Schrift als Akteur – Expressionistische Zwischentitel in „Das Cabinet des Dr. Caligari“


Ein Beitrag von Caroline Lura

 

“Du musst Caligari werden”vier kleine Worte machtvoller Suggestion. Anfang des Jahres 1920 in Berlin konnte man sich ihnen kaum entziehen. An Litfaßsäulen, Reklamewänden, in U-Bahnhöfen – überall lachte sie einem entgegen: diese rätselhaft-mysteriöse Aufforderung in expressiver Gestaltung (Abb. 1).

Abb. 1: Kino-Anzeige (1920) zu “Das Cabinet des Dr. Caligari”
Entwurf v. Otto Arpke u. Erich Ludwig Stahl
Quelle: cinegraph.de

Schrift und Bild gelten ja generell eher als disparate Medien. Schrift fixiert, vornehmlich Sinn. Das Bild dagegen bannt Sinnlichkeit und – insbesondere als Film – Dynamik und Bewegung. Und während die Schrift ins Korsett normierter Buchstaben in ihrer linearen Anordnung geschnürt ist, erscheint das Bild in seinen Ausdrucksformen vollkommen frei.

Im Stummfilm finden sich die scheinbar konträren Medien vereint. In Form von Zwischentiteln tritt Schrift dabei meist sorgfältig getrennt von den bewegten Bildern auf. Als statischer Fremdkörper und Zäsur im Fluss der Bilder. Das Auge stolpert: Von der Verfolgung dynamisch sinnlicher Körper abrupt ins Lesen starrer Zeichenketten. Anders jedoch in „DAS CABINET DES DR. CALIGARI“ (1920, Regie: Robert Wiene). Neu und aufsehenerregend war neben der expressionistischen Gestaltung des Stummfilms vor allem auch sein innovativer Schrifteinsatz. Wie das Plakat zum Film bereits andeutet: Hier wird die Schrift zum Bild und das Bild zum Zeichen.

 

Technischer Vorspann: Zur Restaurierung

Fast 20 Jahre nach der letzten Restaurierung (1984) feiert “DAS CABINET DES DR. CALIGARI“ in der restaurierten Fassung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung (Wiesbaden) und des Restaurierungslabors L’Immagine Ritrovata (Bologna) auf der BERLINALE 2014 Premiere. Die digitale Restaurierung in 4K-Auflösung greift einerseits auf das Kameranegativ aus dem Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin zurück und zieht andererseits alle erhaltenen historischen Kopien aus Filmarchiven weltweit heran.

Was die Zwischentitel anbetrifft, galt lange die 16-mm-Kopie der Deutschen Kinemathek als die einzige Überlieferungsquelle. Es stellte sich jedoch heraus: Das Kameranegativ enthält die meisten Titel als Blitztitel, was eine wesentlich verbesserte Ausgangslage im Vergleich zu den vorherigen Restaurierungen darstellte. Dem Kameranegativ entnommen, wurden die Blitztitel entsprechend ihrer Länge in der ausgefahrenen 16-mm-Kopie verlängert. Da dabei zunächst ein statisches Einzelbild entstand, wurde die Bewegung eines Filmstreifens, der durch einen Projektor läuft, im Nachhinein digital simuliert. Zudem wurde noch die Kornstruktur des Kameranegativs auf die Titel gelegt, sowie das leichte Dichteflackern.

