Jenseits von Aktualisierung und Historisierung

Aktualisierung

Der erste größere Reformationsjubiläumsschluckauf hat das Land einmal durchgerüttelt. Es wird nicht der letzte gewesen sein. Zum 499. Begängnis des – ja, des was eigentlich? Des Thesenanschlags wohl nicht, der Thesenanschläge wohlmöglich, der brieflichen Thesenversendung recht sicher, der Thesenanleimung unter Umständen … Auf jeden Fall wurde beim 499. Jahrestag des Ereignisses, bei dem wir gar nicht so genau wissen, was sich eigentlich ereignet hat, schon einmal groß aufgefahren, obwohl es ja erst das Aufwärmen für das wirkliche Jubiläum gewesen sein soll, erst der Auftakt für die einjährige Dauerfanfare in Rotationsschleife, die Ende Oktober 2017 in einen großen Tusch münden wird. Es wurde noch nicht alles aufgeboten, eher das Übliche serviert. Zum 3. Oktober 2016 haben zahlreiche Zeitungen, Fernsehsender, Internetseiten und sonstige Medien mit dem Reformationsthema aufgemacht, die Evangelische Kirche in Deutschland hat einen sehr ökumenisch ausgerichteten Eröffnungsgottesdienst gefeiert, der Papst hat die Reformationsfeierlichkeiten im schwedischen Lund besucht, und ein Staatsakt wurde in Berlin gefeiert mit all den Granden, die dieses Land so herzugeben hat.



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Quelle: https://meinjahrmitluther.wordpress.com/2016/11/09/jenseits-von-aktualisierung-und-historisierung/

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Jubiläumsfixierung. Erste These zur Geschichtskultur

Titelbild: Michelle Tribe

Die erste These zur Geschichtskultur lautet: Unsere (westlich-europäisch geprägte und in dieser Form global ausstrahlende) Geschichtskultur ist jubiläumsfixiert.

Ach was! Ist das die Möglichkeit? Was für ein Aufsehen erregende Feststellung! Unsere Geschichtskultur soll tatsächlich jubiläumsfixiert sein. Wer hätte das gedacht…

Aber woher rührt diese Jubiläumsfixierung? Warum gedenken wir bestimmten Ereignissen nicht dann, wenn es an der Zeit wäre, sondern dann, wenn sie im Kalender stehen? Es wäre eine durchaus naheliegende Lösungsstrategie, sich solchen Fragen wiederum historisch zu nähern.

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Quelle: https://meinjahrmitluther.wordpress.com/2016/11/07/jubilaeumsfixierung-erste-these-zur-geschichtskultur/

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Söder-Postille

Wie nahezu alle Teilnehmer am Medienmarkt machte auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ in der letzten Oktoberwoche, genauer in der Ausgabe vom 27. Oktober 2016, mit einem Luther-Thema auf. Waltraud Lewin ist dort mit einem Luther-Portrait vertreten, das leider einige historische Unzulänglichkeiten aufweist, und einige Prominente aus Politik, Kirche, Kultur, Wirtschaft, Journalismus und anderen einschlägigen Lebensbereichen wurden aufgefordert, möglichst knapp, um nicht zu sagen: thesenartig die Frage zu beantworten, was denn heute noch christlich sei. Und man wird nicht darauf kommen, wie viele meistens mehr und manchmal minder bekannte Menschen zum Mitmachen aufgefordert wurden bei diesem durchaus passenden Schwerpunkt des bürgerlichen Wohlfühl-Blatts – genau, es waren 95.

Das eigentlich Bemerkenswerte aber ist, dass es Markus Söder, ein bisher nicht als Luther-Experte in Erscheinung getretener Politiker aus Südostdeutschland, auf Platz 1 der Thesenliste geschafft hat. Man fühlt sich auf unangenehme Weise an Kinder aus der Schulzeit erinnert, die bei jeder noch so nebensächlichen Frage der Lehrerin immer als erste den Finger erhoben und sich zu Wort meldeten, begleitet von einem lautstarken „Ich! Ich! Ich!“.

