Eintagsfliegen

Der britische Fantasyautor und Erfinder der Scheibenweltromane, Terry Pratchett, der vor drei Jahren leider frühzeitig verstorben ist, hat mir unzählige fröhliche Lesestunden beschert. Dabei hat er mich nicht nur unterhalten, sondern oftmals auch informiert und mein Interesse für Wissenschaft im Allgemeinen geweckt. Eine Geschichte aus dem Buch «Alles Sense» (Pratchett 1991[1994]), hat sich mir auf besondere Weise eingeprägt. Sie handelt von jungen und alten Eintagfliegen, die den Sonnenuntergang betrachten und sich dabei unterhalten. Die alten Eintagsfliege beklagen sich bitter über den Zustand der Welt. Die Sonne am Horizont habe in ihrer Jugend noch ganz hoch am Himmel gestanden, und nun sei sie kurz vorm versinken. Es wären doch gar schreckliche Zeiten, in welche die armen jungen Eintagsfliegen hineingeboren worden seien, auch wenn sie sich selber dessen nicht bewusst wären, weil sie ja die gute alte Zeit, wo die Sonne hoch am Himmel stand, nicht hätten erleben können.

Als ich vor kurzem einen Vortrag zum Sprachwandel vorbereitete, in dem ich auch darauf eingehen wollte, wie Menschen, die keine Linguisten sind, Sprachwandel gewöhnlich wahrnehmen, ist mir die Geschichte mit der Eintagsfliege wieder eingefallen. Denn nur allzu oft verhalten wir Menschen uns ähnlich in Bezug auf Veränderungen, die unsere Gesellschaft betreffen.

[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/181

Weiterlesen

Die Angst des Jongleurs vorm Loslassen

Jeden Samstag, wenn ich nicht auf Reisen bin, gehe ich zum Training. Von 10 bis 13 Uhr begebe ich mich zum „Tanz Näder“ in Jena, wo eine Artistengruppe trainiert, und ich selbst mittrainieren kann. Während die jungen Artisten (die meisten sind Kinder und Jugendliche) Flic-Flacs, Hula-Hoop und Handstände trainieren, werfe ich meine Bälle in die Luft. Meist sind es die orangefarbenen, orangengroßen, mit Silikon gefüllen Hartplastikbälle, die ich mir vor etwas längerer Zeit gekauft habe, und die Jongleure wegen ihrer Größe, die sie leicht kollidieren lässt, zwingen, sehr sauber zu werfen. Das kommt mir zugute, da ich selbst vom Charakter eher ein „Fänger“ als ein „Werfer“ bin, also einer, der eher ausgleicht, was falsch geworfen wurde, anstatt die Bälle gleich so sauber zu werfen, dass sie schon an der richtigen Stelle in der Hand landen.

Diese drei Stunden sind mir heilig. Beim Jonglieren kann ich alles, was mich im Alltag bedrückt, vergessen, sei es nun der Druck durch die Arbeit, die wissenschaftlicher Relevanz und „Exzellenz“ (was immer das sein mag) fordert, oder das Gefühl, in dieser Stadt, in der ich nach langen Jahren der Wanderschaft mit den typischen wissenschaftlichen Zeitverträgen nun angekommen bin und länger bleiben werde, auch persönlich endlich Fuß fassen zu müssen. Die ersten dreißig Minuten sind immer grässlich. Ein kalter Körper jongliert nicht gern, und mit jedem Wurf den ich mache spüre ich eine Hilflosigkeit, wenn ich die Bälle in die Luft werfe, die ich kaum erklären kann.

[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/169

Weiterlesen

Tschau, Dschameika!

Ich weiß nicht, woran es lag, aber die Jamaika-Sondierungsgespräche haben bei mir persönlich kaum das Interesse hervorgerufen, dass sie in den Medien erfahren haben. Oftmals, wenn ich die Überschriften der typischen Online-Magazine überflog, die viele Menschen täglich überfliegen, war ich sogar verblüfft, wenn mir klar wurde, dass es um die Sondierungsgespräche ging, und nicht um Jamaika als Land. Ob mein Desinteresse nun charakteristisch für die Politikverdrossenheit vieler Menschen in Deutschland ist, oder eher auf das typische Desinteresse von Elfenbeinturmbewohnern an irdischen Angelegenheiten zurückzuführen ist, kann ich selbst nicht richtig beantworten. Was mein Interesse als Linguist jedoch erregte, war ein Artikel von Jan Fleischhauer, in dem dieser sich dieser darüber mockierte, dass das Wort „Jamaika“ von den meisten Verhandlungspartnern „hybrid“ ausgesprochen werde:

Bis heute können sich nicht einmal die Beteiligten entscheiden, ob sie den Namen ihrer Koalition nun deutsch aussprechen, also mit einem J wie in Julia und dann einem ai wie in ei – oder englisch, das heißt mit weichem Dsch und mäj in der Mitte. Die meisten haben sich für einen Mittelweg entschieden: englisch beginnend, auf deutsch endend. Jens Spahn hat recht: Gegen den Zwang zum Kosmopolitismus ist kein Kraut gewachsen. (Fleischhauer, SPON, 02.11.2017, [URL])



[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/160

Weiterlesen

Ein Fall für Tee: Inseln der Ordnung in einem Ozean des Chaos

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sehr ich mich quälte, als ich Russisch lernte und versuchte, mir die Endungen für die sechs Fälle des Russischen einzuprägen. Da gab es einfach zu viele Sonderregelungen, gefühlt noch viel, viel mehr, als ich vom Lateinischen her kannte. Das russische Kasussystem ist auch tatsächlich ziemlich komplex. Im Deutschen unterscheiden wir drei Geschlechter und vier Fälle, wobei die Fälle selbst in vielen Fällen die gleiche Endung haben, und meist nur noch der Artikel, Adjektive, oder Pronomen an den Wörtern ausdrücken, welchen Fall wir eigentlich meinen. Im Russischen gibt es neben dem Nominativ, dem Genitiv, dem Dativ, und dem Akkusativ, noch zwei weitere Fälle, nämlich den Instrumental, der in etwa immer dann verwendet wird, wenn wir im Deutschen die Präposition „mit“ verwenden (ich jongliere mit drei Bällen, ja žongliruju tremja mjačami., Kyrillisch: я жонглирую тремя мячами), und den Präpositiv, der immer dann verwendet wird, wenn wir bestimmte Präpositionen verwenden. Während wir also im Deutschen im Satz „Ich rede über Bildung“ die Bildung in den Akkusativ setzen, steht sie im Russischen im Präpositiv, der Akkusativ wird viel öfter seinem Namen nach entsprechend verwendet: wenn man jemanden addressiert (oder anklagt).

Damit ist es aber noch nicht getan, denn zu den sechs Fällen gesellen sich noch eine Menge weiterer Idiosynkrasien, die mich zu Beginn beim Russischlernen oft zum Verzweifeln trieben. Für Wörter, die belebte Dinge im Maskulinum ausdrücken, wie „Mensch“, „Hase“ und „Wolf“, ist der Akkusativ gleich dem Genitiv, wobei der Rest aller maskulinen Wörter im Akkusativ genau die gleiche Endung hat wie im Nominativ.

[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/147

Weiterlesen

Informationspolitik

Im Zuge der Vorwürfe gegenüber dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil, hat Spiegel Online am sechsten August einen Artikel veröffentlicht, in dem auf die Passagen, die letztendlich auf Vorschlag von VW verändert wurden, eingegangen wurde (hier ist der Artikel zu finden). Wie oft in politischen Angelegenheiten, habe ich zu diesen Themen keine Meinung, die es wert wäre, öffentlich geteilt zu werden, da ich oft ohnehin das Gefühl habe, dass schon genug Meinungen im Umlauf sind. Was mich aber erstaunt hat, war die Unübersichtlichkeit, in der auf die geänderten und nicht geänderten Textstellen in der Rede eingegangen wurde. Was die Autoren uns, die wir den Text lesen, vorlegen, ist eine unübersichtliche Liste von Bullet-Points, die sporadisch auf Unterschiede eingehen und in Prosa auf geänderte und nicht geänderte Punkte hinweisen. Das, soweit ich das verstehe, von Weil selbst veröffentlichte PDF-Dokument ist in dieser Hinsicht schon viel übersichtlicher, wurde in dem Artikel von Spiegel Online allerdings leider nicht verlinkt.