Dynamisch dramatische Zwischentitel

Zusammen ergeben die Texte aus insgesamt 81 Schrifttafeln in „CALIGARI“ etwa eine viertel Stunde Lesezeit, was gemessen an der Gesamtlänge des Films knapp 20% des Filminhalts ausmacht. Besonders im ersten Teil – in der Entfaltung des Plots – wechseln Zwischentitel und Handlungsszenen einander häufig ab. Die Länge der Zwischentitel reicht von obskur-expressiven Einwortsätzen, wie z.B. „Nacht“, „Warten!!!“ und „Er₋ ₋ ₋“, bis hin zu längeren Texten, die, um sie vollständig lesen zu können, von unten nach oben als Rolltitel über die Leinwand laufen. Inhaltlich lassen sich 3 Arten von Zwischentiteln unterscheiden:

  1. Titel mit struktureller Funktion (z.B. Angaben zur Exposition wie „Nacht“, „Heimweg“, „Nach dem Begräbnis“ etc.),

  2. Titel in Form von Kommentaren (z.B. als narrative Erläuterungen wie „In dieser Nacht geschah das erste einer Kette geheimnisvoller Verbrechen“)

  3. Titel mit Dialogpartien

Die Dialog-Zwischentitel, die mit Abstand den größten Teil ausmachen, zeigen oft ein “verschriftlichtes Sprechen”: Gedankenstriche, angedeutete Sprechpausen (“…”), pseudophonetische Schreibweisen (“Herrrrrreinspaziert!”) – hiermit wird Mündlichkeit imitiert. Nur ein erstes Indiz für die angestrebte “Lebendigkeit” der Schriftzeichen in CALIGARI.

Weiteres Auszeichnungsmerkmal der Zwischentitel ist ihre markante graphische Gestaltung. Die Buchstaben in ihren gezackten, unruhigen Formen greifen den Stil der skurril-expressiven Gesamtgestaltung des Filmes auf: Die schräge, kantige Schrifttype entspricht den schiefen Hausfassaden der Setbauten, den aufgemalten Fluchtlinien und ruckartigen Bewegungsabläufen (Abb. 2).

 

Setbauten

Abb. 2: Cesare entführt Jane, Standfoto
(Quelle: Deutsches Filminstitut – DIF, Frankfurt am Main)

Zwischentitel

Abb. 3: Zwischentitel kurz vor Ende des V. Aktes
(Quelle: Wikimedia Commons)

Neben der expressiven Schrifttype fällt auch der Hintergrund der Texte ins Auge. Oft finden sich hier abstrakte Formelemente, die – dem Designansatz der Buchstaben folgend – die Aufmerksamkeit auf die Materialität der Zwischentitel lenken (Abb. 3). Damit steht dann nicht mehr nur die semantische Funktion, sondern auch die sinnlich-materielle Qualität der Zeichen und Formen im Fokus der Wahrnehmung, sodass es den Zwischentiteln gelingt, auch jenseits der Vorstellungsebene der Wörter eine spannungsgeladene und anregende Stimmung zu vermitteln.

Schrift und Bild konvergieren– zum einen in den Schriftzeichen, die zum expressiven Bild werden, zum anderen indem Hintergrund und Schrifttype miteinander korrespondieren und eine bildhafte Wahrnehmung über den wörtlichen Informationsgehalt hinaus stimulieren.

Hinzu kommt noch ein weiteres, spontan eingesetztes Betonungsmittel: ein Flackern des bemalten Hintergrunds. Vor allem bei längeren Zwischentiteln wird dieser Lichteffekt eingesetzt, um den im Vergleich zum szenischen Bild wenig bewegten Zwischentiteln Dynamik und Dramatik zu verleihen – sprich: den Effekt filmischer Bewegung zu simulieren.

Die Zwischentitel in „CALIGARI“ kommunizieren somit auf allen drei medialen Ebenen: schriftlich, bildlich und bewegt-bildlich (filmisch).

 

“Angehende Schriftzeichen” – Fusion von Text und Filmbild

Höhepunkt der Schrift-Bild-Konvergenz – und mit eine der wichtigsten Szenen im Film – ist die mittels eines „Stopptricks“ realisierte Sequenz, in der der Direktor der Irrenanstalt (a.k.a. Dr. Caligari) von seinen Wahnvorstellungen in Form der Schriftzüge “Du musst Caligari werden” geradezu körperlich verfolgt wird.