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Quelle: https://meinjahrmitluther.wordpress.com/2016/11/02/soeder-postille/

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Jubiläum war schon

 

Nun, da das Reformationsjubiläum vorbei ist, können wir uns alle endlich entspannt zurücklehnen. Alle wesentlichen inhaltlichen Aussagen sind gemacht, alle Marketingartikel sind produziert, alle Museen sind vollgestopft, alle Reden sind vorbereitet, alle Fernsehdokumentationen sind produziert.  Jetzt ist nur noch die konsumierende Seite gefragt, jetzt müssen nur noch ‚die Menschen‘ – was für eine politisch missbrauchte Formel! – das Reformationsjubiläum sehen, hören, essen, kaufen, einschalten. Wäre es nicht eine Mischung aus Bigotterie und Blasphemie, man müsste auf die Knie fallen um dem Herrn zu danken, dass dieser Kelch wenn schon nicht an uns vorübergegangen ist, dann doch wenigstens bald ausgetrunken sein wird.

Manche sollen der Überzeugung sein, das Reformationsjubiläum habe etwas mit dem Glauben zu tun. Das denke ich schon auch. Nur ist die Frage, ob es sich um einen Glauben im religiösen Sinn handelt oder eher um den Glauben an eine ‚Geschichte‘, die unter anderem dadurch hergestellt wird, dass markanter Daten ausgiebig gedacht wird, sobald sie ein Alter erreicht haben, dem unser nummerisches System eine hinreichende Anzahl an Nullen zugedacht hat.

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Quelle: https://meinjahrmitluther.wordpress.com/2016/11/01/jubilaeum-war-schon/

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40 und Schluss: Öffentliche Metamorphosen oder Du musst dein Leben ändern!

Abschied und Willkommleben ändern

Das soll er sein, der letzte Eintrag auf diesem Blog. Sollte man sich die Mühe machen, die Historie dieses Mikromediums nachzuverfolgen, könnte man unschwer feststellen, dass die Frequenz der Einträge in den vergangenen Monaten merklich zurückgegangen ist. Das ließe sich als nachlassendes Interesse interpretieren. Tatsächlich hat es aber mit der Umleitung meiner Schreibenergie zu tun. So viel Vergnügen mir das Blogschreiben auch bereitet, so ist es doch nur ein Buchstabenfeld neben anderen, das zu beackern ist. Daher habe ich den Entschluss gefasst, nicht das Bloggen aufzugeben, aber seine Form zu verändern. Anstatt nur sporadisch alle paar Wochen (oder gar Monate) einmal die Zeit zu finden, mich an dieser Stelle zu äußern und das Blog auf diese Weise zu einem Nebenhermedium zu machen, will ich es zukünftig konzentrierter und gleichzeitig ausgiebiger nutzen: als Mitteilungsform, das seinen Möglichkeiten gerecht wird, als aktuelles, auf eingreifendes Kommentieren angelegtes und nicht zuletzt auch ephemeres Medium. Man könnte auch sagen, dass ich mich medial meinem wissenschaftlichen Forschungsgebiet, der frühneuzeitlichen Geschichte, annähere. Denn zumindest das 16. und 17.

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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/12/31/40-und-schluss-oeffentliche-metamorphosen-oder-du-musst-dein-leben-aendern/

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39. Besuch auf dem Friedhof oder Ein Kreuzungspunkt der Zeiten

Friedhof

Blätterleichen

Der November ist eigentlich ein angemessener Monat, um sich einmal den letzten Dingen zuzuwenden. Als Todesmonat mit Allerheiligen und Totensonntag und Volkstrauertag und Halloween und herabfallenden Blätterleichen, die milliardenfach den Boden bedecken und nur noch deprimierende Baumskelette stehen lassen, zwingt er gerade in seiner neblig-grauen, die Sicht bis auf wenige Meter einschränkenden Erscheinungsform dazu, die Nähe des Todes ernst zu nehmen. Wann, wenn nicht jetzt, lohnt sich ein Besuch auf dem Friedhof – selbst wenn man meint, dort gar nichts verloren zu haben?

