Der Rundumblick auf die Geschichte

 

Es galt als Dinosaurier der Massenunterhaltung, als Beginn der Kulturindustrie und der Kinematisierung des Blicks. Nie gänzlich tot gewesen, feiert das Panorama seit einigen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance. Vor allem sind es Zeitreisen in die Vergangenheit, die ein Massenpublikum anziehen. Woher rührt das enorme Interesse an diesem „History Surround-System“?

 

Auf und Ab der Panoramen

Von Dolf Sternberger zum Inbegriff des 19. Jahrhunderts erhoben, hat das Panorama in den letzten 20 Jahren Forschungskonjunktur. Seit 1992 befasst sich das International Panorama Council in jährlichen Konferenzen mit historischen und zeitgenössischen Formen von Panoramabildern. Einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland wurde 1993 das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle präsentiert. Nur wenige der monumentalen Stadtansichten, Landschaftsbilder und historische Schlachtenszenerien aus dem „langen 19. Jahrhundert“ sind heute noch erhalten. Film und Fotografie sorgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das (vorläufige) Ende dieses visuellen Massenmediums. Mangelndes Besucherinteresse und sinkende Renditen führten häufig zu Abbau und Entsorgung. Neue Medien steigerten den transitorischen Illusionseffekt und sprachen den Betrachter intensiver an als die an das Präsentationsgebäude gebundenen, hermetischen Wahrnehmungs- und Erlebnisräume der Rundbilder. Doch neuerdings finden die historischen Panoramen wieder ihr Massenpublikum: Nach dem nicht unumstrittenen Umzug des Innsbrucker Riesenrundgemäldes aus der historischen Rotunde in einen musealen Neubau am Bergisel besuchten im Eröffnungsjahr 2011 in nur fünf Monaten bereits 100 000 BesucherInnen das „Tirol Panorama“.1

Panorama und Propaganda

Im 19. Jahrhundert waren die Rundbilder ein visuelles Medium im Übergangsfeld von Kunst, Bildungsvermittlung, Spektakel und – durch das beliebte Sujet der Schlachtendarstellungen – Geschichtspropaganda. Seine Wiederbelebung begann zunächst in autoritären Gesellschaftssystemen, z. B. in Ägypten, im Irak, in Nordkorea, Russland oder in China, wo seit dem Jahr 2000 zehn neue Panoramabilder2 zu historischen Schlachten der 1940er und 1950er Jahre entstanden sind. In diesen Ländern fungiert es als Medium der Verherrlichung staatspolitisch und nationalhistorisch bedeutsamer Schlachten und zur Förderung nationaler Einheit. Anfang 2009 wurde auch in Istanbul auf Initiative von Recep Tayyip Erdogan ein neues Riesenrundbild eröffnet. Mit großem Bombast setzt es auf 2300 m² die Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 ins Bild. Als ein weiterer Baustein in der Geschichtspolitik der AKP legitimiert es das Selbstverständnis der Türkei als muslimischer Staat. Dutzende von Bussen mit Schulklassen fahren dort täglich zur patriotisch aufgeladenen Geschichtsstunde vor.3

Gegenbewegung zur Bilderflut

Mit staatspolitischer Propaganda und sozialistischem Realismus haben Yadegar Asisis in Deutschland präsentierte Panoramabilder nichts zu tun. 5 Millionen Menschen haben die illusionären Bildräume seit 2005 besucht. In den ehemaligen Gasometern in Dresden und Leipzig und in temporär errichteten Rotunden inszeniert Asisi mit seinen „Panometern“ Immersionserlebnisse in neuen Dimensionen – Reisen durch Naturräume (Mount Everest, Amazonien) und durch die Zeit (Rom 312; Dresden – Mythos der barocken Residenzstadt; Pergamon; Die Mauer – und seit August 2012, Leipzig 1813). Überraschung, Staunen, Bewunderung für die technische Perfektion der Täuschung und das ästhetische Spannungsverhältnis zwischen Inszenierung und Wirklichkeit ziehen BesucherInnen heute wie damals an. Gleichzeitig unterscheiden sich mediale Wahrnehmungen der Betrachter des 21. Jahrhunderts zweifellos von den Sehgewohnheiten der BesucherInnen des 19. Jahrhunderts. War es damals die Faszination am mobil gewordenen Blick, scheinen die Panometer eher eine Gegenbewegung zur Bilderflut zu sein: Heute ist es wohl eine verweilende Schaulust am statischen Bild, erzeugt freilich mit modernsten digitalen Medien.

