind. Außerdem sollen die für die Umsetzung nötigen Rahmenbedingungen in Bezug auf die Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen, die Anpassungen an den Lehrmitteln sowie die technische Infrastruktur bearbeitet werden. Das Konzept muss sich für eine flächendeckende Umsetzung im Schulsystem eignen. Es muss daher auch mit begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen umsetzbar sein!
Ich freue mich auf Ihre Reaktionen und Meinungen zum Lehrplan 21!
Literatur
- Meyer, Hilbert: Kompetenzorientierung allein macht noch keinen guten Unterricht! Die “ganze Aufgabe” muss bewältigt werden. In: Lernende Schule 15 (2012) 58, S. 7-12.
- Feindt, Andreas / Meyer, Hilbert: Kompetenzorientierter Unterricht. In: Die Grundschulzeitschrift 24 (2010) 237, S. 29-33.
- Labbude, Peter / Adamina, Marco: Kompetenzen fördern – Standards setzen. Naturwissenschaftliche Bildung in der Primarstufe, Kiel 2012.
- Schröder, Christa / Wirth, Ingo: 99 Tipps – kompetenzorientiert unterrichten. Für die Sekundarstufe 1, Berlin 2012.
Externe Links
- Website der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz
- Website des Projekts Lehrplan 21
- Lersch, Rainer: Wie unterrichtet man Kompetenzen? Didaktik und Praxis kompetenzfördernden Unterrichts, Wiesbaden 2010 (Hessisches Kultusministerium, Institut für Qualitätsentwicklung).
Abbildungsnachweis
(c) KHH 043: Foto Karin Habegger-Heiniger
Empfohlene Zitierweise
Amsler, Christian: Projekt Lehrplan 21 – die Politik und die Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 9, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-368.
Copyright (c) 2013 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.
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Projekt Lehrplan 21 – die Politik und die Geschichte
Er bewegt die Gemüter einer breiten Öffentlichkeit landauf und landab. Derzeit steckt er in der Konsultation. Der vieldiskutierte und heiß erwartete Lehrplan 21 dient der Umsetzung des Auftrags der Schweizer Bundesverfassung zur Harmonisierung der Ziele der Bildungsstufen.
Kantonaler Neubeginn
In der Schweiz liegt die Bildungshoheit in den Kantonen und nicht auf nationaler Ebene. 21 Deutschschweizer Kantone haben sich zusammengerauft und eine sinnmachende Koordination im Bildungswesen gemeinsam angepackt. Der Lehrplan 21 integriert die nationalen Bildungsziele (Bildungsstandards). Er gewährt damit Anschlussfähigkeit unter den Kantonen und reagiert auf die reale Mobilität der Familien innerhalb des Landes. Das ist erfreulich und bemerkenswert und in dieser Dimension auch erstmalig! Der Lehrplan 21 ist kein Reformprojekt und schließt nahtlos an die bereits bestehenden Lehrpläne an. Es soll ein alltagstaugliches Werkzeug für die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen schaffen, das die Arbeit erleichtert und Verlässlichkeit und Klarheit in den pädagogischen Alltag bringt.
… ein großes Leintuch, an dessen Ecken unglaublich viele Leute ziehen
Dass nun beim neuen Lehrplan die Kompetenzorientierung im Vordergrund steht, ist ein großer Gewinn. Der Lehrplan 21 beschreibt Kompetenzen, die am Ende der obligatorischen Schulzeit erreicht werden sollen. Der Aufbau wird über 3 Zyklen beschrieben, und für jeden Zyklus gibt es einen Mindestanspruch, den alle Schülerinnen und Schüler erreichen sollen. Mit der konsequenten Kompetenzformulierung zeigen wir, dass der Lehrplan nicht bereits erfüllt ist, wenn der im Lehrplan aufgelistete Stoff im Unterricht einfach „durchgenommen“ wurde, sondern erst dann, wenn die Kinder und Jugendlichen in einem umfassenden Sinne kompetent sind. Kompetent sein heißt, über das nötige Wissen zu verfügen und dieses Wissen in einer entsprechenden Situation auch anwenden können. Eines war mir von Anfang an klar: Der Lehrplan 21 ist ein großes Leintuch, an dessen Ecken unglaublich viele Leute in alle möglichen Richtungen ziehen. Dass sich Lobbyisten jeglicher Richtungen und Couleur mit Freude auf dieses gemeinsame Werk der 21 Deutschschweizer Kantone stürzen würden, konnte vorausgesagt werden. Ich gehe im folgenden nur kurz auf zwei Teilbereiche ein, nämlich ‘Politische Bildung und Geschichte’ sowie ‘ICT und Medien’.