 

Video: Du musst Caligari werden – Sequenz

(Quelle: Imaginations – Journal of cross-cultural image studies)

Überall sieht er sie projiziert, und wie die Hebel einer Schreibmaschine fallen die Wörter auf den Direktor ein, treiben ihn vor sich her. „Du musst Caligari werden“ – buchstäbliche Prägung in Form animiert-agierender Schriftzeichen. Zunächst im nächtlichen Himmel, dann auf der Außenwand seiner Villa und der Verästelung des Baumes davor; und schließlich verteilt sich im Vordergrund des Bildes der Name „Caligari“ in einer Art scripturalem Crescendo, an dessem Ende dem Direktor seine neue Identität im wahrsten Sinne des Wortes eingeschrieben wird. Die „Caligariwerdung“ des Anstaltleiters erzeugt eine Fusion von Schrift und Bewegungsbild, die in der Filmgeschichte ihresgleichen sucht.

 

Weiterführende Literatur:

  • Christoph Kleinschmidt: Intermaterialität – Zum Verhältnis von Schrift, Bild, Film und Bühne im Expressionismus, transcript Verlag, Bielefeld, 2012

  • Ulrich Johannes eil: Der caligarische Imperativ. Schrift und Bild im Stummfilm, Pandaemonium ger. no.14 São Paulo 2009, online: http://www.scielo.br/scielo.php?script=sci_arttext&pid=S1982-88372009000100002

  • Rudolf Kurtz: Expressionismus und Film (1926), Nachdruck der Ausgabe hrsg. v Christian Kiening, Ulrich Johannes Beil, Chronos Verlag, Zürich, 2007

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: http://filmeditio.hypotheses.org/211

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Robert Siodmak Retrospektive: Kopienrückschau (1) – Weimarer Republik

Die letzte umfangreiche Robert Siodmak Retrospektive in Deutschland vor der Retrospektive im Zeughauskino im Deutschen Historischen Museum (01. April bis 29. Juni 2014) fand anlässlich der Berlinale 1998 statt. In keiner Werkgruppe sind ihre Nachwirkungen so sichtbar wie bei den Filmen Siodmaks, die in der Weimarer Republik entstandenen sind. Für die Berlinale-Retrospektive wurden mehrere Filme restauriert oder es wurden neue Kopien hergestellt die nun auch im Zeughauskino gezeigt werden konnten:

Menschen am Sonntag: Kopie der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen; 1997/98 restauriert von der Deutschen Kinemathek und dem Nederlands Filmmuseum (heute EYE), auf Basis einer holländischen Nitrokopie und Materialien aus weiteren Archiven; vgl. dazu: MENSCHEN AM SONNTAG (1929/30) – Eine Fallstudie.

Abschied: Kopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung; 1998 neu vom Originalnegativ gezogen.

Jim, der Mann mit der Narbe: Kopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung; 1998 vom Originalnegativ gezogen und ergänzt um den aus einem Dup-Positiv aus den Beständen des Staatlichen Filmarchivs der DDR (SFA) stammenden ersten Akt, der im Originalnegativ nicht überliefert ist.

Stürme der Leidenschaft in der mit Musik unterlegten stummen italienischen Verleihfassung: Kopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung; 1998 von einem Dupnegativ der italienischen Fassung aus dem Bestand der Fondazione Cineteca Italiana gezogen. Von der deutschen Fassung von Stürme der Leidenschaft ist in der Deutschen Kinemathek ein Fragment überliefert, es stammt aus der Sammlung Fidelius und wurde ebenfalls 1998 umkopiert.

Brennendes Geheimnis: Kopie des Bundesarchiv-Filmarchiv; 1998 wurde eine Neukopierung in Auftrag gegeben, auf dem Festival lief aber eine ältere Kopie aus den Beständen des SFA. Im Zeughauskino konnte nun eine sehr schöne und offenbar kaum gespielte Kopie gezeigt werden, vermutlich die 1998 in Auftrag gegebene.

