Historischer Methodenstreit? Anthropologie vs. Sozialer Raum

Moderne Historiker/innen arbeiten vielfach mit Methoden der Soziologie und der Anthropologie – gerne auch mit beiden. Doch was passiert, wenn grundlegende Ansätze der Nachbarfächer eigentlich unvereinbar sind? So verhält es sich mit dem soziologischen Konzept des Sozialen Raums (Bourdieu) und grundsätzlichen Ausrichtungen der Anthropologie. Beide stehen für unterschiedliche Zugriffe, Beschreibungs- und Darstellungsebenen. Worin genau besteht der Unterschied zwischen den beiden Methoden? Und muss daraus ein Methodenstreit entstehen – oder gibt es einen dritten Weg der methodischen Integration?


Wie (un-)vereinbar sind Anthropologie und Sozialer Raum?

Ein rein anthropologischer Ansatz würde etwa für mein Dissertationsprojekt zu den altgläubigen Zugehörigkeiten und Kulturen bedeuten, dass ich mich zwischen meinen Quellen und Artefakten gleichsam wie ein Ethnologe bewege. Ich würde die Praktiken, Kommunikationsarten, sozialen Distinktionen, Deutungen und Selbstwahrnehmungen von innen heraus, aus der Perspektive der untersuchten Akteure nachvollziehen. Der Zugriff erfolgte im Rahmen von Mikrostudien speziell auf eine soziale Entität oder deren paradigmatische Figuren. Von den dort gemachten Beobachtungen – es geht der Anthropologie vielfach weniger um zeitlich diachrone Kausalitäten und Ereignisketten, sondern um Nachvollziehung und Beschreibung – wird bei dieser Methode vielfach auf allgemeine menschliche Verhaltenskonstanten und Strukturen geschlossen, die das situativ erfasste Handeln determinieren. Gerade die synchrone Arbeitsweise und die mitunter etwas rasche Ausweitung der Beobachtung auf generelle menschliche Verhaltensweisen dürfte für Historiker/innen problematisch sein.[1] Denn sie sind naturgemäß auf Quellen aus der Vergangenheit angewiesen, haben also keinen “unverfälschten” Zugriff auf Kulturen. Allerdings kennen auch Ethnologen dieses Problem, so Robert Scribner. “The mere presence of an observer changes the situation he or she intends to observe, indeed, the ethnologist may well find that what he or she observes is merely the natives observing him or her, so that access to any ‘native point of view’ is virtually impossible.”[2]

Einen bei genauer Betrachtung sehr verschiedenen Zugang zum Sozialen verkörpern Theorie und Methode zur Erfassung des Sozialen Raums, bekanntlich maßgeblich entwickelt von Pierre Bourdieu und der Schule der kritischen Soziologie. Wenden Historiker/innen diese Herangehensweise an, vollziehen sie nicht neutral “von innen”, also aus der Kultur der Studierten selbst heraus, nach. Vielmehr ordnen sie; zeigen, was die Protagonisten selbst nicht sehen; weisen Plätze zu. Entlang von distinktiven Praktiken, Verhaltensweisen, familiärer Herkunft und ökonomischem Kapitel setzt der Forscher die studierten Gruppen oder Personen auf verschiedene Positionen im  Sozialen Raum, der einen Gesamtüberblick “von oben” auf die Konfiguration der Gesamtgesellschaft ermöglichen soll. Dass die studierten Akteure sich selbst, ihr Tun oder andere Gruppen ganz anders oder manches gar nicht wahrnehmen, stört dabei nicht. Denn es ist der Historiker-Soziologe, der dekonstruiert und (be-)urteilt. Er lüftet den Vorhang für den Blick auf das, was die Gesellschaft im Innersten zusammen hält… und trennt. Gerade das wurde in den 1990er Jahren von Soziolog/innen wie Luc Boltanski und aktuell vom Anthropologen Didier Fassin kritisiert.[3] Doch Überblicke und Generalisierungen – kurz, das kritische Moment – sind ein zentraler Bestandteil von sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalysen. Ohne einen nicht an die Perspektiven der Akteure gebundenen Blick “von oben” ließe sich kein Konflikt mehr darstellen, geschweige denn zusammenfassen. Zudem gibt es ja unzweifelhaft verschiedene sozial-kulturelle Zugehörigkeiten, die von den Akteuren als solche bewusst oder unbewusst erkannt und ausgedrückt werden. Es gibt, möchte man sagen, vielleicht keinen Sozialen Raum. Sehr wohl aber Soziale Räume.

