Digitalisierungsstrategien für das kulturelle Erbe in Norwegen | Teil 1: “Ganz Norwegen soll digitalisiert werden” – Grundsätzliches

Digitalisierung hier, Digitalisierung dort – allerorten hört und liest man von den vielfältigen Bestrebungen, historische Literatur, Quellen, Dokumente aller Art, aber auch dreidimensionale Artefakte durch verschiedenste digitale Prozesse zu bewahren und zugänglich zu machen. Scannen, Fotografieren, virtuell Rekonstruieren, Transkribieren/-literieren, Parsen, etc. etc. – man überblickt gar nicht mal alle Methoden, welche die Digital Humanities bereit halten und die fortlaufend weiter und neu entwickelt werden. Das ist die eine Seite – doch wie sieht es hinter den Kulissen aus, wo diese Vorhaben geplant und verhandelt werden? Wie funktioniert eigentlich das Agenda-Setting für die Digitalisierung des kulturellen Erbes? In einer kleinen Artikel-Serie soll dieser Frage am Beispiel Norwegens nachgegangen werden. Nach diesem grundsätzlichen Einleitungsteil sollen in weiteren Teilen des Artikels die Überlegungen, Prioritätensetzungen und Vorgangsweisen der zentralen Akteure/Institutionen aufgegriffen werden.

Warum eigentlich Norwegen als Untersuchungsobjekt – abgesehen davon, dass dieser Blog sich der Beschäftigung mit der Region Nordeuropa verschrieben hat? Norwegen eignet sich auch im Allgemeinen gut zur Untersuchung von Digitalisierungsstrategien, was mit der Verwaltungsstruktur des Landes zusammenhängt. Die Verantwortung für kulturelle, bildungsbezogene und wissenschaftliche Belange liegt hier auf der nationalstaatlichen zentralen Ebene, so dass man rasch einen Überblick über die zentralen Akteure bekommt, die zudem mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet sind. Anders als beim kulturpolitischen Flickenteppich namens Deutschland handelt es sich auf diesem Feld in Norwegen (wie in allen nordischen Ländern) eher um wenige “big player”. Zudem wird gerade in Norwegen seit Jahren über eine stärkere öffentliche Teilhabe an kulturellen Inhalten und eine weitreichende Digitalisierung des “kulturellen Erbes” diskutiert und entsprechende Zielvorgaben werden verabschiedet. Ein weiterer Grund ist in dem über den kulturellen Bereich hinausgehenden Bestrebungen zur ‘Digitalisierung des öffentlichen Lebens’ zu sehen, so dass man die Frage danach stellen kann, ob man das Phänomen von der kulturpolitischen Seite her deuten sollte oder eher von der allgemeingesellschaftlichen und netzpolitischen Warte. Die Antwort liegt wohl wie so oft in der Mitte: Das Beispiel Norwegens zeigt, dass man beide Perspektiven zusammen denken sollte.


Verfassung für das Königreich Norwegen, 17.5.1814
erste Textseite, digitalisierte Version
Quelle: Archiv des norwegischen Parlaments

In Norwegen haben sich die zentralen Akteure in der Tat ehrgeizige Ziele für eine umfassende Digitalisierung des kulturellen Erbes gesetzt. Bis 2030 will die norwegische Nationalbibliothek sämtliche Publikationen, die bis dahin in Norwegen erschienen sind und die im Rahmen des Pflichtexemplarsrechts an sie gelangten, in digitaler Form vorlegen. Bis zum selben Jahr, so die Schätzungen, wird das norwegische Reichsarchiv 10 % seines Archivguts digitalisiert haben. Die Zahlen klingen schon mal beeindruckend, und die Planung dieser Vorhaben reicht bereits einige Jahre zurück. Bemerkenswert in netz- wie in kulturpolitischer Hinsicht ist die 2009 verabschiedete “nationale Strategie für die digitale Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes”. Hier wurde nach einer parlamentarischen Debatte eine landesweite einheitliche Vorgehensweise und anzustrebende Ziele vereinbart.