Sicherlich gibt es das eine oder andere Argument, das sich anführen ließe, um von einem solchen Gang eher abzusehen. Möglicherwiese liegen dort gar keine Verwandten oder Bekannten, die man besuchen könnte. Oder sie liegen zwar auf einem Friedhof, aber in größerer Entfernung, so dass die Ruhestätte, die in halbwegs erreichbarer Nähe ist, keinen Besuchsanlass bietet. Was aber will man auf einem Friedhof, auf dem sich weder Anverwandte noch Berühmtheiten befinden, wenn nicht einem allgemeinen Gefühl der Morbidität frönen? Und ist es nicht überhaupt seltsam, von einem ‚Besuch‘ zu sprechen, wenn es um den Gang auf den Friedhof geht? ‚Besuchen‘ wir nicht möglicherweise uns selbst und unsere eigene Sterblichkeit, die mit jeder Feststellung der Lebensdaten auf einem Grabstein von neuem an unser Hinterstübchen klopft?

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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/12/19/39-besuch-auf-dem-friedhof-oder-ein-kreuzungspunkt-der-zeiten/

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38. Ein Tag im Leben eines Jahres der Geschichte

Etablierte Muster

ZeitungMan nehme einen x-beliebigen Tag. Zum Beispiel den 28. August 2015. Man befrage diesen Tag und das Umgehen mit diesem Tag daraufhin, wie in ihm und mit ihm ‚Geschichte‘ gemacht wird.

Dann wird man feststellen können, wie besorgte Meldungen davon zu berichten wissen, dass die sogenannte ‚deutsche Mittelschicht‘ im Schwinden begriffen ist. Nahezu selbstredend kann eine solche Feststellung nicht ohne eine kurze Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik auskommen. Mit wenigen Sätzen lässt sich dann der bundesdeutsche Mythos aufrufen, wonach im Nachkriegswirtschaftswunderland im Prinzip allen Menschen die Möglichkeit offen gestanden habe, mit Fleiß und Arbeit den Aufstieg in eben diejenige Mittelschicht zu schaffen, die sich nun gerade zu verflüchtigen scheint. Da wird dann in höchster sprachlicher Konzentriertheit und auch mit erheblicher historischer Simplifizierung eine vermeintlich eindeutige Auf- beziehungsweise Abwärtsentwicklung beschrieben, deren größtes Problem nicht zuletzt darin zu besteht, weiterhin einem Fortschrittsmodell verpflichtet zu sein.



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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/08/30/38-ein-tag-im-leben-eines-jahres-der-geschichte/

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37. Wider die Perfektion oder Das Vollkommene im Gewesenen

ZeitstillstandFeatured image

Zuweilen lohnt es sich, etwas genauer auf die Wahl der eigenen Worte zu achten. Auch wenn sich allenthalben kritische Stimmen vernehmen lassen, die vor den Auswirkungen einer allzu großen Fortschrittsgläubigkeit warnen, offenbart mitunter selbst die Wortwahl solcher kritisch gestimmter Menschen, wie sehr sie schon vom Virus der Ökonomisierung und Selbstoptimierung infiziert sind. Ein Indiz dafür ist die Verwendung von Worten, die sich im Umfeld des Ausdrucks ‚Perfektion‘ tummeln. Wie selbstverständlich ist dieses Gerede geworden. Da soll die Karriere, die Beziehung und sowieso die ganze Einstellung perfekt sein, da preist die Werbung das perfekte Makeup, das perfekte Auto oder die perfekte Matratze an, und auch in den eigenen vier Wänden muss das perfekte Essen auf den Tisch, die perfekte Inneinrichtung her oder das perfekte Dinner gelingen.

All das lässt sich leichthin als oberflächliches Wortgeklingel identifizieren. Im jeweiligen Fall auf den Zahn gefühlt, würde sich wohl recht schnell herausstellen, dass dieses Perfektionsgerede von keiner Seite, weder vom alltäglichen Sprachgebrauch noch von der Werbewirtschaft, wirklich wörtlich gemeint ist. Von der Vollkommenheit wissen wir uns doch einigermaßen weit entfernt.



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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/08/17/37-wider-die-perfektion-oder-das-vollkommene-im-gewesenen/

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36. Das Romantische oder: Geschichte wiederholt sich doch nicht

Alles schon mal dagewesenRomantik

Vor kurzem wieder so ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt: Das kennst du doch irgendwoher, hätte ich mir denken können, wenn ich in dem Moment einen vollständigen Satz gedacht hätte. Aber wahrscheinlich kam nur so etwas heraus wie: Ach! Und wenn ich statt Ach! schon einen vollständigen Satz hätte denken können, dann hätte er weniger lauten sollen, dass ich das da irgendwoher kenne, sondern eher, dass ich es irgendwannher kenne. Aber für solche Verstiegenheiten war die Zeit zu knapp. Da war das Ach! einfach schneller.

