Kulturgeschichtliches zu den Himmelsrichtungen (I): der Norden

Die Himmelsrichtungen hatten in der Kulturgeschichte Chinas ihren festen Platz in den – in ihren einzelnen Zuschreibungen zum Teil höchst unterschiedlichen – kosmologischen Systemen.

Das chinesische Schriftzeichen für “Norden” (bei 北) zeigte ursprünglich ein

“[...] Bild zweier mit dem Rücken zueinander stehender Menschen [...] [und bedeutet] somit eigentlich den Rücken zuwenden, dasjenige, dem man den Rücken zuwendet, denn in China wird der Norden immer als das Hintere, das Hintenbefindliche [...] angesehen. Aus diesem Grunde sind Hauseingänge, der Thron des Kaisers usw. nach Süden orientiert.” [1]

Das Schriftzeichen 北, das also ursprünglich “das Hintere” beziehungsweise “das Dunkle” bedeutete, wurde schließlich in der Bedeutung “Norden” gebraucht. Zur Wiedergabe der ursprünglichen Bedeutung “Rücken” wurde dem Schriftzeichen die Komponente rou 肉(Fleisch) hinzugefügt [2]

Von den fünf Wandlungsphasen (fünf “Elementen”) wird dem Norden der Wandlungsphase “Wasser” zugeordnet, ebenso die weibliche Urkraft (yin 陰)  [3]


Shenwumen 神武門 – Foto: Georg Lehner

Das Nordtor des ehemaligen Kaiserpalastes wurde bei der Erbauung des Palastkomplexes im 15. Jahrhundert zunächst Xuanwumen 玄武門 (“Tor des Dunklen Kriegers”) benannt. Der “Dunkle Krieger” (Xuanwu 玄武), unter anderem auch “Wahrer Krieger” (Zhenwu 真武) genannt, galt im Daoismus als Schutzgott des Nordens. Aus Gründen der Tabuierung des persönlichen Namens (Xuanye) des Kangxi-Kaisers (r. 1662-1722) erfolgte schließlich die Umbenennung des Tors in Shenwumen 神武門 (“Tor des Göttlichen Kriegers”). [4]

Nicht nur um die aus kosmologischer Sicht negativen Einflüsse sondern auch die winterlichen Stürme vom Kaiserpalast abzuhalten und vor allem aus geomantischen Überlegungen heraus, wurde das Erdreich, das beim Aushub des rund um die kaiserliche Residenz angelegten Wassergrabens anfiel, im Norden des Palastes zu einer künstlichen Erhebung – dem Aussichtshügel (Jingshan 景山), der bisweilen auch Kohlehügel (Meishan 煤山) genannt wurde – aufgeschichtet. Die fünf Pavillons, die sich auf dem beziehungsweise in der Nähe des Gipfels befinden, wurden erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet. [5]

Blick auf die “Verbotene Stadt”, vom Jingshan 景山 aus gesehen – Foto: Georg Lehner

 

[1] Bernhard Karlgren: Schrift und Sprache der Chinesen, übers. von Ulrich Klodt (Berlin: 2. Aufl. 2001 [1. Aufl., 1975]), 38. [nach oben]

[2] Qiu Xigui: Chinese Writing, trans. Gilbert L. Mattos, Jerry Norman (Early China Special Monograph Series no. 4, Berkeley: The Society for the Study of Early China and the Institute of East Asian Studies, University of California,Berkeley, 2000) 186. [nach oben]

[3] Wolfram Eberhard: Lexikon chinesischer Symbole. Die Bildsprache der Chinesen (München, 5. Aufl., 1996), 294 (“Vorn/Hinten”). [nach oben]

[4] Patricia Bjaaland Welch: Chinese Art. A Guide to Motifs and Visual Imagery (Tokyo 2008) 148 Anm. 4. [nach oben]

[5] Vgl. etwa Frank-Rainer Scheck (Hg.): Volksrepublik China. Kunstreisen durch das Reich der Mitte (Köln: 3. Aufl., 1988) 226 f. [nach oben]

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/149

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Wie alt ist das “alte” China?