In diesem Dokument wird die Digitalisierung des kulturellen Erbes mit politischer Bedeutung aufgeladen, wodurch man diese zu legitimieren sucht. So wird auf den Begriff einer “digitalen Allmende” [digital allmenning] zurückgegriffen, der bereits in einer 2006 verabschiedeten Strategie für eine “Informationsgesellschaft für alle” (d.h. alle Norwegerinnen und Norweger, JHS) auftauchte. In diesem Dokument wird die für Norwegen und alle nordischen Länder spezifische Tradition des Jedermannsrechts beschworen, die man auf die digitale Welt übertragen hat. In der nationalen Digitalisierungsstrategie wird diese Vorstellung in dem Sinne weitergedacht, dass die Zugänglichkeit historischer Dokumente und Artefakte das grundsätzliche Versprechen auf politisch-gesellschaftliche Inklusion und Partizipation aller Mitbürger mit erfülle. Zudem wird die Digitalisierung kulturellen Erbes als Teil der Einlösung des “Kulturversprechens” [kulturløfte] der norwegischen Regierung gedeutet. Dieses Kulturversprechen wurde 2005 nach der Ablösung der bürgerlichen Regierung Bondevik von der neuen rot-grünen Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Jens Stoltenberg abgegeben. An zentraler Stelle steht die Zielvorgabe, bis 2014 die Ausgaben zur Förderung von Kunst und Kultur auf einen Anteil von einem Prozent am nationalen Budget zu steigern. Auch in diesem Zusammenhang beruft man sich bereits auf das Ideal der allgemeinen Zugänglichkeit und Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger. Ob also freier Eintritt in staatliche Museen oder das Anklicken der digitalisierten Quelle auf der Archiv-Homepage – im Grunde steckt dieselbe Idee dahinter. Diese Vorstellungen greifen zentrale Elemente der norwegischen politischen Kultur (die in vielen wesentlichen Belangen eine gemeinsame politische Kultur aller nordischen Länder ist) auf, die Norwegen und den Norden als (von jeher) demokratisch, rechtsstaatlich, pluralistisch und als nah am Menschen darstellen. Die Vorstellung von einer spezifisch ‘nordischen Demokratie’ wurde seit den Anfängen des 20. Jahrhunderts nach und nach konstruiert und zu einem Grundpfeiler des politischen Selbstverständnisses und der engen Kooperation zwischen den nordischen Ländern. Moderne politische Errungenschaften wie Demokratie, Parlamentarisierung und allgemeines (auch: Frauen-!) Wahlrecht wurden zur Grundlage für (a)historische Rückprojektionen, wonach der Norden selbst in vordemokratischen Zeiten bereits zur starken politischen Partizipation der unteren Stände und einer vernunftgeleiteten Staatsführung tendiert habe. Die Digitalisierungsstrategien fügen sich in ihren grundsätzlichen Überlegungen sehr gut in ein bereits existierendes Selbstbild ein.

Die Bestrebungen auf dem kulturellen Sektor sind Teil einer weit darüber hinausreichenden Strategie: Seit einigen Jahren wird eine umfassende “digitale Agenda” verfolgt, die darauf abzielt, Norwegen zum weltweit führenden Land in Sachen eGovernance und Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen zu machen. Eine norwegische Zeitung titelte – wohl etwas weitgehend – “Ganz Norwegen soll digitalisiert werden”. Diese im Frühjahr 2012 erstmals verkündete Strategie ist in Blogs und in der Presse begrüßt worden – es scheint keine größere Kritik an dem Vorhaben zu geben. Auch die Opposition steht hinter den Vorschlägen, einige Stimmen haben indes auf das Problem des Datenschutzes aufmerksam gemacht und in Frage gestellt, ob in Norwegen genügend kompetente Fachkräfte zur Umsetzung vorhanden seien. Die Digitalisierung wird unter den Oppositionsparteien als geeignetes Mittel angesehen, um die aufgeblähte öffentliche Verwaltung endlich zu verschlanken und die stetig wachsende Zahl sich selbst legitimierender interner Prozesse zu senken.

