Musikgeschichte als Sonatenform oder das Ende der Musik als Reprise der Geschichte

Seit meiner Lektüre von Alexander Demandts Metaphern für Geschichte (1978) halte ich gerne und ausgiebig Ausschau nach Sprachbildern für Musikgeschichte. Demandt teilt häufig verwendete Metaphern nach Bedeutungsfeldern ein. Dabei unterscheidet er organische, technische, Jahreszeiten-, Theater- und Bewegungsmetaphern. Als ich kürzlich in Musikzeitschriften aus den 1950er Jahren blätterte, begegnete mir folgende Vorstellung: Die Musikgeschichte verlaufe wie eine Sonatenform. Auch wenn es sich hier strenggenommen um keine Metapher, sondern um einen Vergleich handelt, drängt sich die Frage auf: Wie ist Musikgeschichte als Sonatenform zu verstehen? Haben wir es mit einer Double-function Form1 in ungeahnter Dimension zu tun?

Eine kurze Erläuterung der Sonatenform vorab: Es handelt sich dabei um eine (zumeist) dreiteilige Form, die seit dem 18. Jahrhundert vornehmlich in Sonaten, kammermusikalischen Werken und Symphonien zu finden ist. Idealtypisch – hinsichtlich der Formenvielfalt allerdings notwendigerweise verkürzt – lässt sich das Formmodell so darstellen: Im ersten Teil, der „Exposition“, werden zwei Themen vorgestellt bzw. es gibt zwei Bereiche, die in einem Kontrast (Tonart, Charakter) zueinander stehen. Im zweiten Teil, der „Durchführung“, erfolgt die motivisch-thematische Verarbeitung des zuvor vorgestellten Materials. Und schließlich wird im dritten Teil, der „Reprise“, die Exposition wiederholt, wobei der zuvor aufgestellte Kontrast hier (tonartlich) aufgelöst wird.

Nun schreibt Frederick Goldbeck, Musikkritiker und Musikologe, im Jahre 1954: „Es sieht ganz so aus, als entspräche der Gang der Musikgeschichte dem Gang der so schicksalsträchtigen Sonatenform. Vom Mittelalter bis zu Beethoven: Exposition aller Themen, von der Gregorianik bis zur Sonate. Von Beethoven bis zum Ende der Romantik: Durchführung, Modernität als Stauung, Dynamik, Dissonanz; Stretta der Harmonik und des Kontrapunkts. Von Debussy an: Zyklus der Wiederholung, variierende Wiederaufnahme und paradoxe Gleichzeitigkeit, [sic] aller Themen, Modernität als Auseinandersetzung mit der wieder vergegenwärtigten Vergangenheit.“2

Dieser Text ist freilich mit zwinkerndem Auge geschrieben. Dennoch, umsonst ist das Bild einer Sonatenform nicht gewählt. Welche Auffassung von Musikgeschichte steckt also dahinter? Ein kurzer Umriss: Bis zur Klassik werden neue musikalische Momente gesetzt, es werden Formen, Satztechniken und Ordnungsprinzipien des Tonvorrats entwickelt. In der Romantik werde das Gegebene „durchgeführt“, es werde dynamisiert, verschärft, von allen Seiten beleuchtet. Die musikalische Moderne und alles darauf Folgende stelle dann eine Wiederholung des Bisherigen dar: Es handle sich um einen Abschnitt der Musikgeschichte, in dem nichts genuin Neues passiert. Eine starke These! Selbst die Zwölftonmusik, die in den 1920ern und teilweise noch in den 1950ern als radikal und revolutionär galt, versteht Goldbeck als Spielart der Tonalität (aus der Phase der Exposition): „Hier wird dem dynamisch-harmonischen Prinzip unbedingt die Treue gehalten. Hier folgt Dissonanz auf Dissonanz […].“3 Die Folge von Dissonanzen, so lautet sein Argument, sei letztlich zurückzuführen auf die Vorstellung von Dreiklängen (Konsonanzen), die sich dahinter verberge.

Angesichts von so unterschiedlichen musikalischen Phänomenen wie Neoklassizismus und Zwölftonmusik fragt sich Goldbeck: „ […] sind das nicht lauter tastende, naive Versuche, sich in der neuen Situation der erweiterten Perspektive zurechtzufinden und Vergangenheit und Gegenwart zu kontrapunktieren?“4 Dabei fasst er diese neue Situation so auf: Bis zu Richard Wagner habe die zeitgenössische Musik immer die bisherige Musik ersetzt. Dies sei nun nicht nicht mehr der Fall; die zeitgenössische Musik erweise sich „als unersetzlicher Augenblick dieser Musikgeschichte und als unumgängliche Auseinandersetzung mit dieser Musikgeschichte.“5 Goldbeck möchte hier nicht dem Historismus das Wort reden, vielmehr wird in seinen Ausführungen eine (frühe) postmoderne Einstellung sichtbar: Es gibt keine neuen Ideen mehr, sondern lediglich das Aufgreifen des schon Verfügbaren. Die Moderne als Reprise der Geschichte: Äußert sich hier eine Variante von Hegels These zum Ende der Kunst? Einer Kunst, in der keine bedeutende neue Entwicklung stattfinden kann, weil sie nach Goldbeck nicht anders kann als in den „Zyklus der Wiederholung“ einzutreten?

Zu dieser Deutung der Musikgeschichte gibt es vieles anzumerken, ich möchte hier nur zwei Kritikpunkte herausgreifen. 1) Viele Komponisten zielten in den 1950er Jahren ausdrücklich darauf ab, mit der Tradition zu brechen und ganz neue Musik zu komponieren, etwa mit synthetisch erzeugten Klängen in der elektronischen Musik. Diese Entwicklung hat – so lässt sich mit einigem Recht sagen – tatsächlich ein neues Kapitel in der Musikgeschichte aufgeschlagen (um ebenfalls ein Bild zu wählen). 2) Eine Auseinandersetzung mit Musikgeschichte, um Goldbecks Worte aufzugreifen, war auch für Komponisten im 19. Jahrhundert unumgänglich. Die musikalischen Neuerungen etwa eines Richard Wagner sind ohne seine kreative Rezeption von verschiedenen Komponisten (Beethoven, Gluck u.a.) und Strömungen nicht zu denken. Inwiefern ein qualitativer Unterschied besteht zwischen der Art, wie Wagner und wie Schönberg Tradiertes aufgreifen und verarbeiten – im Sinne von Durchführung und Wiederholung – ist nach meiner Auffassung nicht einzusehen.