Bürger drängen in die Kathedrale von Bourges. Drinnen feiert der Bischof eine Messe – Kulturformen und soziale Praktiken, die dem Historiker nur auf Umwegen zugänglich sind. Doch wie soll man auf sie zugreifen? (Bild: Henfflin-Werkstatt, um 1470)

Bleibt für das theoretisch-methodische Gerüst einer historischen Studie also getrennt, was prinzipiell unvereinbar scheint? Nein, wenn man beide Ansätze ausgleichend kombiniert und integriert. Der Mehrwert aus der praktischen Vereinigung übersteigt meiner Ansicht nach die letztlich unüberwindlichen theoretischen Antagonismen. Mehrere Ansatzpunkte sind hier denkbar, auf einige greife ich auch in meiner Dissertation zurück.

1. Ich sehe mich grunsätzlich einer auf das Soziale gerichteten, konstruktivitischen Kulturwissenschaft und historischen Anthropologie verpflichtet. Es geht mir um den Nachvollzug von innen und unten, um Praktiken, Sinngebungsprozesse und soziale Konfigurationen. Interessant ist für mich die Beschreibung der Aktualisierung altgläubiger Kulturen aus deren Kultursystem selbst heraus. Das bedingt die von Didier Fassin für anthropologisch-soziale Studien geforderte Aussetzung des Urteils (“suspension du jugement”). Ich setze also beim inneren Nachvollzug einer Teilgruppe im fiktiven Sozialen Raum an, natürlich im Bewusstsein um dessen Vielschichtigkeit und Komplexität.

2. Gerade diese Komplexität des Sozialen verdeutlicht, dass sich etwas Eigenes nicht bildet, menschliche Kultur nicht funktionniert, ohne Alterität. Es gibt keine abgeschottete, “reine” Kultur, die man ohne ihre inneren und äußeren Auseinandersetzungen und Abgrenzungen in Bezug auf “die Anderen” im Sozialen Raum untersuchen könnte. Die Fixierung auf nur eine Gruppe, ohne die distinktiv-heterogene Dimension des Sozialen zu berücksichtigen, ist eine Sackgasse. Deshalb versuche ich zudem, den Blick der von mir untersuchten Altgläubigen auf das langsam und situativ konstruierte Andere zu untersuchen. Gleichzeitig ist das sozial-kulturelle Handeln von Altgläubigen aus der Perspektive der “Anderen” (etwa bei reformatorischen Visitationen) oder von “Dritten” (etwa bei Verhören zweier streitender Gruppen) zu untersuchen. Denn ein Merkmal des Eigenen ist es, dass es vielfach so internalisiert ist, dass es “normal” wird. Das Eigene sagt man nicht – außer im Moment der Auseinandersetzung. So verrät auch der Blick der Anderen etwas über kulturelle Eigenheiten der studierten Gruppe. Bei einem rein nachvollziehend-anthropologischen Ansatz würden diese Erkenntismöglichkeiten wegfallen.

3. So sollte die Methode des Vergleichs besondere Beachtung finden. Dies kann der Vergleich zwischen den Wahrnehmungen oder Praktiken verschiedener, jeweils allein aus sich selbst (also anthropologisch) nachvollzogener Gruppen sein. Dies kann durch den gekreuzten Blick der “Anderen” auf das “Eigene” entstehen. So lässt sich zumindest ansatzweise auf die nachvollziehende Rekonstruktion der Sozialen Räume in den verschiedensten Wahrnehmungen, Deutungen, Überlagerugnen und Wiedersprüchen hoffen. Das Soziale ließe sich dann nur noch im Plural schreiben.