Vermutlich begünstigt durch den Umstand, dass es für China – abgesehen von der chinesischen Praxis der Einteilung der Geschichte in Dynastien – “keine konsensuell gefestigte Periodisierung” [1] gibt, tendieren vor allem (aber keineswegs ausschließlich) populärwissenschaftliche “westliche” Darstellungen dazu, die Geschichte und Kultur Chinas bis zum Ende des Kaiserreiches (1911/12) unter dem Begriff des “alten” China zu subsumieren (analog dazu im Englischen “ancient China”, im Französischen “la Chine ancienne” und im Niederländischen “het oude China”).

Der überaus unscharfe Begriff ist nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Diskussion um die Anfänge des “modernen China” zu sehen. Gängige Interpretationen in der westlichen China-Historiographie bezeichnen einerseits die Mitte der 1640er Jahre andererseits die Zeit um 1840 (Erster Opiumkrieg) als Beginn des modernen China [2]. China selbst sah Anfang des 20. Jahrhunderts die Übernahme des westlichen Schemas “Altertum – Mittelalter – Neuzeit”:  Der Gelehrte Liang Qichao 梁啟超 (1873-1929) setzte dabei das Altertum (“chinesisches China”) mit der Zeit vor der Reichseinigung durch den Ersten Kaiser (221 v. Chr.) gleich. Als Mittelalter (“asiatisches China”) bezeichnete Liang die rund zwei Jahrtausende von der Reichseinigung bis zum späten 18. Jahrhundert. Die Neuzeit (“China in der Welt”) begann für Liang wohl mit der britischen Gesandtschaft, die 1793 China besuchte. [3]

Die moderne chinesische Geschichtsschreibung, die sich in Manchem an “westlichen” Vorbildern orientierte, lässt die “Alte Geschichte” (gudai shi 古代史) bis zum Jahr 1840 reichen. Der Zeitraum von 1840 bis 1919 (Vierte-Mai-Bewegung) wird als “Neuere Geschichte” (jindai shi 近代史) bezeichnet. Bei den drei Jahrzehnte bis zur Gründung der Volksrepublik China (1949) spricht man von der “Gegenwartsgeschichte” (xiandai shi 現代史), alles nach 1949 wird unter “Zeitgeschichte” (dangdai shi 當代史) zusammengefasst. [4]

Könnte die Anwendung des Begriffs “altes China” für die Beschäftigung mit der Geschichte Chinas bis in die Zeit der Qin-Dynastie (221-206 v. Chr.) gerechtfertigt sein, so erscheint es jedoch ratsam, in diesem Fall – in Analogie zur “europäischen Antike” – von der “chinesischen Antike” zu sprechen. [5]

Schon ein Blick auf Bücher, die “Das alte China” im Titel führen, macht deutlich, wie problematisch dessen Verwendung im Grunde genommen ist: Darstellungen zur Kunst und Kultur Chinas bis zur Han-Zeit (206 v. Chr. – 220 n. Chr.) [6] sind ebenso darunter, wie an Artefakten aus der Zeit zwischen 221 v. Chr. und 1279 n. Chr. (“von der Gründung des Kaiserreichs [...] bis zum Verlust der Souveränität [...] und der Eingliederung in das mongolische Imperium”) festgemachte Einblicke in verschiedene Aspekte der Kulturgeschichte Chinas [7] und überblicksartige Darstellungen der Geschichte Chinas bis 1840 [8] beziehungsweise bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts [9]

Eine Begründung für die Zäsur in der Mitte des 19. Jahrhunderts findet sich in einer Besprechung der von Bodo Wiethoff vorgelegten Bände Grundzüge der älteren chinesischen Geschichte (1971) und Grundzüge der neueren chinesischen Geschichte:

“Ungeachtet der Tatsache, daß es in der älteren Geschichte Verbindungen und Berührungspunkte zwischen China und dem Abendland gab und daß China zahlreiche Impulse von außen empfing, vermochten diese niemals zu Triebkräften der chinesischen Geschichte zu werden. China schöpfte gleichsam auch sich selbst, es bezog seine Leitideen aus der eigenen Tradition. Demgegenüber ist die moderne chinesische Geschichte nicht mehr isoliert vom übrigen Weltgeschehen zu betrachten, sie ist in den weltpolitischen Rahmen einbezogen.” [10]

 

[1] Jürgen Osterhammel: “Gesellschaftsgeschichtliche Parameter chinesischer Modernität” Geschichte und Gesellschaft 28 (2002) 85. [nach oben]

[2] Immanuel C. Y. Hsü: The Rise of Modern China (New York, 5. Aufl. 1995) 4-7 (“When Does Modern China Begin?”) [nach oben]

[3] Achim Mittag: “Die Konstruktion der Neuzeit in China. Selbstvergewisserung und die Suche nach Anschluß an die moderne Staatengesellschaft”. In: Renate Dürr, Gisela Engel, Johannes Süßmann (Hrsg.): Eigene und fremde Frühe Neuzeiten. Genese und Geltung eines Epochenbegriffs (Historische Zeitschrift, Beiheft 35; München 2003) 148. [nach oben]

[4] Endymion Wilkinson: Chinese History. A Manual. Revised and enlarged (Cambridge, MA 2000) 6. [nach oben]

[5] Maria H. Dettenhofer: “Europäische Antike und chinesische Antike im Vergleich. Politische und gesellschaftliche Strukturen im Römischen Reich und im China der Han-Dynastie.” In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Themenheft 02/2007: Bayern und China – Bilaterale Beziehungen und Kulturtransfer. [nach oben]

[6] Eleanor Consten: Das Alte China (S.l.: Phaidon Verlag, Akademische/Athenaion, Sammlung Kilpper, [s.a., ca. 1966]).[nach oben]

[7] Thomas O. Höllmann: Das alte China. Eine Kulturgeschichte (München 2008), zum Zitat vgl. ebd., S. 10. [nach oben]

[8] Helwig Schmidt Glintzer: Das alte China (München 1995). [nach oben]

[9] Monique Nagel-Angermann: Das alte China (Stuttgart 2007). [nach oben]

[10] Brunhild Staiger (Rez.): Bodo Wiethoff: Grundzüge der älteren chinesischen Geschichte (1971), ders.: Grundzüge der neueren chinesischen Geschichte (1977). In: HZ 226 (1978) 655. [nach oben]

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/84

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Annäherungen an den Kulturbegriff im Chinesischen

Im modernen Chinesisch steht für den Begriff “Kultur” meist wenhua 文化  – daher also auch die Adresse dieses Blogs.

Während sich der Begriff wenhua erst im frühen 20. Jahrhundert durchzusetzen begann [1], stand der Begriff wen 文 seit dem Altertum für die Sphäre des Kulturellen und hier vor allem – ab der Späten Han-Zeit (1.-3. Jh. n. Chr.) für den Bereich der Literatur. [2] Ursprünglich hatte das Schriftzeichen, das geritzte und verschlungene Linien zeigt, die Bedeutung “kreuz und quer”, zu der sich später auch “gemustert”, “verziert” beziehungsweise “verfeinert” gesellten.