Doch der Vorstellung einer Reprise als „variierende Wiederaufnahme und paradoxe Gleichzeitigkeit“ in Hinblick auf die Moderne ist auch etwas abzugewinnen. Besonderes Merkmal des Musiklebens des 20. und 21. Jahrhundert ist die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Musikgeschichte nach den technischen Revolutionen der Medien. Darüber hinaus ist seit gut 100 Jahren in der (abendländischen) klassischen Musik kein vorherrschender Stil, keine vorherrschende Strömung oder Kompositionstechnik mehr auszumachen. Viele (aber nicht alle) Komponisten gehen heute davon aus, dass ihnen jedes Material aus jeder Epoche für ihre eigenen Werke frei verfügbar ist.

Wie jedes Sprachbild verrät der Vergleich mit der Sonatenform einiges darüber, wie der jeweilige Autor (Musik-) Geschichte auffasst, welche Selektionen und Hierarchisierungen er vornimmt und was er für den zukünftigen Verlauf prognostiziert. Als abgeschlossenes symmetrisches Gebilde hat die Sonatenform als Geschichtsbild keine Zukunft der Musik zu bieten. (Das oft beschworene Ende der Kunst wird von Goldbeck zwar als solches nicht benannt, als Denkfigur wohl aber impliziert.) Doch verweist das Bild der Sonatenform auf ein entscheidendes Merkmal der Musik seit dem 20. Jahrhundert, nämlich die Gleichzeitigkeit höchst unterschiedlicher Musiken und Ästhetiken, die – mehr oder weniger konfliktreich – nebeneinander existieren.

 

 

1„Double-function Form“ bedeutet, dass eine musikalische Form, nach der gewöhnlich ein einzelner Satz gestaltet ist, auch die übergeordnete Form eines mehrsätzigen Werkes bestimmt.

2Frederick Goldbeck, “Dissonanzen-Dämmerung”, in: Melos 21 (1954), S. 5.

3Ebd., S. 4.

4Ebd., S. 5.

5Ebd., S. 5.

Quelle: http://avantmusic.hypotheses.org/151

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Österreichische Zeitschrift für Volkskunde online

Die Österreichische Zeitschrift für Volkskunde (1947ff) wurde mitsamt den Vorgängerzeitschriften Zeitschrift für österreichische Volkskunde (1895-1918) und Wiener Zeitschrift für Volkskunde (1919-1944) eingescannt, die PDFs stehen nun bis zum Jahrgang 2011 unter http://www.volkskundemuseum.at/ozv_jahrgange zur Verfügung.
[via Alltagsdinge/Susanne Breuss]

Quelle: http://adresscomptoir.twoday.net/stories/894831738/

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Das Community-Management stellt sich vor: Lisa Bolz

Lisa BolzSeit Juni 2014 bin ich im Team des Community-Managements von de.hypotheses.org und Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Paris im Bereich der Wissenschaftskommunikation. Zudem suche ich regelmäßig nach Zeit für meine Dissertation zur Auslandsberichterstattung in der deutsch-französischen Presse sowie zum Zirkulieren internationaler Informationen im Journalismus. Die Arbeit entsteht als Cotutelle an der École des Hautes Études en Sciences de l’Information et de la Communication und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wird demnächst im Blog “Das 19. Jahrhundert in Perspektive” näher vorgestellt.

Nach vielen Jahren als freie Mitarbeiterin im Lokaljournalismus konnte ich nicht anders als Stift und Notizblock gegen Tastatur und Bildschirm einzutauschen, um über meine Auslandsaufenthalte zu schreiben (hier oder hier). Durch das Bloggen über meine Alltagserfahrungen in verschiedenen Ländern habe ich erlebt, wie etwas Unbekanntes während des Schreibens vertraut werden kann und wie ich Leser an dieser Erfahrung teilhaben lassen kann. In Paris wohne ich übrigens seit September 2012 in und seitdem hat mich die Stadt mit all ihren Facetten nicht mehr losgelassen.

Wissenschaftlich interessiere ich mich vor allem für Medien- und Kommunikationstheorien, internationale und interkulturelle Kommunikation, Journalismusforschung sowie deutsch-französische Pressegeschichte. Ich mag die Atmosphäre in Bibliotheken, habe einen Hang zu statistischen Verfahren in Sozial- und Geisteswissenschaften, lese mit Vorliebe möglichst ausgefallene Theorien und stöbere nur zu gerne in den Zeitungen des 19. Jahrhunderts.

Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/2402

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Tagungsprogramm des Workshops

Kein Bund fürs Leben?
Eheleute vor kirchlichen und weltlichen Gerichten

Workshop zur Ehegerichtsbarkeit vom Mittelalter bis in die Neuzeit
10. bis 11. September 2014
Seminarraum Geschichte 2 (2. Stock, Stiege 9)
Universität Wien (Universitätsring 1, 1010 Wien)

Als einen (vorläufigen) Schlusspunkt unseres Forschungsprojekts veranstalten wir im September einen Workshop. Gemeinsam mit internationalen Forscherinnen und Forschern wollen wir Ideen, Konzepte, Begriffe, Probleme und (Zwischen-)Ergebnisse diskutieren. Neben dem Austausch auf theoretisch-methodischer Ebene bzw. auf einer konkreten empirischen Basis soll das In-Beziehung-Setzen von Studien zur Ehegerichtsbarkeit unterschiedlicher Regionen und Zeiten im Mittelpunkt des Workshops stehen.

Interessierte sind herzlich willkommen!


 

Vorläufiges Tagungsprogramm (als PDF)

Mittwoch, 10. September 2014

13:00 Uhr
Begrüßung

13:15–16:30 Uhr
Spielregeln und Spielräume
Chair und Respondenz: Karin Neuwirth, Johann Weißensteiner

Andrea Griesebner (Wien)
Rechtliche Rahmenbedingungen frühneuzeitlicher Eheprozesse. Eine praxeologische Annäherung

Duane Henderson, Miriam Hahn (München)
Zwischen concordia und sententia. Das Zusammenspiel außergerichtlicher und gerichtlicher Konfliktlösungen in den Freisinger Offizialatsbüchern des 15./16. Jahrhunderts

Iris Fleßenkämper (Münster)
„Ein wachendes Auge auf beide Persohnen haben“: Zur Rolle der Kirche bei der Regulierung von Ehekonflikten in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe

Kaffee/Tee

17:00–18:30 Uhr
Von der Eingabe zur Abfrage: Online-Datenbanken

Andrea Griesebner, Georg Tschannett (Wien)
Über die Datenbank des Wiener Forschungsprojekts

Duane Henderson, Miriam Hahn (München)
Über die Datenbank des Freisinger Forschungsprojekts

 

Donnerstag, 11. September 2014

9:30 – 13:00 Uhr
I Argumentative Strategien
Chair und Respondenz: Michaela Hohkamp, Rainer Beck

Susanne Hehenberger (Wien)
Das fehlende fleischliche Band. Sexuelles Unvermögen in Ehetrennungs- und Annullierungsklagen vor dem Wiener und Passauer Konsistorium

Claire Chatelain (Lille)
Ein adeliges Beamtenpaar vor Gericht: Eingesetzte Kapitalsorten im Eheverfahren zur Trennung von Tisch und Bett am Ende der Regierungszeit von Ludwig XIV.