4. Nicht nur auf die Wiedersprüche und Abgrenzungen bei der Aktualisierung und Disktinktion verschiedener Kulturen ist Wert zu legen, sondern auch auf Formen und Folgen von Interaktion und gegenseitiger Beeinflussung. Diese müssen nicht immer “freundschaftlich” oder bewusst kooperativ erfolgen, sondern entstehen auch in der Ablehnung oder dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher sozialer, ökonomischer oder geographischer Kulturformen. Schließlich entsteht auch Distinktion in der Interaktion. Solche Ansätze verfolgt seit gut zehn Jahren die histoire croisée (Michael Werner). So können etwa in Gesellschaften Kämpfe um Denominiationen oder Begriffsbildungen für Ereignisse, Gruppen, Devianzen usw. dargestellt werden. Daraus könnte sich eine an das soziale gebundene, aus dem Sozilen entstehende und das Soziale bzw. Distinktive gleichzeitig schaffende Repräsentationengeschichte ergeben.[4]

5. Die Zugriffsebene ist in meinen Forschungen die Mikroebene. Ich untersuche Konflikte, Spannungen, Praktiken und Begriffskonstruktionen entlang von präzisen Fällen, Auseinandersetzungen und Fragen in einem klar abgesteckten geographischen Rahmen. Gerade im Reich kann “Mikroebene” freilich nicht bedeuten, nur die lokalen Bezüge zu untersuchen. Dazu sind zu schnell und zu oft zu viele Akteure unterschiedlicher herrschaftlicher, hierarchischer oder rechtlicher Ebenen involviert. Microstoria bedeutet heute die Bezogenheit auf einen Fall oder eine Auseinandersetzung. Gerade für die Lösung des hier beschriebenen Methodenstreits hat Didier Fassien den Bezug auf enjeux vorgeschlagen.[5]

Letztlich ergibt sich bei der durchaus möglichen Verbindung von Anthropologie und Sozialem Raum ein Blick auf die Kulturen des Sozialen und das Soziale der Kulturen, wie sie eben sind: vielfältig, wiedersprüchlich und veränderbar. Die Verirrtheit in Komplexität, das ständige Suchen und (vergebliche) Festhalten am Bekannten sind somit wohl eine der wenigen Konstanten der Menschheitsgeschichte.

 

[1] Historiker/innen bleiben letztlich nach dem Ende der Strukturgeschichte bei Fällen, die sie diachron und kontextuell einordnen, ohne sich wirklich von diesen Einzelfällen zu entfernen. Über das Verhältnis und die Unterschiede zwischen Geschichtswissenschaft und Anthropologie vgl. Bensa, Alban: “Anthropologie et histoire”, in: Delacroix, Christian u.a. (Hg.), Historiographies. Concepts et débats, Bd. 1 (Folio histoire inédit), Paris 2010, 42-53.

[2] Scribner, Robert: “Historical Anthropology of Early Modern Europe”, in: Ders./Hsia, Ronnie Po-Chia (Hg.), Problems in the Historical Anthropology of Early Modern Europe (Wolfenbütteler Forschungen 78), Wiesbaden 1997, 11-34, hier 31.

[3] “Donner à comprendre signifie-t-il pour autant se placer dans une position surplombant d’où le savant verrait ce que les autres ne discernent pas et révélerait ce qu’ils se dissimulent à eux-mêmes?” Fassin, Didier: “Sur le seuil de la caverne. L’anthropologie comme pratique critique”, in: Haag, Pascale/Lemieux, Cyril (hg.), Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, Paris 2012, 263-287, hier 270.

[4] Vgl. dazu Cavaillé, Jean-Pierre: Pour un usage critique des catégories en histoire, in: Faire des sciences sociales. Bd. 1, Critiquer, hg. v. Haag, Pascale/Lemieux, Cyril, Paris 2012, 121-147.