Ein Blick ins Wörterbuch zeigt die vielfältigen Bedeutungen, die das Schriftzeichen wen 文haben kann: “verschlungene Linien (eines Ornamentes), Striche, Linien, Adern, einfaches zusammengesetztes bildhaftes Schriftzeichen, Geschriebenes, Schrift, Schriftstück, Inschrift, Wortlaut, Text, geschriebene Sprache, Schriftsprache, Schrifttum, Literatur, literarischer Schmuck, Stil, Wissenschaft, Bildung, Kultur, kultiviert, verfeinert, gebildet, zivilisiert [...].” [3]

Einzelne Blüteperioden der Kultur Chinas fielen mitunter – wie etwa zur Zeit der “Nördlichen und Südlichen Dynastien” (3.-6. Jh.) oder während  der Song-Dynastie (960-1279) in eine Zeit, in der China entweder politisch zerrissen war oder unter dem Eindruck nomadischer Invasoren stand. Wie es Erwin Rousselle (1890-1949) formuliert hatte, zeige die Geschichte Chinas “daß ihr ungeheuer reicher dramatischer Ablauf sehr oft Zeitalter durchmessen hat, in denen die beiden Kurven von Kultur und militärischer Macht, von ‘Wen und Wu’, sich durchaus nicht deckten.” [4]

Kam Louie und Louise Edwards machten sich dieses Gegensatzpaar von wen und wu 武 (“zivil” und “militärisch”) für ihren Versuch einer Konzeptualisierung chinesischer Männlichkeit(en) zunutze. Während yin 陰 und yang 陽 gemeinhin als Gegensatz zwischen Weiblichem und Männlichem interpretiert werden, manifestieren sich in wen und wu die unterschiedlichen Ausprägungen chinesischer Männlichkeit(en), die im Idealfall jedoch harmonieren sollten. [5]

Halle der Militärischen Tapferkeit

Wuyingdian 武英殿 (Halle der Militärischen Tapferkeit), Kaiserpalast, Beijing – Foto: Georg Lehner

Als Beispiel für die Harmonie zwischen wen und wu mag der Umstand gesehen werden, dass die Wuyingdian 武英殿 (“Halle der Militärischen Tapferkeit”)  auf dem Gelände des Kaiserpalastes in Beijing ab dem 17. Jahrhundert als Druckerei genutzt wurde. Diese im Südwestteil der so genannten “Verbotenen Stadt” gelegene Halle korrespondierte von ihrer Lage her zudem mit der Wenhuadian 文華殿 (“Halle der Literarischen Blüte”) im Südostteil, womit das wen-wu-Paradigma auch in der kaiserlichen Residenz seinen Niederschlag gefunden hatte [6] .

Halle der Literarischen Blüte

Wenhuadian 文華殿 (Halle der Literarischen Blüte), Kaiserpalast, Beijing – Foto: Georg Lehner

 

[1] Zur Entstehung des modernen chinesischen Kulturbegriffs vgl. Fang Weigui: Selbstreflexion in der Zeit des Erwachens und des Widerstands. Moderne chinesische Literatur 1919-1949 (Lun Wen. Studien zur Geistesgeschichte und Literatur in China 7; Wiesbaden 2006) 25-39 (1.2 Die Etablierung des neuen Kultur- und Zivilisationsbegriffs)

[2] Karl-Heinz Pohl: “Annäherungen an einen Literaturbegriff in China.” In: Simone Winko, Fotis Jannidis, Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen (Berlin/New York 2009) 589.

[3] Werner Rüdenberg/Hans O. H. Stange (Hg.): Chinesisch-Deutsches Wörterbuch. 3., erw., völlig neubearb. Aufl. (Hamburg/Berlin 1963) 691 (Nr. 8441).

[4] Erwin Rousselle: “Vom Eigenwert der chinesischen Kultur.“ Sinica 8 (1933) 1-8, hier ebd., 1.

[5] Kam Louie, Louise Edwards: “Chinese Masculinity: Theorising ‘Wen’ and ‘Wu’” In: East Asian History 8 (Dec. 1994) 135-148, vor allem 139-142.

[6] Zur Lage der beiden Hallen vgl. “Major Structures of the Forbidden City”, National Geographic/Supplement to National Geographic Magazine, May 2008 (Special Issue: China. Inside the Dragon) beziehungsweise den Plan auf der Website des Palastmuseums Beijing.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/50

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