Ulrike Bohse-Jaspersen (Hagen)
Weiblichkeitskonzepte und Männlichkeitsvorstellungen in der spätkolonialen Gesellschaft Boliviens. Martina Vilvado y Balverde gegen Antonio Yta – eine Klage auf Eheannullierung in Sucre aus dem Jahr 1803

Mittagessen

14:30 – 16:30 Uhr
II Argumentative Strategien
Chair und Respondenz: Caroline Arni, Elinor Forster

Georg Tschannett (Wien)
„Das ist eine Liebe!“ Ehebruch, Untreue und andere (Liebes-)Verhältnisse. Geschlechtsspezifische Narrationen und Sexualnormen in den Scheidungsakten des Wiener Magistrats (1783 bis 1850)

Zuzana Pavelková Čevelová (Prag)
Ehestreitigkeiten vor dem erzbischöflichen Gericht in Prag


Quelle: http://ehenvorgericht.wordpress.com/2014/06/23/tagungsprogramm-des-workshops/

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China im Kartenbild: Exacta et accurata delineatio (1595)

Jan Huygen van Linschoten (1563-1611) hatte in seiner Zeit als Sekretär des João Vicente da Fonseca (um 1530-c.1530 -1587), des Erzbischofs von Goa, auch Zugang zu Kartenmaterial und Informationen über die portugiesischen Handelswege in Asien. Nach seiner Rückkehr nach Europa verkaufte er die Informationen dem Amsterdamer verleger Cornelis Claesz, der sie 1596 unter dem Titel  Itinerario: Voyage ofte schipvaert van Jan Huyghen van Linschoten naar Oost ofte Portugaels Indien … 1579-1592[1] veröffentlichte. Das Werk, das einen wesentlichen Beitrag zur kolonialen Expansion der Niederlande in Asien bildete,, war reich illustriert.

Eine der Karten, die für Jan Huygen van Linschotens Itinerario  angefertigt wurde, war ein Blatt, das Südostasien, einen Teil Chinas, Japan und Korea zeigt – und bald auch separat verkauft wurde.

Diese Exacta et accurata delineatio[2] zeigt – wie der Titel sagt – die Küsten Chinas und Südostasiens, Teile des Malaischen Archipels sowie Japan Korea.

Die geostete Karte zeigt von China die Provinzen

  • “Nanqvii” (Nanjing 南京)
  • “Cheqviam” (Zhejiang 浙江)
  • “Foqviem” (Fujian 福建)
  • “Cantam” (Guangdong 廣東)
  • “Qvancii” (Guangxi 廣西)
  • “Qvichev” (Guizhou 貴州)
  • “Ivnna” (Yunnan 雲南)
  • “Svchvan” (Sichuan 四川)
  • “Honao” (Henan 河南)

Die Küstenlinien im Süden sind detailliert ausgestaltet, je weiter nördlich man kommt, umso unklarer wird das Bild. Im Landesinneren sind nur wenige Punkte namentlich bezeichnet (meist mit portugiesischen Namen) und nur bei ganz wenigen finden sich zusätzliche Anmerkungen, wie z.B. bei der Stadt Guangzhou 廣州, wo es heißt: “Cantaõ. Jesuitar[um] Ecclesiæ” oder bei der Stadt Nanjing, wo Varianten angegeben werden: “Nanquin ali: Nanchin”.

Im Bereich der Provinz “Qvichv” sind ein Elefant und ein Kamel eingefügt, in “Ivnna” ein Rhinozeros und in “Qvancii” eine Giraffe.

Bemerkenswert erscheint, dass Macao [Aomen 澳門] auf der ‘falschen’ Seite der Mündung des Zhujiang 珠江 (der in der Karte als “Rio de Cantaon” bezeichet wird) eingezeichnet ist – und das auf einer Karte, die auf portugiesischen Quellen beruht.

Der Novus Atlas Sinensis des Martino Martini SJ (1614-1661)  brachte um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts erstmals ein genaueres (Karten-)Bild von China nach Europa. Das Werk, das als Meilenstein gilt, zeigt das China der späten Ming-/frühen Qing-Zeit. Die Karten in diesem Atlas prägten  die Vorstellungen der Europäer von dem Reich am anderen Ende der eurasischen Landmasse.[3]

 Blaeu/Martini/Goius Novvs Atlas, Das ist, Weltbeschreibung: [Amsterdam], [1655]

Blaeu, Willem Janszoon; Blaeu, Joan ; Blaeu, Joan [Hrsg.]; Martini, Martino [Hrsg.]; Golius, Jacobus [Hrsg.]: Novvs Atlas, Das ist, Weltbeschreibung: Mit schönen newen außführlichen Land-Taffeln in Kupffer gestochen, vnd an den Tag gegeben: Novus Atlas Sinensis Das ist ausfuhrliche Beschreibung des grossen Reichs Sina [Amsterdam], [1655]
Quelle: UB Heidelberg

Diese Übersichtskarte[4], die den Beginn der ‘modernen’ China-Karten bildet, steht zugleich am Ende einer langen Reihe von Chinakarten, die mit dem heute geläufigen Bild von China wenig gemein haben: ungewohnte Projektionen, Verzerrungen, ‘merkwürdige’ Namen etc.

China im Kartenbild vor 1655 betrachtet kartographische Darstellungen von China und notiert Beobachtungen zum aus diesen Darstellungen ablesbaren Chinabild. Dabei geht es ausdrücklich nicht um kartographiegeschichtliche Fragen oder technische Fragen zur Erstellung und Herstellung der Karten, sondern um das in den Karten abgebildete Wissen um China: um Namen für das Land, für Teile des Landes (Provinzen, Städte, Flüsse, Seen, Gebirgszüge etc.) und um die Grenzen. Berücksichtigt werden dabei sowohl Karten, die quasi als Illustration anderen Werken beigegeben sind, als auch Einzelkarten.