Auch die PDF-Datei ist jedoch schwer zu lesen, weil wir uns genau alle Kommentare anschauen müssen, die an den Rand geschrieben wurden. Was mich in diesem Zusammenhang wundert, ist, dass weder die Urheber der PDF-Datei noch die Redakteure von Spiegel Online sich die Mühe machten, die Unterschiede zwischen Urfassung, Änderungsvorschlägen, und Endfassung zufriedenstellend aufzubereiten, und zwar in einer Form, die es uns Leserinnen und Lesern ermöglicht, schnell und verlässlich einen grundlegenden Überblick über die Änderungen und Unterschiede zu erlangen. Es ist vor allem deshalb verwunderlich, weil es in diesen digitalen Zeiten denkbar einfach ist, dies zu tun: Mit Hilfe von Textalinierungen, die ein Dokument Satz für Satz vorstellen, und jeweils zeigen, wo Änderungen in den drei Versionen zu finden sind.



[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/128

Weiterlesen

Unhöflichkeit

Während meines ersten Chinaufenthaltes lernte ich nach einiger Zeit die Romane von Yú Huá 余華 kennen, der relativ offen und auf eine faszinierende Art über chinesische Verhältnisse, vor allem zur Zeit der Kulturrevolution, berichtet. Die Erzählungen schwanken ständig zwischen Komik und Depression. Einer Passage, während derer man Tränen lacht, folgt mitunter schon eine Seite später ein Abschnitt, der einem Tränen der Entrüstung über das Unrecht, das Menschen einander antun können, in die Augen treibt. Viele von Yú Huás Büchern wurden inzwischen auch ins Deutsche übersetzt, und ich kann vor allem die Romane „Brüder“ (Xiōngdì 兄弟 im Original) und „Der Mann, der sein Blut verkaufte“ (Xǔ Sānguān Màixuèjì 許三觀賣血記 im Original) allen empfehlen, die an der Vielfalt von Literatur interessiert sind.

Für mich waren Yú Huás Werke auch deshalb so interessant, weil er relativ einfach und mit viel umgangssprachlicher Färbung schreibt. Solche Texte sind natürlich besonders geeignet für diejenigen, die eine Sprache erlernen wollen, da sie einen behutsam an die Schriftsprache anführen und gleichzeitig auch für tägliche Konversationen wappnen können.
Beim Lesen des Romans „Brüder“, zum Beispiel, fiel mir während meines Aufenthaltes in Shanghai auf, dass man im Chinesischen in bestimmten Situationen auf sich selbst als lǎozǐ referieren kann, was entweder auf den Philosophen Lǎozǐ anspielt (wahlweise auch Lao Tse oder Lao Tzu geschrieben) verweist, der im sechsten Jahrhundert v. Chr. lebte, aber vielleicht auch wörtlich als „Alter Herr“ oder „Alter Meister“ interpretiert werden kann.

[...]

Quelle: http://wub.hypotheses.org/117

Weiterlesen

Plappe Pleiner

Ich war ein großer Fan von Lucky Luke, als ich klein war, und ich bin es bis heute geblieben, obwohl mir die neueren Hefte natürlich nicht so gut gefallen, wie die alten Originale. Zwei meiner Lieblingshefte sind „Die Daltons und der Psychodoc“ und „Ma Dalton“. Warum, kann ich nicht genau sagen, und ich sollte es wohl am besten auch gar nicht versuchen. In einem der Hefte jedoch, und ich muss gestehen, dass ich nicht genau weiß, ob im Psychodog oder in Ma Dalton, gibt es diese lustige Szene, in der Ma Dalton einen Brief an ihre Kinder schreibt, und William oder Jack einen Buchstaben nicht kennen, und sich am Ende darauf einigen, dass es ein „P“ sein muss. Der Brief von Ma Dalton endet darauf ungefähr wie folgt (in der von William oder Jack vorgetragenen Version):

Und grüßt mir auch ganz herzlich Averell, meinen Pleinen, der immer der Liebste von euch war.

Daraufhin gibt es natürlich wieder Streit zwischen den Brüdern, und Ende wird Averell, der sich in der Liebe seiner Mutter genüsslich sonnt, jäh von seinen beiden älteren Brüdern mit einem lautstarken „Plappe Pleiner“ unterbrochen.

Ich kann nicht sagen, warum sich diese Szene mir so eingebrannt hat, und die Tatsache, dass ich sie hier auch nur unvollständig aus meiner Erinnerung wiedergebe, zeigt, dass es sehr lange her ist, dass ich Lucky Luke gelesen habe.

[...]