Unangenehm ist vor allem, dass ich gar nicht mehr genau sagen kann, was mir da so bekannt vorkam. Liegt wohl daran, dass es seit geraumer Zeit so viele Gelegenheiten gibt, Altbekanntem oder vermeintlich längst Vergangenem wieder zu begegnen. Da war man sich zum Beispiel mal im späten 20. Jahrhundert sicher, dass man die ganze Sache mit dem Nationalismus überwunden hätte, bis genau dieser Nationalismus seit den 1990er Jahren wieder fröhliche Urständ feiert und in den letzten 25 Jahren auch keine Anstalten gemacht hat, wieder zu verschwinden. Dabei geht es nicht nur um nationalistisch motivierte, kriegerische Auseinandersetzungen, sondern viel eher noch um die offensichtliche Hoffähigkeit und Veralltäglichung nationalistischer Positionen auf verschiedenen Ebenen der politischen Meinungsbildung. Ob man sich den Aufstieg nationalpopulistischer Parteien in den Niederlanden, in Skandinavien, Ungarn, Frankreich, Deutschland und sonstwo ansieht oder die eingeforderte Selbstverständlichkeit betrachtet, mit der nicht wenige fordern, gegen so genannte Migranten und so genannte Ausländer hetzen zu dürfen („Wir sind keine Nazis, wir sind Bürger“!) – mulmig muss einem werden, wenn es nicht einmal mehr einer gehörigen Wirtschaftskrise bedarf, um solche Emotionen zu schüren.

Die Religion wird gleich mitgenommen. Auch wenn sich die Pegida-Bewegung in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft in einem doppelten Sinn müde gelaufen haben sollte, wird es ersatzweise sicherlich andere Komplexitätsreduzierer geben, denen die Dinge gar nicht einfach genug sein können. Und ‚das Abendland‘, das auch dann wieder verteidigt werden soll, muss natürlich ein irgendwie – also eher diffus – christliches sein, so dass man weiterhin den Krieg der Religionen und Konfessionen ausrufen kann, weil man ja auch in diesen Religionen eine irgendwie geartete Identitäts- und Stabilitätsgarantie zu entdecken vermag.

Aber es sind eben nicht nur die offensichtlichen Beispiele von Nation und Religion, die einem im vergangenen Vierteljahrhundert temporale Schwindelgefühle verursachen konnten, weil das alles schon mal dagewesen ist und eigentlich schon längst abgehakt war. Auch in anderen, politisch gänzlich unverfänglichen Zusammenhängen kann einem das eine oder andere bekannt vorkommen. So können aufmerksame Beobachter kulturwissenschaftlicher Diskussionen zum Beispiel feststellen, wie in den vergangenen Jahren zunehmend versucht wird, den überbordenden Verunsicherungen und Unwägbarkeiten neue/alte Grundlagen entgegenzusetzen. Da gerät die Frage nach dem Sein und der Ontologie unversehens zu einer neuen Blüte, da wird gegen alle möglichen Spielarten von Konstruktivismus die Unmittelbarkeit einer Präsenz hervorgehoben oder da wird gegen nervende Relativierungen ein „Neuer Realismus“ ausgerufen. [1] Generell war das Geschimpfe gegen alles, was man als „postmodern“ bezeichnen konnte, ja schon immer groß, nun kommt es aber zunehmend auch aus den Reihen derjenigen, von denen man bisher immer denken durfte, dass sie eigentlich zu diesen „Postmodernen“ dazu gehören. Das scheint nach dem Motto zu laufen, dass dieses ganze theoretische Herumexperimentieren ja ganz nett war, nun aber mal Schluss mit dem Quatsch sei, weil es jetzt wieder ernst werde: Kriege, Krisen, Katastrophen! [2]