 

  1. Linschoten, Jan Huygen van: Itinerario: Voyage ofte Schipvaert, van Ian Hughen van Linschoten naer Oost ofte Portugaels Indien, inhoudende een corte beschryvinge der selver Landen ende Zeecusten… Beschryvinghe van de gansche Custe van Guinea, Manicongo, Angola, Monomotapa, ende tegen over de Cabo de S. Augustiin in Brasilien, de eyghenschappen des gheheelen Oceanische Zees; midtsgaders harer Eylanden, als daer zijn S. Thome S. Helena, ‘t Eyland Ascencion… Reys gheschrift vande Navigatien der Portugaloysers in Orienten… uyt die Portugaloyseche ende Spaensche in onse ghemeene Nederlandtsche tale ghetranslateert ende overgheset, door Ian Huyghen van Linschoten. (Amstelredam : Cornelis Claesz, 1596) – Digitalisate (auch zu diversen Übersetzungen) → Bibliotheca Sinica 2.0.
  2. Exacta et accurata delineatio cum orarum maritimarum tum etiam locotum terrestrium quae in regionibus China, Cauchinchina, Camboja sive Champa, Syao, Malacca, Arracan et Pegu, una cum omnium vicinarum insularum descriptione, ut sunt Sumatra, Java utraque, Timora, Moluccae, Philippinae, Luconia et de Lequeos, nec non insulae Japan et Corea… / Henricus F. ab Langren, sculpsit a° 1595 ; Arnoldus F. a Langren, delineavit ([La Haye]: apud A. Elsevirum 1599). Digitalisate (u.a.): gallica, SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, UCM Biblioteca Complutense.
  3. Der Text, der diese Karten ergänzt, wird – abgesehen von den ewig gleichen Verweisen auf die ‘erste’ Erwähnung von X, Y und Z – von der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelt.
  4. Das verlinkte Digitalisat der UB Heidelberg gehört zu den eher schlichter ausgestatteten – manche (wie etwa das Exemplar der Universitätsbibliothek Wien wirken als wären die Grenzen mit Textmarkern in Neongelb, Neongrün/blau und Neonpink) gezogen.

Quelle: http://mindthegaps.hypotheses.org/1546

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Herbert List als Industriefotograf

Der Schmelzer Heinrich Kirschner am Hochofen, 3. August 1955, Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Als Industriefotograf ist uns Herbert List (1903-1975) praktisch nicht geläufig. Wir kennen seine hervorragenden Porträtfotografien, so von den Malern Chagall, Braque, Miró und Picasso, seine journalistischen und künstlerischen Arbeiten wie „Licht über Hellas“ und viele Aufnahmen für die Bildagentur „Magnum“.

Industrieaufträge im engeren Sinne sind nur für die Phoenix-Gummiwerke in Hamburg und die August Thyssen-Hütte (ATH) nachgewiesen. In vier Kampagnen hat List 1954 bis 1959 in Duisburg-Hamborn dieses Werk fotografiert. Jetzt hat das ThyssenKrupp Konzernarchiv diesen exzeptionellen Fundus wiederentdeckt und zeigt ihn bis 31. Juli 2014 in einer Ausstellung im Foyer der Hauptverwaltung von ThyssenKrupp Steel Europe in Duisburg.

Im Werkverzeichnis Lists sind die Duisburger Kampagnen nur am Rande erwähnt.[1] Eigentlich sollte der Fotograf und enge Freund Lists, Max Scheler (1928-2003), den Auftrag bekommen. Obwohl dieser 1953 schon einige Aufnahmen gemacht hatte und sich mit der Leitung der Öffentlichkeitsarbeit bei Thyssen prinzipiell einig war, musste Scheler wegen eines anderen Auftrags absagen. Herbert List sprang kurzfristig ein.

In den Jahren 1954 bis 1959 verbrachte Herbert List jeweils zwischen zwei bis drei Wochen auf der August Thyssen-Hütte. Das Unternehmen hatte dabei klare Vorstellungen von den Bildinhalten: List sollte das Werk, das in den 1930er-Jahren eines der modernsten in Europa gewesen, im Krieg schwer beschädigt und 1953 neu begründet worden war,[2] in seiner Leistungsfähigkeit dokumentieren und die neu entstehenden Ofenanlagen und die verschiedenen Fertigungsstraßen fotografieren. Gewünscht waren Außenaufnahmen, die Dokumentation der aktuellen Baumaßnahmen bzw. Anlagen und die Präsentation der Fertigungsprozesse. Erst die beiden letzten Serien richteten den Fokus auch auf den arbeitenden Stahlwerker.

Blasender Konverter im Thomas-Stahlwerk, März 1954, Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Blasender Konverter im Thomas-Stahlwerk, März 1954, Fotograf: Herbert
List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Das Unternehmen wollte dabei frei über die Aufnahmen verfügen und für seine Zwecke nutzen. Daher kaufte es Positive wie Negative an. Die Aufnahmen Lists fanden letztlich Eingang in Werbebroschüren, Messepräsentationen, Geschäftsberichte, repräsentative Fotoalben für Aufsichtsrats- und Vorstandsmitglieder und in die interne und externe Öffentlichkeitsarbeit; große Abzüge wurden auf Hauptversammlungen gezeigt. Einige List-Bilder zierten die Büros von Vorständen des Unternehmens. Auch bei der Weltausstellung in Brüssel 1958 griff Thyssen bei seiner Ausstellung im Deutschen Pavillon auf Fotografien Lists zurück.

Im ThyssenKrupp Konzernarchiv sind 255 Schwarz-Weiß-Aufnahmen Lists, 248 Negative und 15 Farbabzüge überliefert. Angekauft wurden aber deutlich mehr Fotografien. Vermutlich gingen rund 20 Prozent der Schwarz-Weiß- und wohl rund 80 Prozent der Farbaufnahmen verloren. In einer Parallelüberlieferung, im Nachlass Lists im Münchner Fotomuseum, sind nur Kontaktabzüge vorhanden.

Was den Bestand besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass im ThyssenKrupp Konzernarchiv zu dem Auftrag Lists ein breiter Schriftwechsel vorliegt,[3] der für die Kontextualisierung der Kampagnen enorm wichtig ist. Aus ihm lassen sich viele Details ablesen, z.B. über die Vorbereitungen für die Aufnahmen, ihre Bewertung durch den Thyssen-Konzern, ihre Verwendung und finanzielle Honorierung.