Jedenfalls ist die Digitalisierungsstrategie in Bezug auf das kulturelle Erbe einerseits Pilotprojekt, andererseits Teil einer allgemeinen landesweiten Entwicklung in Norwegen. Sie ist eine Facette der vielfältigen Bemühungen, Verwaltungsvorgänge und gesellschaftliche Teilhabe zu größeren Teilen über das Internet zu ermöglichen. Ein Blick auf die Besiedlungsstruktur des langgestreckten Landes macht die Sinnhaftigkeit solcher Vorhaben einsichtig. Hape Kerkelings berühmtes Diktum, Norwegen sei groß und unwahrscheinlich lang und weilig, ironisiert das Faktum, dass Norwegen sehr dünn besiedelt ist und die Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gebiete durch eine Unzahl von Fjorden und Bergzügen voneinander abgeschnitten sind. Nun spielen solche geographisch-topographischen Hindernisse im modernen Kommunikationszeitalter nicht mehr dieselbe Rolle wie früher, doch müssen auch bestimmte Voraussetzungen gegeben sein, um das Digitalisierungsprojekt erfolgreich zu realisieren. In Norwegen sind dabei mehrere Umstände gegeben: eine hohe Akzeptanz neuer Technologien, eine flächendeckende Internet-Anbindung und der vor Jahren bereits konsequent angegangene Ausbau von Breitband-Verbindungen. Digitalisierung, auch die des kulturellen Lebens, ist Teil des in den letzten Jahren zielstrebig aufgebauten norwegischen Selbstverständnisses als technologisch und netzpolitisch führende Nation.

Dieses Selbstbild versucht die norwegische Regierung derzeit durch entsprechende Vorgaben und politisches Agenda-Setting zu manifestieren. Darin dürfte auch der Versuch zu sehen sein, dem Land Zukunftsoptionen zu eröffnen, um die Abhängigkeit von den einträglichen, aber irgendwann versiegenden Erdölvorkommen zu mindern. Damit sollen Digitalisierung und Erdölförderung keineswegs volkswirtschaftlich gleichgesetzt werden. Es geht vielmehr um die Implementierung technologisch basierter politischer und gesellschaftlicher Praktiken, die das Leben der Bürger vereinfachen sollen, die auf Dauer Kosten sparen sollen, und über die außerdem die Konstruktion eines neuen bzw. Erweiterung des bestehenden nationalen Images Norwegens betrieben wird. Norwegen, das demokratisch vorbildliche Musterland, in dem der Bürger alles über das Netz erledigen kann – sei es die Beantragung eines neuen Reisepasses oder die Erforschung von historischen Quellen. Norwegen ist offensichtlich auf bestem Wege, zu einem “D-Land” zu werden.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1169

Weiterlesen

Nationalenzyklopädie versus Wikipedia – Norwegens Store Norske Leksikon: SNL.no


The Library: Encyclopedias, 1964
Flickr Commons, LSE Library (public domain)

Spätestens seit Anfang des neuen Jahrtausends kämpfen viele Verlage mit einbrechenden Verkaufszahlen ihrer Enzyklopädien und Lexika, wie zuletzt der Verlag Encyclopaedia Britannica, der 2010 aufgrund niedriger Nachfrage die letzte 32-bändige Ausgabe seines prestigeträchtigen Nachschlagewerks herausgegeben hat.