Die Kopien von Quick (DIF) und Voruntersuchung, von denen leider keine restaurierten Fassungen existieren, stachen umso mehr heraus. Vor allem im Fall von Voruntersuchung wäre eine Restaurierung sehr wünschenswert. Ein oberflächlicher Vergleich der Benutzungskopien der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und des Bundesarchiv-Filmarchivs legt nahe, dass beide vom selben schlechten Ausgangsmaterial und nicht allzu sorgfältig umkopiert wurden. Vor allem die Kopie des Bundesarchivs ist teilweise flau, beide haben mitunter einen stark körnigen Dup-Charakter mit einem Hang zum Ausbrennen, wobei die Kopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung noch ein wenig kontrastreicher ist und letztendlich auch im Zeughauskino gespielt wurde.

Mit Kopien in gutem Zustand konnten auch die französischen Sprachversionen von Voruntersuchung (Autour d’une enquête) und von Stürme der Leidenschaft (Tumultes) präsentiert werden.

Autour d’une enquête: Kopie der Archives françaises du film du CNC (Bois d’Arcy), vermutlich in den 1990er Jahren von einem gut erhaltenen Nitromaterial umkopiert.

Tumultes: Sendekopie der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung; als Vorlage für eine Fernsehausstrahlung wurde die Kopie etwas heller kopiert als gewöhnlich, dafür war sie nahezu ungespielt.

Quelle: http://filmeditio.hypotheses.org/192

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Ein filmographisches Mysterium: Ins Blaue hinein

Das Regiedebüt des Kameramannes Eugen Schüfftan, das Leinwanddebüt von Theo Lingen: Ins Blaue hinein heißt dieser Film. Entstanden ist er wahrscheinlich 1930, doch eigentlich weiß man nahezu nichts. Eine 35minütige Tonfilmskizze im Stil von Menschen am Sonntag (1930) an dem Schüfftan als Kameramann beteiligt gewesen war; wahrscheinlich ebenso wie dieser als privat finanziertes Experiment in Angriff genommen, um zu beweisen, dass sich Tonfilm und Außenaufnahmen nicht ausschließen. Öffentlich aufgeführt wurde Ins Blaue hinein womöglich erst zur Berlinale 1998 – umkopiert von einer Nitrokopie, die ein Schweizer Privatsammler im Centre National de la Cinématographie, Service des Archives du Film, Bois d’Arcy, deponiert hatte. Martin Koerber hatte den Filmtitel dort auf einer Liste ungesicherter Nitromaterialien entdeckt, den Film gesichtet, er „war gleich verliebt – ein kleines, unbekümmert frisches Experiment mit Bildern und Tönen, zugleich ‘Querschnittsfilm’ und Schauspielerübung, musikalische Komödie und Kamera-Manifest“ (Koerber). Recherchen ergaben: nichts. Keine Zensurkarte, kein Hinweis in den Zensurlisten oder der zeitgenössischen Presse. Eine Uraufführung in Deutschland ist nicht nachweisbar. Hinweise zur Entstehung und Geschichte dieses Films werden weiterhin gerne entgegengenommen.

Am Freitag dem 4. April 2014 wird die 35mm Kopie der Deutschen Kinemathek im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin gezeigt. Notfalls kann man sich den Film auch auf der bei Criterion erschienenen DVD oder Blu-ray People on Sunday anschauen, der Ins Blaue hinein als Bonusmaterial beiliegt.

Ins Blaue hinein, 1930 (?)

Regie: Eugen Schüfftan, Buch: Dr. Herbert Rona, Kamera: Laszlo Schäffer, Ton: Franz Schröter, Musik: Harry Ralton, Musikalische Leitung: Alfred Strasser, Regieassistenz: Dr. Herbert Rona, Darsteller: Toni van Eyck, Karl Balhaus, Aribert Mog, Theo Lingen, Wolfgang Staudte, Franz Stein, Werner Scharf, Alice Iversen, Helene Roberts, Produktion: Prisma-Produktion, Tonsystem: Lignose-Hörfilm, Tonkopie: Fitiko.