Und die Fotografien? Sie sind – entsprechend der Zeit und den Intentionen des Auftraggebers – optimistische Aufnahmen aus den bundesdeutschen Wiederaufbaujahren. Aus den Trümmern des zerstörten alten Werksgeländes erwachsen neue, moderne Industrieanlagen gigantischen Umfangs mit den klassischen Bildmotiven der Stahlindustrie: Außenaufnahmen der August Thyssen-Hütte, blasende Konverter, Hochofenabstich, Rohstahl auf dem Weg vom Ofen zur Blockbramme, fröhliche Auszubildende sowie kompetent und zuverlässig arbeitende Stahlwerker. Wer sich die Industriefotografien genauer ansieht, wird feststellen, dass List sich in der Bildregie treu bleibt. Zwar ist es nicht immer das Spiel mit dem Licht, das er so gekonnt in dem Hellas-Buch inszeniert hat. List führt aber den Betrachter oft direkt in das Bild hinein. Dazu benutzt er Eisenbahnschienen, gestikulierende Arbeiter oder Krananlagen. Mein Lieblingsbild: Der Schmelzer Heinrich Kirschner, 1955.

Der Schmelzer Heinrich Kirschner am Hochofen, 3. August 1955, Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Der Schmelzer Heinrich Kirschner am Hochofen, 3. August 1955,
Fotograf: Herbert List, Quelle: ThyssenKrupp Konzernarchiv

Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger Katalog erschienen. Er beschreibt in mehreren Aufsätzen Herbert List, sein Werk und seine Hamborner Aufnahmen. Eine Reihe von Fotografien zur August Thyssen-Hütte ist im Katalog seitenfüllend abgebildet. Die Dokumentation der weiteren Schwarz-Weiß-Fotografien ist allerdings nur in einem Kleinstformat abgedruckt.

Licht über Hamborn. Der Magnum-Fotograf Herbert List und die August Thyssen-Hütte im Wiederaufbau
4. April – 31. Juli 2014
ThyssenKrupp Steel Europe AG
Foyer der Hauptverwaltung
Kaiser-Wilhelm Straße 100
47166 Duisburg
[Von Dezember 2014 bis April 2015 im LWL-Industriemuseum Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur in Hattingen.]

Ausstellungskatalog
LWL-Industriemuseum/Robert Laube/Manfred Rasch (Hrsg.), Licht über Hamborn. Der Magnum-Fotograf Herbert List und die August Thyssen-Hütte im Wiederaufbau, 190 Seiten, zahlr. teils farb. Abb., Hardcover, 19,95 €, Klartext Verlag Essen 2014, ISBN: 978-3-8375-1148-2

 


[1] Max Scheler/Matthias Harder (Hrsg.), Herbert List. Die Monographie, München 2000, S. 309.

[2] Vgl. Astrid Dörnemann, „Wesentlich scheint mir auch bei Industriephotos die Wiedergabe der Atmosphäre und der Bewegung.“ Herbert List und die August Thyssen-Hütte, in: LWL-Industriemuseum/Manfred Rasch/Robert Laube (Hrsg.), Licht über Hamborn. Der Magnum-Fotograf Herbert List und die August Thyssen-Hütte im Wiederaufbau, Essen 2014, S. 27-50, hier S. 29.

[3] ThyssenKrupp Konzernarchiv, A/45654; vgl. den Beitrag von Dörnemann (Anm. 2).

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/06/23/herbert-list-als-industriefotograf/

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Datenbank der in der NS-Zeit verbannten und verbotenen Autoren und Bücher

In der Auftaktveranstaltung von Coding da Vinci wurde auch die Datenbank der vom NS-Regime verbannten und verbotenen Bücher — im NS-Jargon ›Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums‹ — vorgestellt. Man kann diese Liste frei herunterladen, als strukturierte Datenbank (im mittlerweile recht gebräuchlichen JSON-Format). Das mag etwas gewöhnungsbedürftig sein, ist aber angemessen, lassen sich doch maschinenlesbar strukturierte Daten gut analysieren und weiterverarbeiten.

NS-Liste verbotener Bücher (DARIAH-DE Geo-Browser)

Erscheinungsorte der durch die NS-Liste(n) verbotenen Bücher im Zeitverlauf (DARIAH-DE Geo-Browser)

Die Liste enthält beinahe 6.000 Einträge (5885). Mehr als tausend der Bücher waren in Berlin erschienen (1071). Die frühesten Bücher, kaum zu glauben, stammen aus den 1840er Jahren (1843). Ein Jahrhundert nach ihrem Erscheinen waren also diese Texte für bürgerliche Freiheit und Frauenemanzipation, gegen Zensur, wieder ›gefährlich‹ geworden. Das letzte Buch wurde noch im Jahr 1944 verboten.

Zum Datensatz gibt es einen online recherchierbaren Katalog sowie Hintergrundinformationen zu den NS-Listen.  Lizenz (CC-BY) und  Datenbankschema klärt die Metadatenseite. Im Web findet sich übrigens auch noch eine weitere Fassung als Allegro-Datenbank, und es lohnt sich, den informativen Wikipedia-Artikel Liste verbotener Autoren während der Zeit des Nationalsozialismus zu Rate zu ziehen.

"Sämtliche Schriften"  verboten

Datensatz zu Salomo Friedlaender: »Sämtliche Schriften« von »Mynona« verboten

Werfen wir einen Blick in die Datenbank: ein durchaus typischer Datensatz, hier zu Salomo Friedlaender, ist nebenstehend abgebildet (JSON wurde hier mittels BaseX nach XML konvertiert). Alles, was Salomo Friedlaender je verfasst hatte — nun war es verboten. (Friedlaender war übrigens bekannter unter seinem Pseudonym »Mynona« — was sich auch auch rückwärts lesen lässt. Er war wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehungen oft Gast im Essener Rabbinerhaus, heute Standort des Steinheim-Instituts, und eine »Groteske« von ihm, Jakob Hankes Erlösung findet sich in Kalonymos online als PDF).