Druckausgabe des Store Norske Leksikon

Druckausgabe des Store Norske Leksikon

Auch in Norwegen kämpfte der durch die beiden größten Verlage des Landes, Aschehoug und Gyldendal, gegründete Kunnskapsforlaget mit sinkenden Umsätzen. 1978–1981 gab er die erste Ausgabe des Store Norske Leksikon [Großes Norwegisches Lexikon] heraus, das die beiden vorherigen großen Standardenzyklopädien Aschehougs konversasjonsleksikon und Gyldendals Store Konversasjonsleksikon vereinte. Die vierte Ausgabe von Store Norske Leksikon, die von 2005–2007 herausgegeben wurde, war bereits die letzte Printausgabe des Lexikons und wurde von einer kostenpflichtigen Online-Ausgabe  abgelöst. Doch auch die Online-Ausgabe erbrachte nicht die erhofften Gewinne, da sie in direkter Konkurrenz zum Enzyklopädiegiganten Wikipedia stand. 2010 kündigte Kunnskapsforlaget an, dass der Betrieb der Online-Version des Lexikons eingestellt werde, worauf eine Debatte über die Zukunft der ›norwegischen Nationalenzyklopädie‹ folgte. Ausgelöst wurde diese vor allem durch die Aussage der norwegischen Kulturministerin Anniken Huitfeldt, die sagte, sie halte es nicht für die Aufgabe des Staates, die Verantwortung für die Netzausgabe des Store Norske Leksikon zu übernehmen. In einem Interview mit dem norwegischen Fachblatt der Buchbranche Bok & Samfunn äußerte sie ferner: »Es braucht starke Argumente, damit der Staat sich an der Finanzierung eines nationalen Lexikons beteiligt. Eine solche Anfrage ist durch den Kunnskapsforlaget gekommen, und wir werden sie selbstverständlich genau abwägen, aber ich habe meine Zweifel daran, wie richtig das ist. Es wird um viel Geld gehen, und Netzlexika wie Wikipedia sind eine interessante Alternative. Ich bemerke, dass viele negativ gegenüber Wikipedia eingestellt sind, aber ich teile diese Auffassung nicht.«

Onlineversion des Store Norske Leksikon

Onlineversion des Store Norske Leksikon

Die humanistische Bildungsorganisation Fritt Ord [Freies Wort] und die Sparebankstiftelse DnB Nor übernahmen daraufhin das Lexikon und geben es seitdem in Zusammenarbeit mit den Universitäten, der norwegischen fachliterarischen Autorenvereinigung und der norwegischen Wissenschaftsakademie unter dem Projektnamen Norsk nettleksikon [Norwegisches Netzlexikon] heraus. SNL.no beinhaltet sowohl das Store Norske Leksikon als auch das Store Medisinske [Große Medizinische] und das Norsk Biografisk Leksikon [Norwegische Biografische Lexikon], alles drei fachliterarische Standardwerke. Die Zielsetzung des Projekts formuliert seine Redakteurin Ida Jackson wie folgt: »Das norwegische Netzlexikon arbeitet für Wissen für alle, ein freies Internet, digitale Bildung und Forschungsvermittlung auf gut Norwegisch.« Im Redaktionsblog des Lexikons, Lille Norske [Kleines Norwegisches], schreibt sie ferner: »Ein Lexikon ist kein Buch. Ein Lexikon ist keine Internetseite. Ein Lexikon ist Inhalt. Das Wichtige ist nicht schönes Papier oder ein Goldrücken. Das Wichtige sind nicht Teilen-Knöpfe zu Facebook und Twitter. Das Wichtige sind die Artikel, die Links zwischen den Kapiteln und die Metadaten zu den Artikeln. Es sind die Texte.«

An der hier nur kurz skizzierten Debatte um Store Norske Leksikon zeigen sich grundlegende Legitimationsprobleme der traditionsreichen Lexika und Enzyklopädien im Zeitalter von Wikipedia und Google. Gerade für eine solch kleine Nation wie Norwegen scheint der sich anbahnende Verlust der Nationalenzyklopädie so schmerzhaft zu sein, dass sogar nicht-staatliche Organisationen enorme Summen in die Hand nehmen – laut Aftenposten investierten Fritt Ord und Sparebankstiftelsen DnB Nor je 15 Millionen Kronen ins Lexikon –, um nicht vollkommen von einer ›Weltenzyklopädie‹ wie Wikipedia überschattet zu werden.