Kopie: Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, 966 m

Quelle: http://filmeditio.hypotheses.org/177

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Die Gstettensaga: The Rise of Echsenfriedl

Könnte spannend werden: Montag, 23:45 sendet ORF III Monochroms Film Die Gstettensaga: The Rise of Echsenfriedl.

Der Programmbeschreibung zufolge handelt es sich um eine Sci-Fi-Fantasy-Horror-Groteske über die Mediensphäre der Nachnachkriegszeit:

Die zunehmenden Spannungen zwischen den beiden letzten Supermächten -- China und Google -- eskalieren im frühen 21. Jahrhundert, und enden in der globalen Feuersbrunst der "Google Wars". Doch ehe man sich versieht, erhebt sich eine durchaus neue Welt aus dem Schutt der alten: Die Megacity Schwechat, der größte Zersiedlungsraum in den Ausläufern dessen, was von den Alpen übriggeblieben ist. Dort leben und arbeiten Fratt Aigner und Alalia Grundschober. Fratt und Alalia kennen sich nicht. Bis zu jenem schicksalsträchtigen Nachmittag im Verlagshaus des Medienmoguls Thurnher von Pjölk. Hier beginnt eine Reise voller Gefahren, Kreaturen und prekärer Arbeitsverhältnisse.

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/714907924/

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Der “Marsch der Freiwilligen” 義勇軍進行曲: Vom Titelsong eines Films zur Nationalhymne

Fēngyǔn érnü 風雲兒女 ["Sons and Daughters in a Time of Storm" oder "Children of Troubled Times"] aus dem Jahr 1935 erzählt die Geschichte eines Intellektuellen, der sein eher ‘westliches’ Leben aufgibt, um sich im Kampf gegen Japan zu opfern.  Die Handlung basiert auf einer Geschichte von Tian Han  田漢, der seit Anfang der 1930er Mitglied der Kommunisitischen Partei Chinas war, und der kurz nach der Veröffentlichung dieser Geschichte verhaftet worden war. Das Drehbuch schrieben  Tian Han 田漢 (1868-1968) and Xia Yan 夏衍 (1900-1995). Regisseur dieser Produktion der Diantong Film Company (電通影片公司) war Xu Xingzhi. In den Hauptrollen sind Yuan Muzhi 袁牧之 (1909-1978) und Wang Renmei 王人美 (1914-1987) zu sehen. Die Musik zum Film schreib Nie Er 聶耳 (1912-1935).

Fengyun ernü 風雲兒女 (1935)

Fengyun ernü (1935)
Internet Archive

Der Film wäre nicht weiter bemerkenswert, ähnliche Plots finden sich im linken Film der 1930er häufiger, wäre da nicht der Titelsong, gesungen von Yuan Muzhi und Gu Menghe: Yìyǒngjūn Jìnxíngqǔ 義勇軍進行曲 ["Marsch der Freiwilligen", "March of the Volunteers"]. Das Lied, das  in einem Theaterstück erstmals verwendet wurde und 1935 auf einem Album mit anderen patriotischen Musikstücken und Liedern veröffentlicht erschien, wurde gleichsam zur Hymne des Widerstands gegen die japanische Aggression.[1]

Im Februar 1949, kurz nach der Besetzung Beijings durch kommunistische Truppen erklang der “Marsch der Freiwilligen” als (inoffizielle) Hymne bei einer Konferenz in Prag. Im Sommer 1949 wurde im Zuge der Vorbereitung auf die Gründung der Volksrepublik China ein parteiinterner Ausschuss eingesetzt, um eine Hymne auszuwählen. Unter zahlreichen Vorschlägen fand sich auch der “Marsch der Freiwilligen”. Dieser Vorschlag wurde bei der ersten Plenarsitzung der Politischen Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes (Zhōngguó rénmín zhèngzhì xiéshāng huìyì 中国人民政治协商会议) am 27. September 1949 angenommen.[2]