Beinahe 1000 Einträge enthalten dieses pauschale Verbot, das in hohem Maß jüdische Autoren traf: »sämtliche Schriften« heißt es auch bei Arnold und Stefan1 Zweig. Autoren wie Ferdinand Lassale, Karl Marx, Karl Liebknecht oder die Schriftstellerfamilie »Mann« traf das Verdikt »Sämtliche Schriften von und über …« Auch die Erinnerung an Rosa Luxemburg, sie wurde 1919 ermordet, suchte man so völlig auszuradieren. Und wenn die Bücher nur ein Vorwort eines verbannten Autors enthielten, wurden sie aus dem Verkehr gezogen. Ebenso pauschal konnte die »Gesamtproduktion« eines Verlages betroffen sein, oder etwa die »Forum-Bücher« der Exilverlage.

Das bedeutet natürlich auch, dass ein Großteil der betroffenen Bücher in der Liste gar nicht explizit genannt wird — spurlos verdrängt. Bezogen auf die einzelnen Buchtitel sieht man hier tatsächlich also nur die »Spitze des Eisbergs«. Gerade diese Unübersichtlichkeit und Heterogenität der Daten ist eine Herausforderung, verlangt nach einer »Statistik der Abwesenden«, wie es Heinrich Silbergleit in einem anderen Zusammenhang formulierte.

Was an Schrifttum ist durch die NS-Verfolgung bis heute untergegangen ? Sind Titel in OPACs nachgewiesen oder gar als Digitalisate verfügbar ? Lassen sich die gerissenen Lücken sichtbar machen ? Kann man eine Übersicht über die Gesamtheit dieser Werke, durch Verknüpfung mit anderen Datenbanken, herstellen ? (Wie) lässt sich das Ausmaß erfassen, begreifbar machen, vielleicht visualisieren ? Sind die Regale je wieder aufgefüllt worden ? Neuausgaben erschienen ? Oder sind die Autoren doch meist vergessen ? Was war ihr Schicksal ? Solche und andere Fragen wurden lebhaft diskutiert bei der Präsentation der Datenbank. Das rege Interesse sieht man an den Aktivitäten im sogenannten Hackdash von Coding da Vinci und auf die Ergebnisse des »Hackathons« darf man gespannt sein. @LebendigeListe ist eines der Projekte — ihr kann man schon jetzt auf Twitter folgen.

Bibliografische Daten sind Forschungsdaten! Importiert man die Liste in den DARIAH-DE Geo-Browser (die »Spitze des Eisbergs« erinnernd), lassen sich die ca. 4500 Datensätze erstaunlich leicht überblicken, erkennt man auf einen Blick den zeitlichen Schwerpunkt: ein Großteil der Verbote betrifft Literatur, die in den 1930er Jahren erschienen war. Vor 1918 sind Bücher in deutlich geringerer Zahl betroffen, mit Beginn der Weimarer Republik steigen die Zahlen an. Ebenso klar erkennbar ist, dass oppositionelle Literatur zunehmend weiter auf Deutsch, aber im Ausland erschien, insbesondere auch in der Schweiz. Und damit einhergehend wird natürlich auch die radikal verlaufende ›Gleichschaltung‹ in Deutschland grafisch sichtbar. Zusammenhänge, die man kennt, die aber durch  die interaktive Analyse und Visualisierung  erheblich an Präsenz gewinnen. Um so mehr würde es Sinn machen, das umfangreiche Schrifttum, das von den Pauschalverboten betroffen war, auch in eine solche Datenbank zu integrieren und dadurch sichtbar zu machen.

 

  1. In der Liste falsch »Stephan«

Quelle: http://djgd.hypotheses.org/296

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Legende und Geschichte – die römische Königszeit, Teil 1


Von Stefan Sasse

Romulus und Remus werden von der Wölfin gesäugt
Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto weniger können wir auf das zurückgreifen, was Historiker die "Multiperspektivität von Quellen" nennen. Das heißt, wir haben weniger Quellen - Schriftstücke, Statuen, Bilder - die aus verschiedenen Perspektiven geschrieben wurden. Besonders auffällig ist dies bei der römischen Geschichte, für die wir in weiten Strecken auf römische Quellen angewiesen sind. Was auf den ersten Blick logisch erscheinen mag stellt den Historiker jedoch schnell vor Probleme. In einem Zeitalter ohne freie Meinungsäußerung und publizierte Öffentlichkeit sind viele Geschichtsschreibungen entweder reine Geschichten zur Unterhaltung oder Propagandastücke. Oder beides. Die Sagen und Legenden von ohnedem wörtlich zu nehmen ist daher ein sicherer Weg, der Selbstdarstellung der Römer auf den Leim zu gehen oder ihre Absichten misszuverstehen. 

So ist eine unserer besten Quellen zur frühen römischen Geschichte Livius, der in seiner Reihe "Ab Urbe Condita" die römische Geschichte niederschrieb. Nur lebte Livius 59 v. Chr. bis 17 n. Chr. und konnte seinerseits nur auf Geschichten und Legenden zurückgreifen und diese wiedergeben. Zudem musste er aufpassen, nicht den Kaiser zu verärgern, der ein scharfes Auge für Public Relations hatte. Seine Berichte sind daher mit großer Vorsicht zu genießen. Auch Polybios' Darstellungen der Punischen Kriege sind nicht gerade unparteiisch - er war immerhin ein enger Freund Scipio Africanus des Jüngeren, der Karthago dem Erdboden gleichmachte. Doch selbst die Römer wussten über ihre Frühzeit praktisch nichts. Sie verlor sich bereits für sie in Legenden, deren Wahrheitsgehalt sie anzweifelten (kaum ein gebildeter Römer glaubte wirklich, eine Wölfin habe Romulus und Remus gesäugt). 

Entdeckung von Romulus und Remus
In den Legenden, die sie von der römischen Königszeit übertragen haben, können wir jedoch einige interessante Erkenntnisse vergraben finden. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, die Legenden beiseite zu schieben und hinter den sagenhaften römischen Königen zu erkennen, warum diese Geschichten erzählt wurden und welche Wahrheit sich dahinter verbergen könnte. Die Legenden selbst sollen im Folgenden in Kürze wiedergegeben werden, bevor sie einer ausführlicheren Dekonstruktion unterzogen werden.

Der erste römische König war der Stammvater Roms: Romulus, einer von zwei Zwillingen, die ihre Herkunft auf Aeneas zurückführen konnten (einen Troja-Flüchtling) und deren Vater angeblich Mars persönlich war, der ihre Mutter vergewaltigt hatte. Die Kinder wurden auf dem Tiber ausgesetzt, überlebten aber und wurden von einer Wölfin gesäugt, ehe ein Hirte sie aufzog. Sie erfuhren später von ihrer Herkunft, befreiten einen von bösen Mächten gefangen gehaltenen König Alba Longas und durften zum Dank Land am Tiber besiedeln, wo sie eine Stadt gründeten. In einem Streit über die Stadtmauern erschlug Romulus im Zorn seinen Bruder Remus. Romulus füllte seine neue, kleine Stadt mit dem Abschaum der näheren Umgebung, indem er jedem einen neuen Anfang versprach. Unter diesen Elementen befanden sich wenig Frauen, und die umgebenden Gemeinschaften wollten ihre Töchter nicht mit den Römern verheiraten. 