Funktionen von snl.no

Funktionen von snl.no

Neben der symbolischen Bedeutung des Lexikons ist es jedoch vor allem die Frage nach inhaltlicher Qualität, die die norwegische Debatte anfeuerte und die ähnliche Debatten außerhalb Norwegens bereits leitete und leiten wird; wie auch in Deutschland, wo die Brockhaus-Enzyklopädie vor ähnlichen Schwierigkeiten steht. Store Norske Leksikon und damit auch SNL.no ist im Gegensatz zu Wikipedia eine Primärquelle, aus der mit Angabe eines Autors zitiert werden kann und die durchweg ›echte‹ Literaturangaben enthält. Wikipedia hingegen wird kontinuierlich – und kostenlos – aktualisiert. Hierin liegt der wohl größte Vorsprung von Wikipedia vor SNL.no, den die norwegische Redaktion jedoch in zweierlei Hinsicht einholen will. Zum Einen sollen viele neue Akademiker für die Online-Publikationen des Store Norske Leksikon gewonnen werden: »Akademiker, Forscher und Fachautoren sollen lernen, dass das Netz ein Teil der Öffentlichkeit ist, kein Schimmelpilz hinter dem Sofa«, wirbt Ida Jackson. Zum Anderen bietet SNL.no die Möglichkeit, nach einer Registrierung Änderungsvorschläge und Aktualisierungen abzugeben – ähnlich wie bei Wikipedia –, die jedoch von einem der 300 Fachexperten und nicht nur per ›Schwarmintelligenz‹ redigiert werden. Genau in diesem Punkt liegt die eigentliche Innovation des internetbasierten Lexikons SNL.no. Es stellt nicht nur eine fundierte und qualitätsgesicherte Quelle für u.a. Schüler, Studenten und Wissenschaftler dar, es versucht zudem das Renommee eines traditionsreichen Nachschlagewerkes auf eine moderne Publikationsform zu übertragen und rüttelt an alten, behäbigen Verhaltensweisen einer Wissenschaftswelt ›von gestern‹. Die Hauptredakteurin von Store Norske Leksikon kündigt deshalb in einem Interview mit Aftenposten an: »Du wirst sehen können, ob ein emeritierter Professor wirklich an der Diskussion teilnimmt. Früher konnte man sich hinter einer lebenslaufbasierten Autorität verstecken. Aber das, was im Netz Legitimität verleiht, ist Handlung. Fachverantwortliche, die nicht antworten oder mehr als drei Tage brauchen, um zu antworten oder Anwesenheit zu zeigen, wollen wir immer los werden. Diejenigen, die sich so aufführen, wollen wir einfach nicht haben.«

Letztendlich ist der Fortbestand des kostenlosen SNL.no jedoch weiterhin von der Finanzierung abhängig und es bleibt zu hoffen, dass die derzeitige Kulturministerin Hadia Tajik sich mehr für das norwegische Online-Nachschlagewerk einsetzt als es ihre Vorgängerin getan hat und die Verantwortung für die Unterstützung eines so löblichen Bildungsprojekts auch beim Staat sieht.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/1115

Weiterlesen

Kulturelles Erbe online: Suchdienste und soziale Foren des Zentralamts für Denkmalpflege in Schweden