Der ursprüngliche Text wurde wiederholt verändert, um ihn den politischen Verhältnissen anzupassen. In den ersten Jahren der Kulturrevolution wurde die Hymne nicht verwendet, da Tian Han eines der ersten Opfer der Kulturrevolution geworden inhaftiert worden war.[3]. Ab 1969 wurde der “Marsch der Freiwilligen” wieder als Hymne verwendet, 1978 legte der Fünfte Nationale Volkskongress das Lied wieder als Hymne fest, allerdings mit leicht verändertem Text. Zuletzt hob eine Resolution der 5. Session des Fünften Nationalen Volkskongresses vom 4. Dezember 1982 hob die Änderungen auf[4] und stellte die ursprüngliche Version von Tian Han wieder her.

Seit 2004 ist die Hymne in der Verfassung der Volksrepublik China festgeschrieben:

Article 31 The title of the fourth chapter of the Constitution, which reads “The National Flag, the National Emblem and the Capital”, is revised to read “The National Flag, the National Anthem, the National Emblem and the Capital”. And one paragraph is added to Article 136 of the Constitution as the second paragraph, which reads, “The national anthem of the People’s Republic of China is the March of the Volunteers”.[5]

 

  1. S. Chang-Tai Hung: “The Politics of Songs: Myths and Symbols in the Chinese Communist War Music, 1937-1949″. In: Modern Asian Studies , Vol. 30, No. 4, Special Issue: War in Modern China (Oct., 1996) | DOI: http://dx.doi.org/10.1017/S0026749X00016838, 901-929, hier S. 901-903.
  2. S. “Resolution on the Capital, Calendar, National Anthem and National Flag of the People’s Republic of China”  (1949).
  3. In dieser Zeit wurde Dōngfāng Hóng 東方紅 ["Der Osten ist rot"] als inoffizielle Hymne verwendet.
  4. AsianLII: Resolution of the Fifth Session of the Fifth National People’s Congress on the National Anthem of the People’s Republic of China (Adopted on December 4, 1982).
  5. “Amendments to the Constitution of the People’s Republic of China (Adopted at the Second Session of the Tenth National People’s Congress and promulgated for implementation by the Announcement of the National People’s Congress on March 14, 2004).”

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1269

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Das Leben einer Kaiserin im Film: Wu Zetian 武則天 (1939/1949/1963)

Die Kaiserin Wu – eigentlich  Wǔ Zétiān 武則天 (625-705, Wǔ Zhào 武曌 690-705) ist eine der umstrittenen Persönlichkeiten der chinesischen Geschichte – und eine, die immer wieder in der Literatur und in Filmen thematisiert wird.

Wǔ Mèiniáng 武媚娘 war die Tochter eines Kaufmanns, die 637 als Konkubine an den kaiserlichen Hof des Tang Taizong kam. Sie wurde Konkubine des Kronprinzen, des späteren Tang Gaozong. Durch Intirgen und Mordkomplotte beseitigte sie ihre Gegner, um zur Haupfrau aufzusteigen. Nach dem Tod des Kaisers, den sie selbst über Jahre vergiftet hatte, kam einer ihrer Söhne auf den Thron – denn Frauen können nicht das ‘Mandat des Himmels’ empfangen.
Nach mehreren Revolten, die niedergeschlagen wurden, setzte sie sich 690 mit Hilfe buddhistischer Mönche selbst als Wǔ Zhào 武曌 auf den Thron. Ihre Herrschaft war ein ständiger Kampf gegen mögliche Konkurrenten. Durch Krankheit geschwächt, konnte sie ihre Gegner nicht mehr bekämpfen – und wurde Opfer einer Palastintrige der Ex-Kaiserin Wei, der Ehefrau des Zhongzong). Die Regierung der Wǔ Zhào 武曌 war geprägt von  ausgedehnter territorialer Expansiongroßer territorialer Expansion – einerseits nach Zentralasien, andererseits wurde der nördliche Teil der koreanischen Halbinsel Teil Chinas.