Sammelbehälter „der“ Geschichte?

Als eine Art historisches „Wimmelbild“ ist Geschichte vor allem im alltagsgeschichtlichen Zugriff inszeniert. Die immense Fülle detailreicher Szenerien, u.a. durch Fotoshootings mit Reenactmentgruppen ins Bild projiziert, wird durch die Begrenzung auf einen bestimmten Ort und auf einen historischen Zeitraum bzw. ein historisches Ereignis zusammengehalten. Man kann immer wieder Neues entdecken, ohne dabei die Illusion des Überblicks zu verlieren. Asisi selbst betont, dass seine Panoramabilder künstlerische Interpretationen von Geschichte sind: Bereits die Raumkonstruktion produziert Bedeutung, der Standpunkt des Betrachters wird vom Künstler festgelegt. Gleichzeitig stellt er aber auch fest, dass die Besucher an die Wahrhaftigkeit der Inszenierungen glauben4. Trotz der Polyperspektive des Panoramas also endlich sehen, „wie es eigentlich gewesen ist“? Offenbar wird das vorgetäuschte Authentizitätsversprechen gerne angenommen, korreliert es doch mit der objektivistischen Vorstellung von einer Geschichte.

Erkenntnislücke

Die Geschichtsdidaktik hat sich mit dem Panorama in historischer Perspektive nur wenig, mit dem neuen Boom bislang gar nicht befasst. Ob der den BesucherInnen gerade unterstellte objektive bzw. naive Blick auf die Geschichte nur eine Mutmaßung der Autorin ist, wäre eine lohnende Forschungsaufgabe. Und im Geschichtsunterricht sind die Panoramabilder bereits außerschulische Lernorte, die es unterrichtspragmatisch zu erschließen gilt. Panoramabilder werden hier künftig in die Kategorie „Geschichtsbilder“ mit aufzunehmen sein. Schließlich eröffnen sich auch auf dem Sektor der Geschichtskultur interessante Fragestellungen. Sind doch die Panometer nicht nur ein neues Element der Eventisierung von Geschichte. Sie sind neue Erinnerungsorte, die nicht nur auf Deutschland beschränkt bleiben werden. Für 2015 ist jedenfalls schon ein Panoramabild in Frankreich geplant: „Rouen in der Epoche Jeanne d’Arcs“.

 

 

Literatur
  • Koller, Gabriele (Hrsg.): The Panorama in the Old World and the New, Amberg 2010.
  • Oettermann, Stefan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, New York 1997.
  • Plenen, Marie-Louise: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Basel u.a. 1993.

Externe Links

Abbildungsnachweis
http://www.zeno.org/Ansichtskarten/M/Leipzig,+Sachsen/Panorama?hl=panorama+leipzig (gemeinfrei).

Empfohlene Zitierweise
Bühl-Gramer, Charlotte: Der Rundumblick auf die Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 1, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-135.

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Scheinpluralismus. Oder: Wie ich mir einen Schulbuchbeitrag bastle

 

Das Herzstück deutscher Bildungspolitik ist der Pluralismus. Für das Fach Geschichte gibt es deshalb nicht ein Schulbuch, sondern 41.1 Ideale Voraussetzung für geschichtsdidaktische Prinzipien wie Multiperspektivität – sollte man meinen. Doch weit gefehlt: bei näherem Hinsehen entpuppt sich diese Vielfalt als Scheinpluralismus.

 

Kuba-Krise oder Cuba Libre?

Es werden in den Büchern nicht nur die immer gleichen Bild- und Textquellen benutzt, sondern die Autorentexte folgen zumeist ein und demselben Narrativ, das im Grunde als „Meistererzählung“ charakterisiert werden kann. Die 60er Jahre feiern fröhliche Urständ. Ich will das an einem Beispiel zur Kuba-Krise erläutern. Bei einer Durchsicht der entsprechenden Schulbücher für beide Sekundarstufen des Landes Nordrhein-Westfalen sieht man, dass das Thema „Kuba-Krise“ üblicherweise in das Kapitel zum „Kalten Krieg“ eingegliedert wird und auf einer Schulbuchdoppelseite einen wenig komplexen Autorentext bietet, der die Kuba-Krise als Höhe- und Wendepunkt des Kalten Krieges verständlich macht. Die Auswahl der schriftlichen Quellen lässt sich fast ausschließlich auf die Fernsehansprache Kennedys und den Schriftwechsel zwischen Chruschtschow und Kennedy eingrenzen. Weiterhin befinden sich in fast allen Schulbüchern eine Karikatur mit Chruschtschow und Kennedy und eine Karte, welche die Reichweite der sowjetischen Raketen auf Kuba zeigt. In neueren Werken hat der Aspekt der Geschichtskultur über den Spielfilm „Thirteen Days“ (USA, 2000) Eingang in die Schulbuchkapitel gefunden.