Eine zweite Romantik

Natürlich ist klar, woher wir das alles schon kennen, dieses zunächst ironisch-experimentelle Herumspielen, das aber schon recht bald übergeht in die Suche nach dem Eigentlichen, dem Essentiellen, dem Wirklich-Wahren, dem eigentlich Unfassbaren, das so groß ist, dass man sich ihm einfach nur noch hingeben kann. Unabhängig davon, ob dieses Eigentliche, mit dem wir es da zu tun haben und das alles übersteigt, nun Nation, Religion, Geist, Gott, Wirklichkeit, Wahrheit oder sonstwie heißt – es widersetzt sich letztendlich allen Differenzierungen und Theoretisierungen und kann in seiner Großartigkeit nur noch hingenommen werden. Die Romantik hat all das schon einmal ähnlich durchgespielt. Und in der Tat sind die Parallelen fast schon unheimlich: Zunächst haben wir es mit einer theoretischen Bewegung zu tun, die es unternimmt, die Grundlagen der sicher geglaubten Welt zu erschüttern (dort Aufklärung, hier Postmoderne), sodann eine politische Revolution, die mit dieser Erschütterung tatsächlich ernst macht (dort Französische Revolution 1789, hier die europäischen Revolutionen 1989/90), gefolgt von der schwierigen und zähen Aufarbeitung all dessen, was da geschehen ist. In der anschließend entstandenen Verwirrung, ausgelöst durch den Verlust einst sicher geglaubter Wirklichkeitsparameter, wird nicht ausschließlich, aber doch ganz merklich der Versuch beobachtbar, verlorene Gewissheiten wiederzugewinnen. Dann macht es mit einem Mal Sinn, sich wieder auf die Religion zu kaprizieren, die Nation zu vergöttern, die Wahrheit wertzuschätzen oder die Einheit in der Wirklichkeit wieder zu entdecken, weil in all diesen Essentialismen das endlose Differenzieren und Relativieren endlich ein Ende findet.

Diese zeitlichen und inhaltlichen Parallelen sind so frappierend, dass man doch wohl mit Fug und Recht davon sprechen könnte, wir lebten in einer zweiten Romantik (nach der „Zweiten Moderne“ wäre das ja durchaus folgerichtig). Und wäre dem so, hätten wir zwei ganz wichtige Erkenntnisse gewonnen: Erstens hätten wir bestimmte historische Verlaufsformen, wenn nicht sogar eine grundlegende historische Gesetzmäßigkeit ausfindig gemacht. Und zweitens könnten wir dann auf dieser Basis sogar voraussagen, wie sich zumindest in groben Zügen der weitere Verlauf der Entwicklungen vollziehen wird. Heureka!

Alles noch gar nicht dagewesen

Aber nein, so ist es natürlich nicht. War nur ein Scherz. Die Rede von einer zweiten Romantik (oder einem zweiten Wasauchimmer) mag zwar auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, erweist sich aber schnell als Popanz. Also keine Sorge, die Geschichte wiederholt sich nicht. Sie tut es nicht nur nicht, weil es verboten oder argumentativ zu einfach wäre. Auch tut sie es nicht, weil um 1800 einige Aspekte eine eher geringe Rolle gespielt haben, die uns um 2000 wesentlich stärker betreffen, zum Beispiel die globalen Kommunikationszusammenhänge, in die wir eingebunden sind (während die erste Romantik schon ein sehr europäisches Phänomen war), oder die überbordend große Rolle ökonomischer Fragen, die im frühen 19. Jahrhundert bei weitem nicht so bedeutsam waren. Sie tut es vor allem nicht, weil ein solcher Blick, der sich auf die Wiederkehr bestimmter historischer Verlaufsmuster konzentriert, nur das sieht und betont, was er sehen will. Alles Unpassende wird beiseitegeschoben. Und die Verwandtschaft der Jahreszahlen zu betonen (1789-1989) übersieht entweder, dass dazwischen doch zwei Jahrhunderte Differenz liegen, oder hat sich noch nicht wirklich von der Macht kabbalistischer Zahlenmystik befreit. Dem kann man dann möglicherweise historische Prozesse auch dadurch erklären, dass man auf die Namensähnlichkeit von Staatschefs verweist: Lenin-Stalin-Putin!