Wǔ Zétiān 武則天 wurde in chinesischen Chroniken in einem stark negativen Licht dargestellt. Jüngere Forschungen zeichnen jedoch ein differenierteres Bild.[1]

Empress Wu (1939)

Empress Wu (1939) | Internet Archive

Das Leben der Wǔ Zétiān 武則天 ist Thema zahlreicher Romane chinesischer und westlicher Autorinnen und Autoren,[2] sowie zahlreicher chinesischer  Fernsehserien und Filme.

Der wohl erste dieser Filme entstand 1939: Wǔ Zétiān 武則天 (1939) von Regisseur Fāng Pèilín 方沛霖 mit Violet Koo (Gù Lánjūn  顾蘭君, 1917–1989) in der Titelrolle.
Der Film zeichnet den Weg der Wǔ Zétiān 武則天 von der Konkubine zur Herrscherin nach. Der Film, der im von Japan besetzten Shanghai entstand, war für das Publikum in den von Japan kontrollierten Teilen Chinas bestimmt.[3]

Süäter entstanden zwei weitere Filme mit dem Titel Wǔ Zétiān 武則天 : 1949 der Streifen Wǔ Zétiān 武則天 ["Empress Wu Zetian" mit  Hung Sau-man [kǒng Xiùyún 孔繡雲]) in der Hauptrolle[4] und 1963 Wǔ Zétiān 武則天 ["The Empress Wu Tse-tien"] aus der Produktion des Shaw Brothers Studio mit Li Li-hua [Lǐ Lìhuá 李麗華] in der Titelrolle[5].

  1. S. Dora Shu-Fang Dien, Empress Wu Zetian in Fiction and in History: Female Defiance in Confucian China. (Hauppauge [NY]: Nova Science Publishers, 2003).
  2. U.a.: José Frèches: L‘impératrice de la soie. I La Toit du Monde, II Les Yeux de Buddha, III: L’Usurpatrice (2003), dt. Die Seidenstraße. I. Die Händlerin, II. Die Färberin, III. Die Herrscherin (2003), Shan Sa, Impératrice (2003),  Lin Yutang: Lady Wu. A true story(1957).
  3. Kinnia Shuk-ting Yau: Japanese and Hong Kong film industries : understanding the origins of East Asian film networks (=  Routledge studies in the modern history of Asia, 57; London/New York, N.Y.: Routledge 2010), 20.
  4. “武則天 (1949)” in der Hong Kong Movie Database.
  5. Wǔ Zétiān 武則天 ["The Empress Wu Tse-tien"] in der Internet Movie Database.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1188

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Politik und Agitation im Film: The Big Road 大路 (1934)

Dàlù 大路 ['The Big Road", "Breiter Weg"] von Sun Yu 孫瑜 entstand 1934, in der ersten Phase des Krieges gegen Japan.Der Film, in dem  Jin Yan and Li Lili die Hauptrollen spielen, verbindet lyrische Darstellung mit sozialen und politischen Themen. Der Film kommt ohne Dialoge aus, doch die Akteure singen bei der Arbeit am Straßenbau. Die besonderen Bildsprache soll in einer Zeit, in der der Krieg immer größere Teile Chinas erfasst, Mut machen und den Glauben an die Zukunft festigen[1].