Kennedys Heldenverehrung

Was machen die SchulbuchautorInnen aus diesen Zutaten? Sie verzichten auf die Vorgeschichte der sowjetischen Raketenstationierung und erzählen, wie Kennedy die Welt rettete. Kein Wort über den kubanischen Diktator Batista und seine Unterstützung durch die USA. Kein Wort über die kubanische Revolution und den folgenden Wirtschaftsboykott der Insel durch die USA. Keine Erwähnung der von der CIA gedeckten Invasion der Insel durch Exilkubaner in der Schweinebucht im Jahr 1961. Und – schlimmer noch – kein Wort über die bereits seit 1959 beginnende Stationierung von amerikanischen Atomraketen in Italien und in der Türkei, die Moskau locker erreichen konnten. Die Sowjetunion wird so zum unprovozierten Eindringling in den Vorgarten der USA, den Präsident Kennedy in einem wahren Heldenstück verteidigt und gleich die Demokratie und die westliche Welt mitrettet. Man muss die Politik von Fidel Castro – der übrigens in den Texten auch meistens nicht vorkommt – und des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow nicht bejubeln. Aber man kann versuchen, deren Intentionen und Handlungsoptionen zu verstehen. Stattdessen liefern die Bücher das Kalte-Krieg-Narrativ von den guten Amerikanern und den bösen Sowjets.

Quelle – passend gemacht

Die Quellen werden dazu passend gemacht: Kennedy siegt nach Punkten. Die Karikatur von Chruschtschow und Kennedy wird ausschließlich nach einem SPIEGEL-Artikel vom 7. November 1962 mit der Bildunterschrift „Einverstanden, Herr Präsident, wir wollen verhandeln …“, zitiert.2 Die Karikatur ist aber bereits am 29. Oktober 1962 in der englischen Tageszeitung Daily Mail erschienen, und zwar ohne Bildunterschrift.3 Chruschtschow hatte am 28. Oktober die amerikanischen Bedingungen zum Raketenabzug aus Kuba akzeptiert. Darauf nimmt die Karikatur Bezug, indem der Autor vielleicht sagen will, dass trotz des scheinbaren Endes der Kuba-Krise die nukleare Bedrohung andauern werde und die Möglichkeit der Vernichtung der Menschheit keineswegs ausgeschlossen sei.4 Die Bildunterschrift des SPIEGEL wird aber in den meisten Schulbüchern als „Originaluntertitel“ bezeichnet – weil das so gut zum Text über die Dramatik der Kuba-Krise passt! Das Ringen der beiden Kontrahenten auf der Karikatur wird in die „Thirteen Days“ (14.-28.10.1962) zurückverlegt. Hier findet nicht historische Rekonstruktion statt, sondern erinnerungskulturelle Remediation.

Wir wollen hören, was wir wissen

Bleibt die Frage: Warum ist das so? Oft wird behauptet, Schulbücher werden aus Schulbüchern abgeschrieben, die eine Geschichte wird perpetuiert. Das mag sein. Mir scheint aber eher, dass die Autorentexte ein geschichtspolitisch und erinnerungskulturell erwünschtes Narrativ produzieren, das von Politik, Gesellschaft und Verlagen getragen wird. Wahrscheinlich ist es genau diese Konstellation, der es bei Geschichte auf Genauigkeit und wissenschaftliche Redlichkeit nicht wirklich ankommt. Wir wissen ja schon aus dem Museum, dass sich die BesucherInnen gerne das bestätigen lassen, was sie ohnehin schon wissen. Das dürfte bei Schulbüchern nicht ganz anders sein.

 

 

Literatur
  • Greiner, Bernd: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. München 2010.
  • Frankel, Max: High Noon in the Cold War. Kennedy, Khrushchev, and the Cuban Missile Crisis.
    New York 2004.
  • Kaufmann, Günter: Neue Bücher - alte Fehler. Zur Bildpräsentation in Schulgeschichtsbüchern.
    In: GWU 51 (2000), S. 68-87.
  • Schnakenberg, Ulrich: Die Karikatur im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012.

Abbildungsnachweis

(c) L. G. Illingworth, Daily Mail v. 29. Oktober 1962, keine Bildunterschrift.

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