Ausgrabung bei Gödåker in Uppland, Schweden Flickr Commons, Swedish National Heritage Board Mal Hand aufs Herz: Was geht Ihnen bei dem Schlagwort “Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter” und dem Nachdenken über online verfügbare Quellen als erstes durch den Kopf? Haben Sie zuerst an digitalisierte Textquellen gedacht wie ich auch? Das tun vermutlich die meisten Historikerinnen und Historiker – wir sind nun mal durch Studium und die eigene Forschung oft dahingehend geprägt worden. “Als Historiker arbeitet man mit Textquellen.” So oder ähnlich monolithisch werden viele das mal als Aussage mal gehört haben. Ich erinnere mich an einen Kurs im Geschichtsstudium, der sich dezidiert dem Bild als historische Quelle (und eben nicht als reine Illustration!) widmete. Das heißt nicht, dass Historiker für Artefakte blind sind, aber es gilt nicht unbedingt als kanonisiertes Verhalten, sich als Historiker/in mit materiellen Hinterlassenschaften hauptamtlich zu beschäftigen… Könnte sich das dadurch ändern, dass es uns immer leichter gemacht wird, Bilder und zwar nicht nur digitalisierte Fotografien, sondern auch Abbildungen von dreidimensionalen Artefakten im Netz aufzufinden? Zunehmend werden auch historische Stätten, Denkmäler, Gebäude, Ausgrabungsfunde, aber auch in Museen verwahrte Objekte in Datenbanken eingespeist. Hier soll exemplarisch ein Blick auf einige solche Suchdienste in Schweden geworfen werden. Das Riksantikvarieämbetet (wörtlich übersetzt: Reichsantiquarenamt), das schwedische Zentralamt für Denkmalpflege also, ist gleich mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Suchdiensten und Foren im Netz präsent.  Aus der Vielzahl von Datenbanken sollen hier einige exemplarisch vorgestellt werden. Da ist zum einen die Bilddatenbank Kulturmiljöbild (das versteht man wohl auch ohne Übersetzung), die über 100.000 Aufnahmen von Gebäuden, archäologischen Fundstätten und Kulturlandschaften verzeichnet, die man frei herunterladen und unter Nutzung einer Creative Commons-Lizenz bzw. wenn das Urheberrecht abgelaufen ist, dennoch unter Nennung der Quelle verwenden darf. Die Nutzung ist allerdings nur zu privaten und nichtkommerziellen (non-profit) Zwecken erlaubt. Der Hinweis, es handele sich bei den am Bildschirm einzusehenden und herunterladbaren Fotos um Versionen in niedriger Auflösung, erwies sich nach einer Stichprobe als nicht ganz korrekt: Vor allem Fotos neueren Datums sind tatsächlich mit niedrigeren Auflösungen (96 dpi) vorhanden, aber gerade historische Aufnahmen wie das  hier eingebundene Bild (s.u.) sind hier mit 1100 dpi in druckfähigen Auflösungen vorhanden – nicht schlecht! Wo man es doch braucht, kann man für hochauflösende Versionen einen kostenpflichtigen Bestellservice nutzen und die Fotos als Abzüge oder in Dateiform erhalten.   “Mirakelspel”. Historienspiel in Gamla Uppsala, Schweden Aufnahme: Berit Wallenberg, 25.5.1931 (PD/gemeinfrei) Aus der Sammlung “Kulturmiljöbild”, Riksantikvarieämbetet Die Bildunterschrift enthält bereits sämtliche in die Datenbank eingepflegten Informationen, die – einigermaßen unbefriedigend, muss man sagen – spärlich sind. Welchen Anlass das Historienspiel hatte, wer die Akteure dieser Re-Enactment-Aktion waren, wie lange das Ganze dauerte etc. – das muss man auf anderen Wegen herausfinden. Eine Sammlung von 100 000 und bald wahrscheinlich noch mehr Bildern zu annotieren, wäre allerdings auch kaum leistbar. Die Suche kann als Volltextsuche, nach Objekten (über eine alphabetische Liste) und mit einer fortgeschrittenen Suchfunktion mit verschiedenen Filtern durchgeführt werden. Die Bildsammlung enthält nicht nur Fotografien vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute, sondern auch Postkarten, Zeichnungen und Druckerzeugnisse. Eine sehr umfangreiche Datenbank ist Fornsök, in der Informationen über 1,7 Millionen (!) archäologische Fundstätten an nahezu  600 000 Orten vorliegen. Man kann sich hier über alles Mögliche vom Runenstein über Felszeichnungen, Hinrichtungsstätten, Schiffswracks und Grabstätten informieren. Beispiel für eine Fornsök-Objektmaske Eine Eingabe im Suchfenster führt zu einer Karte, auf der die für den jeweiligen Ort oder die gewählte Region in der Datenbank aufgeführten Fundorte eingezeichnet und anklickbar sind. Ausführliche Informationen zum jeweiligen Fund und der