Raub der Sabinerinnen
Romulus griff daraufhin zu einer List, indem er zu einem gewaltigen Fest einlud. Auf diesem Fest entführten die Römer die Frauen des benachbarten Sabinerstamms und machten sich mit ihnen davon. Der folgende Krieg zwischen Römern und Sabinern wurde dadurch beendet, dass sich die Sabinerinnen zwischen die Kämpfenden warfen und baten, bei den Römern bleiben zu dürfen, weil sie nicht wollten, dass ihre Verwandten starben (Brüder und Väter bei den Sabinern, Männer und Kinder bei den Römern). Sabiner und Römer vereinten sich daraufhin zu einer Doppelherrschaft von Romulus und Sabinerkönig Titus Tatius, die Romulus nach Titus' Tod jedoch an sich riss. Romulus regierte für insgesamt 38 Jahre, die voller Krieg und Kampf gegen die umliegenden Stämme waren, bei denen sich die Römer holten, was sie brauchten, ehe er von den Göttern auf einer Heerschau auf dem Marsfeld entrückt wurde. 

Romulus zeigt deutlich, dass die Römer bestrebt waren, eine heroische "Origin Story" auf die Beine zu stellen. So stammen sie nicht nur von den Trojanern ab, einer gewaltigen und mystifizierten Kultur (über Aenas, den Gründer Alba Longas) sondern auch von Mars persönlich, dem Kriegsgott, der die reinste mögliche Person als Mutter auswählte: eine Vestalin. Die unbefleckte Empfängnis ist also ebenfalls im Paket der römischen Gründungsgeschichte enthalten. Dazu kommt noch ein Hauch von ödipeischem Schicksal, natürlich ohne den Inzest, und Kampf gegen übermächtige Gewalten. Der Aufstieg Roms liegt also im Willen der Götter (Mars' Zeugungsakt), der Geschichte (Abkunft von Aeneas) und dem Charakter der Römer (bodenständige Kämpfer) begründet. Zumindest ist es das, was die Römer glauben wollten und als Gründungsgeschichte kolportierten.

Romulus kehrt siegreich aus dem Krieg zurück
Doch auch Romulus' tatsächliche Regierungszeit ist interessant. Sie ist zum einen mit 38 Jahren extrem lang. Diese Länge ist aus der Notwendigkeit gespeist, die Zeit von 753 v. Chr. und dem offiziellen Gründungsdatum der Republik (das mit Sicherheit auch falsch ist) von 510 v. Chr. mit nur sieben Königen zu füllen. Wir werden dem Phänomen bei den anderen Königen wieder begegnen. Romulus nun herrschte als ein Kriegerkönig. Seine Herrschaft ist wenig vergleichbar mit der mittelalterlicher Könige. So finden wir weder ein Lehenssystem noch eine Bindung seines Volks durch Schwüre. Stattdessen war es seine kriegerische Fähigkeit, die über allem stand, und die Römer führten viele unprovozierte Kriege.

Die Ehrlichkeit in diesem Teil des Gründungsmythos ist überraschend. Nicht nur sind Romulus und Remus uneheliche Kinder (wenngleich mit göttlichem Vater). Rom selbst ist auch eine Stadt des Abschaums der Region, die ihr Überleben nur durch einen Bruch des Gastrechts und Massenvergewaltigungen sichert. Dass die Römer eine solche Herkunftsgeschichte nicht als ehrabschneidend betrachteten, sondern sie stattdessen mit Stolz erzählten, spricht Bände über ihr Selbstverständnis. Doch ein Staat war Rom noch nicht. Vielmehr muss man es sich als ein großes Militärcamp vorstellen, das seinen Nachbarn ein ziemlich großer Dorn im Auge war und mit dem nicht verhandeln konnte, weil es offensichtlich keine Konventionen einhielt. Besonders kultiviert waren die Römer auch nicht. Das stieß ihren Nachkommen sauer auf, aber da Romulus nicht alle guten Taten vollbracht haben konnte, brauchte es einen weiteren mystischen Urvater: Numa Ompilius.

Porträt Numas
Der zweite römische König Numa Pompilia war ein Sabiner und lebte mit seiner Frau in aller Ruhe auf einem bescheidenen Landgut im Sabinerland. Sein Ruf war tadellos, denn nach Romulus' Entrückung beriefen ihn die Römer auf den Thron, eine Ehre und Pflicht, die er nicht wollte und ablehnte. Erst auf Drängen seiner Familie nahm er schließlich an. Als König schaffte er die Leibgarde ab, da nichts so sehr schützt wie die Liebe des eigenen Volkes, und legte den Streit zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen in Rom bei, indem er die bisherigen Stammesstrukturen auflöste und an ihre Stelle Stadtbezirke (paci) und Gilden setzte. Er förderte das Gewerbe, besonders aber die Landwirtschaft (bisher konnte Rom sich nicht ernähren und stellte nichts her, was die Plünderei zum einzigen regelmäßigen Erwerb machte). Die so gewalttätigen Römer wurden unter seiner Herrschaft pazifiziert. Nicht nur legten sie die Schwerter zugunsten der Pflugscharen beiseite. Sie wurden auch gottesfürchtig: Numa schuf die Priesterklasse, legte den Vestallinen das Keuschheitsgelübde auf und errichtete zahllose Tempel. Auch die Einteilung des Jahres in 12 Monate (die erst Cäsar verändern würde) geht auf ihn zurück. Während seiner Regierungszeit von sage und schreibe 46 Jahren wurde Rom nicht ein einziges Mal angegriffen - die Nachbarn hielten sich aus Respekt vor Numa zurück und riefen ihn umgekehrt häufig als Schiedsrichter bei ihren eigenen Streitigkeiten an. Als er starb, war die ganze Region in Trauer.