Quelle: http://wub.hypotheses.org/109

Weiterlesen

Totschlagargumente

Vor längerer Zeit erzählte mir jemand einen Witz vom kleinen Fritzchen:

Lehrerin: „Vier Krähen sitzen auf dem Zaun, der Bauer kommt und erschießt eine, wie viele sind noch da?“

Fritzchen: „Keine.“

Lehrerin: „Kannst Du die Antwort erklären?“

Fritzchen: „Eine ist tot, die anderen sind weggeflogen, keine bleibt übrig.“

Lehrerin: „Nun, die Antwort ist falsch, aber ich mag die Art, wie Du denkst.

[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/96

Weiterlesen

Höflichkeit

Vor einigen Wochen war ich in Moskau, wo ich an der jährlichen Konferenz zu Ehren des vor 12 Jahren verstorbenen Linguisten Sergei Starostin teilnahm. Das letzte Mal war ich 2013 in Russland gewesen, weshalb es vielleicht nicht ganz so verwunderlich klingt, dass ich mich erst einmal wieder daran gewöhnen musste, wieder in Russland zu sein. Während mir die Stadt und die Atmosphäre auf der Straße sofort wieder vertraut waren, war ich über die bis an Unfreundlichkeit grenzende Reserviertheit der Verkäufer in den Geschäften, vor allem den Supermärkten, zu Beginn überrascht, bis mir klar wurde, dass sich die Gesellschaft in diesem Punkt einfach treu geblieben ist. Ob in Sankt Petersburg, in Moskau, oder Jekaterinburg: eine königliche Behandlung als Kunde sollte man lieber nicht erwarten. Der Vorteil daran ist natürlich, dass man auch nicht auf Schritt und Tritt von freundlich lächelnden Verkäufern verfolgt wird, wie in den Vereinigten Staaten, aber auch zunehmend in Geschäften in Deutschland, insbesondere in Treckinggeschäften, wo man sich nicht mal fünf Minuten allein umsehen kann, ohne von den Verkäufern gefragt zu werden, ob sie einem helfen könnten.

Welche Rolle wir als Kunden in unterschiedlichen Ländern einnehmen, sei es die des Bettlers oder die des Kaisers, ist sicherlich grundlegend kulturell bedingt und oftmals auch aus historischen Situationen entstanden. Obwohl ich mich erst mal wieder daran gewöhnen musste, habe ich mich selbst in der Anonymität gewährenden Reserviertheit russischer Verkäufer meist wohler gefühlt als in Situationen, wo Menschen mich aus Freundlichkeit zum Smalltalk zwingen. Aber das ist natürlich auch Geschmackssache, oder oftmals auch einfach eine Typenfrage.



[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/79

Weiterlesen

Alles isst gut!

Als ich vor Kurzem in Singapur war, konnte ich den kulinarischen Verlockungen der Hawker Center natürlich nicht entgehen, und gönnte mir eine Ladung Xiaolongbao in einem Laden mit dem Namen hǎo wèi lái 好味来. Erst beim Essen fiel mir das Wortspiel im Namen der Imbissbude auf: hǎo wèi lái heißt wörtlich so viel wie „Guter Geruch kommt“, klingt aber genau so, wie „Gute Zukunft“, was dann 好未来 geschrieben würde. Der Unterschied liegt nur in der zweiten Silbe, die 未 „nicht“ (allgemeine Negation) oder 味 geschrieben wird, also einmal ohne und einmal mit dem Element 口 auf der linken Seite, das für sich genommen kǒu ausgesprochen wird und „Mund“ heißt im Chinesischen. Der Logik der chinesischen Schriftbildung folgend, ist das Zeichen 味 zu interpretieren als „wird ausgesprochen wie wèi 未 „nicht“, hat aber was mit kǒu 口 „Mund“ zu tun. Die Zukunft, das ist im Chinesischen das „Nicht-Kommt“, denn wèi heißt „nicht“ und lái 来 heißt „kommen“, also das, was noch nicht eingetroffen ist.

Nachdem ich das Sprachspiel verstanden hatte, amüsierte ich mich eine ganze Weile darüber, wobei ich nicht sagen kann, ob es mein Stolz war, den Witz entdeckt zu haben, oder dass ich den Witz wirklich lustig fand. Ich fragte mich dann, wie man das wohl am besten ins Deutsche übersetzen könnte, und scheiterte kläglich. Alles, was mir einfiel war die Überschrift zu diesem Blogpost, die sich für den Namen einer Imbissbude leider nicht so gut anbietet, wie das chinesische Original. Dann fielen mir die vielen schrecklichen Namen für Frisörläden in Deutschland ein, die sich ja in ähnlichen Kalauern suhlen.

[...]

Quelle: https://wub.hypotheses.org/64

Weiterlesen