Geschichte seiner Entdeckung sind ebenso vorhanden wie Begleitmaterial, etwa ein Scan aus dem Arbeitsjournal des Grabungsleiters als PDF-Datei oder historische Fotografien oder Kunstwerke wie im Fall des hier abgebildeten Teils der mittelalterlichen Stadtmauer von Visby. Solche Abbildungen stammen dann oft aus der oben schon erwähnten Sammlung Kulturmiljöbild. Mit der Datenbank Kringlawird ein kombinierter Suchdienst angeboten, der Informationen einer Vielzahl schwedischer Museen, Archive und Register enthält. Verzeichnet sind Angaben über historische Objekte und Fotografien aus den Sammlungen dieser Institutionen sowie über Gebäude und Fundstätten von kulturhistorischer Bedeutung. Die Kategorien für einen Sucheinstieg sind Objekte (derzeit knapp 1,87 Millionen an der Zahl), Fotografien (derzeit knapp 792 000), Orte (Baudenkmäler, Monumente, Kulturlandschaften, knapp 900 000), Dokumente (archivalische Quellen und Kataloge, knapp 432 000), Printmaterial (etwa 22 800) und Sammlungen verschiedener Provenienz (an die 42 900). Einstiegsseite von Kringla Umfangreiche Filter erlauben eine detaillierte Suche nach Materialart, thematischer Zuordnung, Lizenzarten, man kann in einzelnen Regionen Schwedens suchen, in bestimmten Jahrhunderten sowie nach der Institution, aus der die Objekte stammen. Natürlich kann man die Filter auch weglassen und in der gesamten Datenbank suchen. Neben der klassischen Freitextsuche kann man eine detaillierte Suchfunktion nutzen, entscheiden, ob nur Ergebnisse mit Bildern angezeigt werden und man kann sich die Treffer auf einer Karte anschauen. Die Menge an Einträgen ist beeindruckend, gerade auch die Vielfalt verschiedenartiger Gegenstände. Seit Anfang 2012 hat man zudem begonnen, die Nutzer stärker in den Ausbau der Datenbank einzubinden. Allerdings beschränkt sich dies auf die Möglichkeit, Objekte miteinander zu verknüpfen und Links auf Wikipedia-Artikel zu setzen. Deutlich mehr Web 2.0 gibt es hingegen bei Platsr, dessen Schreibweise ja schon mal etwas an Flickr erinnert. Eigentlich müsste es Platser heißen, also Plätze oder Orte. Diese deutlich an andere social media angelehnte Seite soll von den Nutzern mit ihren Berichten und Erinnerungen an historische Orte und Ereignisse bestückt werden. Man bedient sich hier der Puzzle-Metapher, nach der ‘ganz gewöhnliche Menschen’ weitere Stücke zu dem großen Puzzle der gemeinsamen Geschichte hinzufügen. Dies geschieht in Form persönlicher Erzählungen, welche hier als gleichberechtigte Stimmen verstanden werden: Subjektive oder alternative Fassungen von Geschichte in Form von ‘kleinen Geschichten’ könnten das von der professionellen Forschung gezeichnete Bild bereichern. In einem einleitenden Video (leider nur auf Schwedisch vorhanden) wird diese Puzzle-Metapher graphisch umgesetzt und auch auf den Unterschied zu früheren Zeiten verwiesen (hier durch die Jahreszahl 1898 vertreten), in denen man eine entsprechende Ausbildung sowie Anstellung (und obendrein einen Schnurrbart!) brauchte, um mitzubestimmen, was über Geschichte niedergeschrieben wird. Heute könne jeder mitmachen, so eine Kernaussage.   Da auf Platsr aber auch etablierte Organisationen für die Pflege des kulturellen Erbes (Museen, Archive etc.) aktiv sein dürfen, können wir ein weiteres Mal eine Egalisierung zwischen ‘professionellen Akteuren’ und ‘Amateuren’ beobachten, wie dies auf diesem Blog schon einmal für ein norwegisches Projekt festgestellt wurde. Sowohl für Platsr als auch für Kringla liegen im Übrigen Anwendungen für Smartphones vor, bisher nur für das Android-Betriebssystem. So wird dann die Möglichkeit, die reichhaltigen Informationen der Datenbanken am jeweiligen historischen Ort selbst abzurufen, eröffnet. Fazit: Die schwedischen Denkmalpfleger haben eine beeindruckende Vielfalt an Online-Aktivitäten entwickelt und bieten ein für jedermann frei zugängliches Informationsportal mit verschiedensten Suchzugriffen an. Allein die Zahl der verfügbaren Objekte erschlägt einen – in der Praxis hier den Überblick zu behalten, ist gar nicht so einfach, aber wie immer gilt: Wer weiß, wonach er sucht, kann hier fündig werden, ohne in der Informationsflut zu ertrinken. Von dem Engagement, dass hier für online verfügbare archäologische und historische Informationen betrieben wird, könnte man sich andernorts so manches Byte abschneiden…