The Big Road (1934)

The Big Road (1934)
Internet Archive

Der Kampf gegen den Feind führt sechs junge Arbeiter, die ihre Arbeit in Shanghai verloren hatten, und zwei junge Frauen aus dem Dorf zusammen Die sechs Arbeiter, die an einer strategisch wichtigen Autobahn arbeiten, stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten: Zhang ist eher melancholisch und einzelgängerisch, Luo ein Träumer, Jin trotz seiner schwierigen Kindheit Optimist, Zhangda ist körperlich stark, Xiaoliu war ein Kleinkrimineller, der zur Vernunft gebracht wurde, und Zheng war Student, bevor er vor den Japanern aus der Mandschurei fliehen musste. Moli, die ambitioniertere der beiden jungen Frauen, begegnet den sechs auf freundschaftlicher Ebene, während sich Dingxiang, die ehr schüchtern ist, in den Träumer Luo verliebt.
Als die Japaner immer näher an das Dorf herankommen, versucht ein Verräter, die Arbeit an der Straße zu behindern. Die sechs Arbeiter leisten Widerstand, werden aber gefangen gesetzt und gefoltert.
Mit Hilfe der beiden Frauen können die sechs entkommen und weiterarbeiten. Nach der Fertigstellung der Swiedertraße kommen die sechs Arbeiter und Moli bei einem Bombenangriff um. Nur Dingxiang überlebt, sie träumt, dass ihre Freunde wiederaufstehen und China in eine neue Zukunft führen.

Dàlù gehört zu den bedeutendsten Filmen der 1930er[2] und wurde 2004 unter bei den 24. Hong Kong Film Awards in der Liste der 100 besten chinesischen Filme auf Platz 30 gereiht.

  1. Vgl. dazu Stefan Kramer: Geschichte des chinesischen Films (Stuttgart/Weimar: Metzler 1997)  27 f.
  2. S. auch “Retro Review: 《The Big Road》(1935[sic!] in: The Chinese Mirror. A Journal of Chinese Film HistoryA <Abgerufen am 30.11.2013>.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1177

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Glanz und Elend im Shanghai der 1930er: “Daybreak” 天明 (1933)

Der Stummfilm “Daybreak” – Tiānmíng 天明 (1933) ist ein typisches Beispiel für die sozialkritischen Filme der  Liánhuá yǐngyè gōngsī 聯華影業公司 [Lianhua Film Company].

Daybreak (1933)

Daybreak (1933) | Internet Archive

Ling Ling (dargestellt von Li Lili 黎莉莉 (1915–2005) kommt mit ihrem Freund (dargestellt von Gao Zhanfei 高佔非) aus einem vom Krieg zerstörten Fischerdorf auf der Suche nach einem besseren Leben in die Metropole Shanghai. Weitab vom Glanz am Bund, den sie anfangs staunend besichtigt, erleben sie schnell die weniger glamourösen Seiten. Während er in revolutionäre Kreise gerät, landet sie als Arbeiterin in einer Fabrik. Nach einer Vergewaltigung sucht Ling Ling Hilfe bei einem Fremden, der sie allerdings in die Prostitution verkauft. Sie steigt von der einfachen Prostitutierten bald zum gesuchten Call Girl auf und verkehrt dadurch in höheren Kreisen. Mit dem so verdienten Geld unterstützt sie ihre früheren Kollegen aus der Fabrik.
Schließlich verhilft sie ihrem frühren Freund, dem Revolutionär, zur Flucht – wird aber selbst gefangengenommen, zum Tod verurteilt und  hingerichtet.

Regisseur Sun Yu 孫瑜 (1900-1990) kontrastiert idyllische Bilder aus dem Fischerdorf vor dem Krieg und die tristen Verhältnisse in Shanghai. Damit drückt er die Sehnsucht nach im Shanghai der 1930er Jahre verlorenen Werten aus – und die Hoffnung auf eine Erneuerung.[1]

D

  1. Zum Film (und zu Tiyu huanghou/Queen of Sports)  s. Victor Fan: “The Cinema of Sun Yu: Ice Cream for the Eye . . . But with a Homo Sacer.” In:  Journal of Chinese Cinemas 5, 3 (Nov. 2011): 219-52. DOI: http://dx.doi.org/10.1386/jcc.5.3.219_1.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1115

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