[5] Fassin, Anthropologie, 284-285.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/465

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“Faire des sciences sociales”. Was Historiker daraus machen können

Was sind, wo sind und wie sind die Sozialwissenschaften in den humanities zu Beginn der 10er Jahre? Dazu liefert ein ambitioniertes Publikationsprojekt der Ecole des hautes études en sciences sociales Paris nun einen wirklich empfehlenswerten, umfassenden, kontroversen und pointierten Blick. In drei Bänden erschien im November 2012 “Faire des sciences sociales” in den éditions EHESS – sozial- und kulturwissenschaftlich arbeitende Historiker/innen sollten sie kennen.


Die drei Bände von “Faire des sciences sociales”.
Quelle: http://lettre.ehess.fr/4525

Die Reihe beinhaltet drei Bände, die es – wie im Bild – auch zum günstigen Gesamtpreis von 45 Euro in einer Box gibt. Diese befassen sich mit (1) “Critiquer” (2) “Comparer” und (3) “Généraliser” als den drei Hauptaufgaben der Sozialwissenschaften. In jedem Band nehmen Autor/innen aus den verschiedensten Fakultäten der EHESS zu dem Hauptthema Stellung, meist unter Bezugnahme auf das eigene Forschungsgebiet. Doch sind die Beiträge bewusst so allgemein gehalten, dass alle aus den humanities von der Lektüre profitieren.

Die Bände reflektieren natürlich besonders die Sozialwissenschaften der EHESS nach dem “cultural turn” der 1990er Jahre. Während in Deutschland und der Schweiz das Soziale häufig noch gegen das Kulturelle gestellt wird, bilden beide in Frankreich eine selbstverständliche, produktive Einheit. Schon Roger Chartier sprach vor fast 25 Jahren von einer Wende von der histoire sociale du culturel hin zur histoire culturelle du social. Wenn ich mein Dissertationsthema in Deutschland vorstelle, spreche ich (eigentlich gegen meine Überzeugung) von einer “Kulturgeschichte der Altgläubigen”, in Frankreich von einer “Sozialgeschichte”.

Für Historiker/innen halten die drei Bände eine Menge spannender, interessanter und anregender Einsichten bereit. In Band eins (“Critiquer“) befasst sich etwa Jean-Pierre Cavaillé mit der seit Hegel aktuellen Frage, ob Historiker/innen das, was sie an sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhängen vor Augen haben, zur Beschreibung und gedanklich-diskursiven Fixierung in Kategorien packen dürfen. Didier Fassin stellt die Anthropologie – eine der methodisch-theoretischen Implusgeberinnen moderner Sozialwissenschaften – als eine “pratique critique” dar. Auch Gesellschaftskritisches bleibt nicht aus. David Martimort kritisiert und dekonsturiert die Expertengesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Band zwei (“Comparer“) befasst sich mit dem sozialwissenschaftlichen Vergleich. Ein Ausschnitt: Mir fällt natürlich gleich der Beitrag von Bruno Karsenti auf, in dem er (nach langer Zeit erstmals wieder) einen strukturalistischen Ansatz für die Religionssoziologie diskutiert. Frédéric Joulian fragt danach, ob und wie man das nicht-Vergleichbare vergleichen kann. Welcher Historiker stand noch nicht vor diesem Problem?

Band drei (“Généraliser“) fragt nach den (möglichen-unmöglichen) Generalisierungen. Auch dieser Teil ist für Historiker/innen höchst interessant, denn besonders in Deutschland gehört die zusammenfassend-einordnende Konzeptbildung schon in das Schlusswort der ersten Hausarbeit. Die Beiträge befassen sich u.a. mit dem methodischen Weg von der Einzahl zum repräsentativen Allgemeinen. Anregend ist auch der Beitrag von Michel de Fornel: das Undefinierte generalisieren. Oder aber das Kulturübergreifende generalisieren, wie bei Jocelyne Dakhlia (Europa und der Islam im Kontakt im frühneuzeitlichen Mittelmeer).

Ich bin jedenfalls sehr angetan von der ersten Lektüre. Deutschland sollte die drei Bändchen aus Frankreich entdecken! Man muss (und soll auch nicht) alle Positionen und Methoden daraus teilen oder gar anwenden. Die Lektüre ist aber auf jeden Fall ein Gewinn und ein Gedankenbeschleuniger – und sei es nur beim Schmökern.

Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/415

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