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/639

Weiterlesen

25.000 historische Fotografien aus Dänemark für EuropeanaPhotography


No.3 Folding Pocket Kodak Model C
Flickr CC-BY-NC schoeband

Das Großvorhaben EuropeanaPhotography, in dessen Rahmen historische Fotografien aus einem Zeitraum von 100 Jahren digitialisiert und online zugänglich gemacht werden sollen, hat bereits Aufmerksamkeit erweckt. Von den ersten Daguerreotypien um 1839 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der Zeitraum gewählt, aus dem die Fotografien stammen sollen. Bis zum Ende der Projektlaufzeit am 31.1.2015 solle, so der Plan, über 500.000 Bilder gesammelt, bearbeitet und verfügbar gemacht werden. 19 Projektpartner aus 13 Mitgliedsstaaten der EU sind an dem durch die EU-Kommission finanzierten Mammutprojekt beteiligt, Nordeuropa ist durch das Arbejdermuseet, das Museum der dänischen Arbeiterbewegung sowie die eng mit ihm verbundenen Institutionen Bibliothek und Archiv der Arbeiterbewegung vertreten. Die Institutionen sollen 25.000 Bilder zu der Sammlung beisteuern.

Auf dem Europeana-Portal, das als zentraler digitaler Zugang zum europäischen kulturellen Erbe dienen soll, sind bisher, wie in der Projektbeschreibung eingeräumt wird, nur wenige historische Fotografien vertreten. Nun soll mit dieser groß angelegten Aktion eine relevante Sammlung von Fotos von “historischer Qualität” entstehen, die die bisher in der Datenbank vorhandenen Abbildungen von kulturellen Artefakten wie Gemälden und Manuskripten ergänzen soll. Im Mittelpunkt, und so kommt eben auch eine Institution wie das Arbeitermuseum ins Spiel, sollen Abbildungen zur Alltags- und Kulturgeschichte stehen. Wie es auf der Museums-Webseite heißt:

“Die vielen Bilder sollen somit einen einmaligen EInblick geben, wie Städte, Landschaften, Kleidung, Wohnverhältnisse, Arbeitsverhältnisse, Transport sowie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Gesellschaftklassen sich im Laufe dieser Periode veränderte. Zugleich werden sie die Geschichte über die Entwicklung der Fotografie in Hinblick auf Ästhetik, Technik und Praxis vermitteln.”

EuropeanaPhotography soll nach eigenem Verständnis nicht als reine Bilddatenbank gesehen werden, in der man sich zu Illustrationszwecken bedienen kann. Es geht in der Tat darum, Fotografien stärker als Quelle für geschichtswissenschaftliche Forschungsarbeiten zu etablieren, ein Ansinnen, dass Anerkennung verdient. Auch wenn das Thema der wissenschaftlichen Nutzung von Bildern als historische Quellen keineswegs neu ist, so spiegelt sich dies in der wissenschaftlichen Praxis nur in geringem Maße wider.

Die dänischen Projektpartner haben primär die Aufgabe, in dem thematisch weit gespannten Vorhaben die Geschichte der Arbeiterbewegung und das Alltagsleben gewöhnlicher Menschen angemessen zu berücksichtigen. Ganz nebenbei wird durch ihre Beteiligung aber auch der dänische Anteil im Europeana-Portal, der bislang eher bescheiden ist, beträchtlich anwachsen.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/870

Weiterlesen