„Geschichte wird abgeschafft“?
Aussagen zu den Themen Politische Bildung und Geschichte sind an folgenden Stellen im Lehrplan 21 zu finden:
- Im Kapitel Fächerübergreifende Themen unter der Leitidee Nachhaltiger Entwicklung, dort insbesondere unter der Marginalie ‘Politik, Demokratie und Menschenrechte’.
- Im Fachbereichslehrplan Räume, Zeiten, Gesellschaften (3. Zyklus) befassen sich die Kompetenzbereiche 5-8 mit Geschichte. Der Kompetenzbereich 8 enthält in einem Schwerpunkt Kompetenzen zur Politischen Bildung.
- Im Fachbereichslehrplan Natur, Mensch, Gesellschaft (1. und 2. Zyklus) haben die Kompetenzbereiche 9, 10 und 11 einen Schwerpunkt bei den Geschichtskompetenzen.
Kritik am Lehrplanprojekt vonseiten der Interessensgruppen Geschichte gab es bereits im Grundlagenprojekt. Die Kritik dauert bis heute an. Besonderen Unmut haben folgende drei Punkte ausgelöst: Zum einen die Zusammenfassung der Unterrichtsfächer Geografie und Geschichte zu einem Fachbereich ‘Räume, Zeiten, Gesellschaften’ auf der Sekundarstufe I, zum zweiten die Fachbereichs-Bezeichnung ‘Räume, Zeiten, Gesellschaften’, weil der Begriff Geschichte verschwinde, und zum dritten schließlich die Befürchtung, der Lehrplan 21 und dessen Planungsrahmen könnten die Kürzungen von Geschichtslektionen, die einzelne Kantone in der Vergangenheit vorgenommen haben, zementieren. Diese Kritikpunkte wurden auch von den Medien aufgenommen. Schlagwort bei den Artikeln war oft: Das Fach oder der Unterricht in Geschichte wird abgeschafft! Gerne übersehen wird allerdings, dass der Lehrplanentwurf dem historischen Lernen im Kindergarten und auf der Primarstufe (1. und 2. Zyklus) einen deutlich höheren Stellenwert einräumt, als es in aktuellen Lehrplänen der Kantone bisher der Fall ist. So können Kinder bereits in diesem Alter die Fähigkeit entwickeln, historisch zu denken. Damit reagiert der Lehrplan 21 auf die Erkenntnisse der empirisch forschenden Geschichtsdidaktik der letzten Jahre. Insgesamt wird das historische Lernen im Fachbereich ‘Natur, Mensch, Gesellschaft’ in den ersten beiden Zyklen deutlich aufgewertet.
Medienkompetenz entscheidend
Heute sind der Umgang mit der Informationstechnologie und die Medienkompetenz von entscheidender Bedeutung. Darum erhält bspw. ICT und Medien einen eigenen Lehrplanteil und wird in die Lehrpläne der einzelnen Fachbereiche eingearbeitet. Es ist die Zielsetzung von ICT und Medien im Lehrplan 21, dass die Schülerinnen und Schüler an der Mediengesellschaft selbstbestimmt, kreativ und mündig teilhaben können und sich sachgerecht und sozial verantwortlich verhalten. In diesem Bereich sind aber noch Fragen betreffend Rahmenbedingungen, Zuständigkeiten, Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen offen, die über den Lehrplan hinausführen. Diese Fragen werden ab Herbst 2013 von einer Arbeitsgruppe geklärt, damit die Überarbeitung des Lehrplans ICT und Medien nach Vorliegen der Ergebnisse der Konsultation zügig an die Hand genommen werden kann. Die Fachgruppe soll klären, welche Kompetenzen sinnvollerweise integriert in andere Fachbereiche erworben werden und für welche Kompetenzen und auf welchen Schulstufen allenfalls eigene Zeitgefäße nötig sind. Außerdem sollen die für die Umsetzung nötigen Rahmenbedingungen in Bezug auf die Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen, die Anpassungen an den Lehrmitteln sowie die technische Infrastruktur bearbeitet werden. Das Konzept muss sich für eine flächendeckende Umsetzung im Schulsystem eignen. Es muss daher auch mit begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen umsetzbar sein!