Aber ein gewisses Muster gibt es natürlich trotzdem. Allerdings liegt das weniger in ‚der Geschichte‘ (was auch immer mit diesem vermeintlich alles erklärenden Gottersatz gemeint sein mag), sondern eher bei uns. In der Art und Weise, wie wir uns auf abwesende Zeiten beziehen, wie wir mit Vergangenheit und Zukunft als Orientierungshorizonten operieren, versuchen wir unsere eigene Gegenwart zu organisieren. Und auf Verunsicherungen, die aus einem empfundenen oder tatsächlichen Übermaß an Veränderungen resultieren, kann man unter anderem reagieren, indem man auf vermeintlich überzeitlich gültige Grundlagen rekurriert. Dann müssen mit einem Mal die seltsamsten Konstrukte herhalten, um den Irritationen des Konstruktivismus zu entgehen. Dann werden Nation und Religion (natürlich die jeweils ‚eigene‘) mit einem Mal ebenso bedeutsam wie die Unbestreitbarkeit der einen Wahrheit oder der einen und einzigen Wirklichkeit. Gab es jemals eine bessere Zeit für postmoderne Dekonstruktionsarbeiter als diese, in der man sich allenthalben nach neuen Konstrukten sehnt?

Damit hätten wir aber kein historisches Grundgesetz formuliert, sondern höchstens Einsichten in die allzu menschlichen Unzulänglichkeiten gewonnen. Dass Verunsicherungen und Turbulenzen nicht angenehm sind, lässt sich schon aus der Genesis lernen. Aus dem Paradies vertrieben zu werden, war offensichtlich nicht besonders angenehm. Und seither suchen zumindest manche Vertreter der Gattung Mensch den Weg dorthin zurück, in die geordneten, sorgenlosen und ewig gültigen Verhältnisse eines Paradieses, in dem irgendeine höhere Instanz dafür sorgt, dass alles bleibt, wie es ist. Aber dieses Paradies wäre die Hölle.

Die Romantik des Historischen

Dummerweise sind von solchen Phänomenen der Re-Romantisierung alle historischen Tätigkeitsfelder ganz besonders betroffen. Insofern ist es kein Zufall, dass man es seit den 1990er Jahren mit einem unübersehbaren Geschichts- und Erinnerungsboom zu tun hat, bei dem nicht nur alles und jedes historisiert wird, sondern bei dem vor allem ‚die Geschichte‘ mal wieder die versichernden Antworten auf all die verunsichernden Fragen zu geben hat. Insofern muss ich mir tatsächlich Sorgen machen über die anhaltende Attraktivität meines eigenen Arbeitsgebiets.

Daher heißt es gegensteuern. Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben sollten: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit hat gerade nicht die Funktion, zur Orientierung und Identitätsbildung oder sonstigen Versicherungsmaßnahmen beizutragen. Das kann nur gelingen, wenn man nicht so genau hinsieht und das Gewesene als billiges Argumentationsarsenal missbraucht. Ganz im Gegenteil hat die Beschäftigung mit der Vergangenheit die Aufgabe, uns in unserer selbstverständlichen Bräsigkeit zu verunsichern, Alternativen aufzuzeigen, von denen wir noch nicht einmal wussten, dass sie existieren könnten, und das vermeintlich überzeitlich Gültige als zeitlich recht beschränkt vorzuführen. Und das gilt sowohl für die Suche nach unbezweifelbaren Grundlagen (schließlich muss man laut Wittgenstein an allem zweifeln – nur am Zweifel selbst nicht) wie auch für die Illusion von historischen Gesetzmäßigkeiten.

 

[1] Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Berlin 2012; Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Berlin 2014

[2] Dazu scheint zu passen, dass diese theoretischen Expermientierfelder gerade ihre eigene Historisierung erfahren: Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014; Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990, München 2015.


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35. Wie uns die Jungen Altes sungen oder Vom Elend des Geschichtsfernsehens

Neue alte Geschichten aus dem 19. Jahrhundertdeutsch

„Deutsch!“ schallt es nachdrücklich aus den Fernsehlautsprechern. „Deutsch! Deutsch! Deutsch!“ In einer Möchtegern-Rammstein-Rums-Manier, die nach Stahl und Schwulst und Schweiß und Leder und überhaupt nach allem schmeckt, was man leichthin mit Deutsch!-Land verbinden könnte, wummert ein schleppender und dumpf stampfender Beat der Band „Die Prinzen“ immer dann los, wenn die Geschichtsdokumentation „Deutschland-Saga“ ihren Anfang nimmt. Drei Folgen dieser Reihe liefen bereits im Herbst 2015, drei weitere folgen nun im Frühjahr 2015.