Mit Numa beginnt, was sich später als dauerhafte Tradition römischer Intellektueller erweisen sollte: die Glorifizierung der Vergangenheit. Die Gestalten sind titanisch, von reiner Gesinnung und überbordender Weisheit. Sie sind Verkörperungen des virtus, der unübersetzbaren römischen Tugend. So weist Numas Geschichte einige Züge auf, die die Römer in ihren Herrschern sehen wollten: das Pflichtbewusstsein und das Zögern der Annahme der Herrschaft. Nie sollte die Macht um ihrer selbst willen erstrebt werden, sondern stets als Ausdruck des Pflichtgefühls gegenüber dem Staat verstanden werden. So sind die römischen Könige auch nicht miteinander verwandt; sie werden als "beste Männer" berufen. Zahlreiche republikanische Politiker würden später vorgeben, diesem Ideal zu folgen, und selbst die Kaiser inszenierten sich zu Zeiten als selbstlose Diener des Staates. Seinen neuzeitlichen Ausdruck findet es dann etwa in Friedrich dem Großen, der ebenfalls gerne die Illusion aufrecht erhielt, bescheidener Staatsdiener Nummer 1 zu sein.

Ein Augur erklärt Numa zum König
Mindestens ebenso wichtig wie dieser Verhaltenskodex aber war die Berufung der Römer auf die Götter und das Einhalten von Schwüren, auf das Numa sie verpflichtete. Die Römer selbst sahen dies als den Akt ihrer Domestizierung: von den gewissenlosen Halsabschneidern der Romulus-Ära wurden sie nun, wenigstens im Umgang mit Ihresgleichen, zu Ehrenmännern. Die Ehre eines Römers hieß, seinen Schwüren Folge zu leisten. Da die Annahme der Grundlage des späteren römischen Rechtssystems - die Zwölf Tafeln - ebenfalls von religiöser Mystik begleitet war, kann dieses Fakt gar nicht hoch genug bewertet werden. Ohne die römische Ehrfurcht vor dem geleisteten Schwur wäre ihr Rechtssystem kaum möglich gewesen, hätte der Grundpfeiler ihrer Zivilisation keinen Bestand. Kein Wunder, dass sie ihn auf einen schier heiligen König zurückführten, der ihnen diese Segnungen überbrachte.

Der letzte Aspekt Numas - die Pazifizierung der Römer und ihre Umwandlung in eine Gesellschaft von Bauern - hatte offensichtlich keinen Bestand. Bereits unter Numas Nachfolger, Tullus Hostilius, werden die Römer wieder fleißig Kriege führen. Wichtig ist diese Episode vor allem für den zunehmenden Zivilisationsgrad der jungen Gemeinde: nicht nur wandelt sie sich langsam in den "melting pot", der sie auch später sein würde und in dem die zahlreichen italischen Volksstämme "Römer" wurden. Die Landwirtschaft behielt in der römischen Mentalität immer einen besonderen Stellenwert: der Patrizier von Rang besaß eine Farm in Italien, von der er seinen Lebensunterhalt bezog. Der Stand eines Bürgers bemaß sich am Landbesitz. Und der Ruf nach einer Rückkehr zu den Wurzeln (sprichwörtlich) war in der römischen politischen Kultur nie fehl am Platz. Wann immer es in der Hauptstadt turbulent und dekadent zuging, wandte man sich sehnsüchtig an die Agrargesellschaft "von einst", die so wohl nie bestanden hatte, aber ein steter Fixpunkt im öffentlichen Bewusstsein war.

Sie findet sich etwa auch bei Tacitus wieder, der ein komplettes Buch "Über die Landwirtschaft" verfasst hat, das sich weniger in konkreten Techniken ergötzt (obwohl auch diese natürlich eine Rolle spielen), sondern vielmehr die Bedeutung der Landwirtschaft für das römische Seelenleben unterstreichen. Die Soldaten der frühen römischen Legionen waren allesamt Bauern, die nach dem Feldzug auf ihre Scholle zurückkehrten. Nach der Heeresreform des Marius war das Ende der Dienstzeit eines Soldaten mit einem Stückchen Land verbunden, und die Veteranen verlangten natürlich nach Land in Italien - das gar nicht zur Verfügung stand, weil die Patrizier es in erträgliche Latifundien verwandelt hatten. Eine der größten Krisen der Republik, der Aufstieg und Fall der Gebrüder Gracchus, wurde über die populistische Forderung einer Aufteilung des Landes unter die Armen vom Zaun gebrochen. Es verwundert daher nicht, dass spätere Generationen diese Fixierung auf die Landwirtschaft in der Mystik der römischen Frühgeschichte suchen würden - auch wenn dies der Erfindung eines weisen Friedensfürsten bedurfte, der den Namen Numa Pompeius trug.

Buchhinweise:
Klaus Bringmann - Römische Geschichte - Von den Anfängen bis zur Spätantike
Alfred Heuss - Römische Geschichte
Simon Baker - Rom - Aufstieg und Untergang einer Weltmacht
Martin Jehne - Die römische Republik - Von der Gründung bis Caesar
Guy de la Bedoyere - Die Römer für Dummies

Quelle: http://geschichts-blog.blogspot.com/2014/06/legende-und-geschichte-die-romische.html

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Gesellschaftliche Innovationen: Wissenstransfer Universität – Gesellschaft

Wissenschaft hat strenge Regeln und die unterscheiden sich auch noch von Disziplin zu Disziplin. Zumeist werden die Ergebnisse in Fachzeitschriften veröffentlicht und diskutiert. Ob und wie sie im konkreten gesellschaftlichen Umfeld realisiert werden, welchen Einfluss sie auf Entwicklung und Veränderung haben – das zeigt sich in den meisten Fällen nur in natur- und ingenieurwissenschaftlichen Anwendungen. Gentechnik und Nanotechnologie, Elektromobilität oder Laseranwendungen – das sind Themenfelder, die z.T. als Fortschritt bejubelt, z.T. aber auch verteufelt und bekämpft werden.

Was aber ist mit sozial- und geisteswissenschaftlicher Forschung? Wie finden deren Ergebnisse ihren Weg in die Gesellschaft? Kann man von “sozialen Innovationen” sprechen? Ist solch ein Wandel wissenschaftlich induziert oder untersucht umgekehrt die Wissenschaft Ursachen, Hintergründe und Folgen von sozialen Veränderungen?

In der LMU werden diese und andere Fragen am 14. und 15. Juli diskutiert. Nicht nur interessante Vorträge und Präsentationen, auch Workshops werden angeboten und erlauben es, die eigenen Fragen und Überzeugungen im kleineren Kreise einzubringen.

 

Quelle: http://resilienz.hypotheses.org/177

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