Ich freue mich auf Ihre Reaktionen und Meinungen zum Lehrplan 21!
Literatur
- Meyer, Hilbert: Kompetenzorientierung allein macht noch keinen guten Unterricht! Die “ganze Aufgabe” muss bewältigt werden. In: Lernende Schule 15 (2012) 58, S. 7-12.
- Feindt, Andreas / Meyer, Hilbert: Kompetenzorientierter Unterricht. In: Die Grundschulzeitschrift 24 (2010) 237, S. 29-33.
- Labbude, Peter / Adamina, Marco: Kompetenzen fördern – Standards setzen. Naturwissenschaftliche Bildung in der Primarstufe, Kiel 2012.
- Schröder, Christa / Wirth, Ingo: 99 Tipps – kompetenzorientiert unterrichten. Für die Sekundarstufe 1, Berlin 2012.
Externe Links
- Website der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz
- Website des Projekts Lehrplan 21
- Lersch, Rainer: Wie unterrichtet man Kompetenzen? Didaktik und Praxis kompetenzfördernden Unterrichts, Wiesbaden 2010 (Hessisches Kultusministerium, Institut für Qualitätsentwicklung).
Abbildungsnachweis
(c) KHH 043: Foto Karin Habegger-Heiniger
Empfohlene Zitierweise
Amsler, Christian: Projekt Lehrplan 21 – die Politik und die Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 9, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-368.
Copyright (c) 2013 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.
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Vorbilder aus der Geschichte?
Jugendliche heute sind permanent mit den Fragen konfrontiert, wer sie sind, was sie wollen, wohin sie gehen sollen. Zur Beantwortung dieser Fragen scheinen die Lebensgeschichten anderer Menschen eine große Anziehungskraft zu haben. Jugendliche suchen ihre Vorbilder vor allem in der Gegenwart, zuerst bei ihren Eltern, dann oft bei Medien- und Sportstars. Dass sie auch in der Vergangenheit positive Identifikationsfiguren suchen könnten, wird ihnen kaum gezeigt.
Nicht Personen, Strukturen!
Spätestens seit Mitte der 1970er-Jahre ist ein personenorientierter Zugang im Geschichtsunterricht verpönt. Geschichtsdidaktik wurde nicht müde, die Gefahren der Personalisierung zu betonen. Das mag damit zusammenhängen, dass sich damals die Geschichtswissenschaft von der biografischen Historiografie abgewandt und der Strukturgeschichte zugewandt hatte. Auch wurden Befürchtungen formuliert, dass mit einem personenorientierten Zugang Jugendliche im Geschichtsunterricht manipuliert und überwältigt würden. Parallel zum Verschwinden von positiven Identifikationsfiguren aus dem Geschichtsunterricht verschwanden auch die Emotionen. Jugendliche sollten zur Vergangenheit eine kritische Distanz aufbauen und einen „reflektierten und (selbst-)reflexiven Umgang mit Geschichte“ erlernen.
Lehrpläne: Die Vorbilder sind verschwunden
So halten sich auch die Lehrpläne Geschichte mit der Nennung von Personen zurück. In den neuen Hessischen Bildungsstandards und Inhaltsfeldern für Geschichte an Realschulen (2011) findet sich kein einziger Name eines Menschen aus der Vergangenheit, den Jugendliche kennen sollten. Hingegen wird großes Gewicht auf die identitätsstiftende Bedeutung von Geschichtsunterricht gelegt: Das Fach Geschichte „stärkt das Einfühlungsvermögen, bietet die Möglichkeit zur Identifikation mit vorbildhaften Personen, vermittelt aber auch die Fähigkeit zur kritischen Distanz“. Die Auswahl der vorbildhaften Personen soll im Geschichtsunterricht den Jugendlichen überlassen werden – so zumindest fordert das die geschichtsdidaktische Theorie: „Es kann und darf im Geschichtsunterricht keine verbindlichen Vorbilder geben, die allen Schülerinnen und Schüler zur Identifikation auferlegt werden; Vorbilder werden aus dem Angebot des Unterrichts von den SchülerInnen individuell ausgewählt“ (Bergmann 1998, 278).