Man hat von dieser Sendung schon eine ganze Menge verstanden, wenn man den solcherart musikalisch unterlegten Vorspann sieht. Da fährt Christopher Clark – Australier, Deutschland-Experte und Cambridge-Professor, wie regelmäßg betont wird – in einem roten Käfer-Cabriolet durch eine künstliche Erlebnisparklandschaft, in der Abziehbildchen von Repräsentanten deutscher Geschichte herumstehen, vom Neandertaler über Martin Luther bis zu Bismarck und dem Gartenzwerg. In etwas mehr als 20 Sekunden wird ein Dieter-Thomas-Heck-artiger Schnelldurchlauf durch die deutsche Geschichte geboten, und die Zuschauerschaft kann sich historisch gleich zu Hause fühlen, wenn hier lauter Themen offeriert werden, die sie ohnehin schon kennt.

Vor allem aber wird schon hier der Ansatz einer historischen Erzählung deutlich, die sich durch drei Aspekte auszeichnet: erstens Identität, zweitens Kontinuität, und das Ganze drittens gepaart mit dem zuweilen recht verzweifelten Versuch, eine Prise frischer und frecher Darstellungsmittel darüber zu streuen (deswegen: roter Käfer-Cabrio!). Die Chose mutet nicht zuletzt deswegen so bekannt an, weil sie – und das ist das Hauptproblem – einmal mehr in nur leicht abgewandelter Form die Nationalisierungsdiskurse des 19. Jahrhunderts aufwärmt. Da werden frisch, fromm, fröhlich, frei die ganz großen Linien gezogen, von den ‚Deutschen‘ der Steinzeit bis zu den Deutschen der Jetztzeit, da wird eine Substanz ‚deutschen Wesens‘ vorausgesetzt, die jedem gestandenen Nationalisten wahre Freude machen könnte (auch wenn diesem bei der darstellerischen Umsetzung wohl der nötige gravitätische Ernst fehlen würde), und da werden unterschiedslos tausende von Jahren mit all den Differenzen, wie sie sich in sämtlichen Lebensbereichen finden, in einem einzigen Paket zusammengeschnürt und mit dem Siegel „deutsch!“ versehen, so dass es am Ende völlig gleichgültig ist, ob wir uns im Frühmittelalter oder im 19. Jahrhundert befinden.

Differenzierungen unterrühren

Da ist es wenigstens offen und konsequent, wenn die Reihe sich selbst als „Saga“ bezeichnet. Denn das Mythische kommt hier wahrlich nicht zu kurz, wenn es sich auch beständig mit dem Deckmäntelchen der Geschichtswissenschaftlichkeit bedeckt. Anhand alt bekannter Themen – Staat, Kultur, Natur – werden Beispiele in einen Topf geschmissen und mit einem Hochgeschwindigkeitsquirl nicht länger als nötig verrührt, bis ein schwarz-rot-goldener Brei herauskommt. Christopher Clark versucht zwar immer wieder bei den Kommentaren, die er direkt in die Kamera spricht, Anstrengungen zur Differenzierung zu unternehmen, indem er betont, dass es gerade die Unterschiede und die Vielfalt Deutschlands seien, die ihn faszinierten. Diese zarten Pflänzchen historischer Diversität werden aber unmittelbar im Anschluss durch eine nationale Gesamterzählung wieder platt gemacht.

Überhaupt gibt es eigentlich nur einen Grund, weshalb es sich lohnt, diese Sendung anzusehen – und das ist der „Moderator“, wie die Rollenzuweisung im Abspann lautet. Als Professorendarsteller, den eine solche Geschichtsdokumentation zwangsläufig zu benötigen scheint, macht Christopher Clark seine Arbeit wirklich gut. Auch wenn seine fachlichen Qualitäten kaum benötigt werden, so erweist er sich als hervorragender Entertainer und Schauspieler – und Sänger! Die Szenen, in denen er vor die Kamera tritt, gehören zu den wenigen wirklichen Hinguckern dieser Produktion. Nicht nur, dass er dem Ganzen eine gewisse ironische Note und aufgrund seiner Nationalität auch eine recht hilfreiche verfremdende Perspektive zu geben vermag.