„Mein Vorbild im Fernsehen!“
Und da weder die Geschichtsdidaktik noch die Geschichtswissenschaft konkrete Vorschläge machen, welchen Menschen Jugendliche im Geschichtsunterricht begegnen sollen und welche sich allenfalls als positive Identifikationsfiguren eignen würden, wird dieses Feld von andern Institutionen wie etwa dem Fernsehen besetzt und genutzt. Im November wird die Dokufiction-Serie „Die Schweizer“ in drei Sprachregionen ausgestrahlt. Bei „den Schweizern“ handelt es sich um Werner Stauffacher, Niklaus von Flüe, Hans Waldmann, Guillaume-Henri Dufour, Alfred Escher und Stefano Franscini – alles Männer. Ab November 2013 im Programm der SRG. Diese Männer werden zweifellos künftig prominenter im Schweizer Geschichtsunterricht auftauchen als bisher. Grund dafür sind das attraktive Filmmaterial und die begleitenden Medien. Wohl kann Geschichtsunterricht zur Ausdifferenzierung von Kompetenzen beitragen, wenn beispielsweise beim Porträt von Stauffacher darauf hingewiesen wird, dass einiges davon notgedrungen erfunden werden muss, weil es zu ihm kaum Quellen gibt, oder dass das Geschichtsbild, für das er steht, nämlich der Widerstand “der” Eidgenossen gegen “die” feindlichen Habsburger, erst 200 Jahre später, im Verlaufe des 15. Jahrhunderts entstanden ist. Doch als positive Identifikationsfigur wird Stauffacher heute für Jugendliche nicht mehr dienen können. Wer aber dann?
“nicht nur Völkermörder und Verbrecher”
Der neue Lehrplan 21 für die Deutschschweiz macht hierzu Vorschläge: So sollen SchülerInnen laut Lehrplan einzelne SchweizerInnen porträtieren, die einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Zusammenlebens oder der sozialen Gerechtigkeit in der Schweiz und der Welt geleistet haben. Als Beispiel – nicht als Vorgabe – werden unter anderen Emilie Kempin-Spyri, Henry Dunant, Marie Heim-Vögtlin, Robert Grimm oder Gertrud Kurz genannt. Mir gefällt dieses Vorgehen in vierfacher Hinsicht: Erstens lebten auch in der Vergangenheit nicht nur Verbrecher und Völkermörder. Viele Menschen haben im Alltag und in verantwortungsvollen Positionen Positives geleistet. Sie sollen wieder stärker in den Blick rücken. Zweitens bekommt damit die Personifizierung und Personalisierung im Geschichtsunterricht wieder einen größeren Stellenwert, was wichtig ist, wenn das Fach zum Aufbau und zur Ausdifferenzierung von Identität beitragen soll. Drittens übernimmt der Lehrplan Steuerungsverantwortung und macht konkrete Vorschläge. Viertens werden diese Vorschläge explizit als Beispiele ausgeschildert. Das ist weniger bestimmend als eine bereits erfolgte Auswahl auf Ebene der Schulgeschichtsbücher. Und die Vorschläge regen zum Weiterdenken an: Wer soll aus der Beispielliste gestrichen werden? Wer fehlt? Und welche Menschen aus Deutschland oder Österreich könnten Schweizer Jugendlichen auch als positive Identifikationsfiguren dienen?
Literatur
- Bergmann, Klaus: Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens, Schwalbach/Ts. 1998.
- von Borries, Bodo: Vorbilder im Geschichtsunterricht. In: ders.: Lebendiges Geschichtslernen. Bausteine zu Theorie und Pragmatik, Empirie und Normfrage, Schwalbach/Ts. 2004, S. 416-424.
- Schneider, Gerhard: Personalisierung / Personifizierung. In: Barricelli, Michele / Lücke, Martin: Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 302-315.
Externe Links
- Schweizer Fernsehen: Die Schweizer: http://www.srgssr.ch/de/aktuell/die-schweizer/
- Lehrplan 21: http://konsultation.lehrplan.ch/
Abbildungsnachweis
© Claudio Minutella, Jugendliche betrachten das Bourbaki Panorama in Luzern.
Empfohlene Zitierweise
Gautschi, Peter: Vorbilder aus der Geschichte? In: Public History Weekly 1 (2013) 4, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-233.
Copyright (c) 2013 by Oldenbourg Verlag and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact: julia.schreiner (at) degruyter.com.
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Quelle: http://public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de/1-2013-3/vorbilder-aus-der-geschichte/