Wiederholungszwang

Ansonsten ist es aber ein geradezu unheimlicher, um nicht zu sagen unverschämter Widerholungszwang zweiter Ordnung, der in dieser Serie ausgeübt und eingeübt wird. Nicht nur, dass inhaltlich die fadesten Nationalitätsdiskurse des 19. Jahrhunderts wiederholt werden, darüber hinaus kopiert sich das Geschichtsfernsehen hier selbst, weil zu den einzelnen Themen zumeist Spielszenen verwendet werden, die bereits älteren Sendungen entstammen. Und diese Form der Zweiterverwertung erfährt dann noch eine zusätzliche Rückkopplungsschleife in den einzelnen Folgen selbst, weil manche Szenen gleich mehrfach verwendet werden. So fährt Madame de Staël wiederholt in ihrer Kutsche durch dieses Deutsch!-Land, und zwar immer dann, wenn man in der Erzählung eine etwas verfremdende Außenperspektive benötigt. Da stellt sich dann schon die Frage, ob sich die Themen dieser Reihe einem eigenständigen Konzept verdanken oder vor allem unter dem Gesichtspunkt ausgesucht wurden, ob bereits entsprechendes Material in den fernseheigenen Archiven lagerte, das problemlos wiederverwertet werden konnte.

Einen gesonderten Abzug in der B-Note bekommt die Musikredaktion, die zwar notorisch witzig sein möchte, dabei aber durchgehend plump wirkt. Die Völkerwanderung mit einer Coverversion von Dylans „Blowin‘ in the wind“ zu untermalen, die Fahrten Mark Twains auf dem Neckar mit „Wasn’t born to follow“ von den Byrds anzureichern oder das Thema deutscher Fürsten im 18. Jahrhundert als Mäzene für Künstler und Schriftsteller mit „Hey Big Spender“ lautstark zu kommentieren, wirkt aufdringlich. Auch da muss der Moderator rettend dagegen halten, wenn er auf dem Rhein Schubert-Lieder anstimmt oder sich singend beim Leipziger Thomaner-Chor einreiht.

Auf der Suche nach den Televisionären

Wenn in jüngerer Zeit wiederholt und zu Recht gefordert wird, im Fernsehen intelligentere Geschichten zu erzählen, uns als Zuschauer mehr zu fordern, so wie dies in den gut gemachten und in den Feuilletons dieses Landes immer wieder gelobten amerikanischen oder skandinavischen Fernsehserien geschieht (Breaking Bad, House of Cards, True Detectives, Borgen), dann stellt sich die Frage, ob Nämliches nicht auch für dokumentarisches Fernsehen gelten darf. Insbesondere das allseits beliebte und regelmäßig mit hohen Einschaltquoten aufwartende deutsche Geschichtsfernsehen hat sich in seiner jüngeren Vergangenheit erfolgreich darum bemüht, seinen Ruf gründlich zu ruinieren. Nicht nur weil es mit den immer gleichen Themen, den immer gleichen Darstellungsmitteln und den immer gleichen Auseinandersetzungen mit der akademischen Geschichtswissenschaft aufwartet – sondern vor allem weil es die immer gleichen Narrative bemüht. Die sind so verlässlich und so vorhersehbar wie öffentlich-rechtliche Vorabendserien.

Nota bene: Mir geht es hier überhaupt nicht darum, für historische Dokumentationen einen größeren Einfluss der Geschichtswissenschaft zu fordern. Dafür wäre dieses Format völlig fehl am Platz. Im Gegenteil: Ähnlich wie sich die Geschichtsschreibung um Darstellungsformen bemühen sollte, die nicht einfach nur den Status quo repetieren, sollte es doch auch gerade für das Geschichtsfernsehen eine Herausforderung sein, etablierte Pfade zu verlassen und Geschichte(n) einmal anders zu erzählen – insbesondere dann, wenn diese Pfade bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen.

Dann wäre es beispielsweise möglich, das deutsch!-nationale Muster einmal zu verabschieden, um stattdessen Geschichten zu erzählen, die sich an ganz anderen Instanzen orientieren, die beispielsweise anhand von Verkehrsmitteln, Sportbetätigungen, Schönheitsidealen oder Naturauffassungen tatsächlich einmal wesentlich stärker die Vielfältigkeiten und Differenzierungen in den Mittelpunkt rücken, anstatt eine krude Identitätsbildung zu forcieren.

Den Moderator kann man dann auch gerne behalten.


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