Die Auswirkung von Kontrolle und Orientierung auf Crowdsourcing

marionette04Vier zentrale Bedürfnisse

Bedürfnisse sind die Grundlage menschlichen Handelns. Die Befriedigung der Existenzbedürfnisse, wie ausreichend Nahrung, Kleidung und Wohnung ist allein nicht ausreichend, um ein zufriedenes Leben zu führen. Wir Menschen haben weitere Bedürfnisse, die uns Wohlbefinden bringen und aufgrund derer wir handeln. Doch welche sind das?

Es gibt eine ganze Reihe von Bedürfnistheorien, die jeweils zahlreiche Bedürfnisse nennen. Epstein/Grawe hingegen nennen nur vier. Wenig im Gegensatz zu den anderen. Diese vier Bedürfnisse sind jedoch von besonderer Relevanz, denn finden sie Berücksichtigung, hat man bereits gute Rahmenbedingungen geschaffen und entscheidende Schritte für ein erfolgreiches Handeln oder eine vielversprechende Projektumsetzung gemacht. Es handelt sich um das Bedürfnis nach:

  • Kontrolle und Orientierung
  • Bindung (Gemeinschaft)
  • Selbstwerterhöhung
  • Lustgewinn und Unlustvermeidung

Das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung

Wann haben wir Kontrolle über die Dinge? Wenn wir handeln. Wenn wir aktiv sind. Wenn wir das tun können, was wir tun wollen. Wenn wir die Dinge um uns herum verstehen.

Hier beispielhaft ein paar Lebenssituationen, die das Bedürfnis nach Kontrolle ansprechen:

  • Ungewißheit ist sehr belastend und wir können sie nicht lange aushalten. Dies ist z.B. in Situationen der Fall, in denen wir eine ausstehende Entscheidung nicht in der Hand haben.
  • Das Wissen darüber, was mit unseren Daten im Internet geschieht.
  • Die Angst vor Krankheit und Alter ist auch eine Angst, auf andere angewiesen zu sein und Selbstbestimmung (Kontrolle) zu verlieren.
  • Ausnahmezustände wie Konflikte bis hin zum Krieg sind u.a. deshalb so schlimm, weil Menschen die Kontrolle über ihre Gesundheit, Familie, ihr Hab und Gut, schlichtweg über ihr Leben verlieren.

Fazit: Überall dort, wo die Möglichkeit zur Beeinflussung unseres Handelns oder unserer Lebensumstände sinkt, verletzt das unser Bedürfnis nach Kontrolle.

Crowdsourcing und das Bedürfnis nach Kontrolle

Für Softwareanwendungen, und damit auch für internetgestütztes Crowdsourcing, ist es deshalb für den Nutzer wichtig, die Kontrolle über seine Teilnahme zu behalten. Dazu zählt jede Aufklärung über den Ablauf des Projekts:

  • Art und Umfang der Erhebung von persönlichen Daten
  • Art und Umfang der Nutzung der Daten durch den Crowdsourcing-Anbieter
  • Bei Projekten, bei denen die Lösung eines Problems gesucht wird: Transparenz über die Regeln von der Definition der Idee seitens der Nutzer bis hin zur Auswahl der Siegerlösung.
  • Regelung des Lizenzrechts, falls die Siegerlösung in einer Produktidee besteht.
  • Art und Höhe einer Vergütung (oder Incentives) für die Siegerlösung.

Ethische Verantwortung für den Crowdsourcing-Anbieter bei gamifizierten Anwendungen

Insbesondere bei gamifizierten Anwendungen stellt sich die Aufgabe für den Crowdsourcing-Anbieter, die Anwendung einerseits attraktiv zu gestalten, so dass die Nutzer eine Weile mit Spaß bei der Sache sein können. Andererseits sollte die Anwendung nicht zu attraktiv sein, denn der Nutzer sollte die Dauer seines Einsatzes selbst bestimmen können. Es ist eine Frage der Ethik, die Anwender aufhören lassen zu können.

Wissensgebiete, die Kontrolle und Orientierung verwirklichen können

Als maßgebliche Wissenschaftszweige, die im Rahmen des internetbasierten Crowdsourcings den Aspekt der Kontrolle umsetzen können, möchte ich die Informatik und die Sozialpsychologie nennen. Gemeinsam ist es ihnen möglich, die Software gemäß den o.g. Anforderungen gestalten.

Das für mich Frappierende liegt in den einfachen, ja selbstverständlich klingenden Anforderungen. Das Problem jedoch ist, dass ihre fachgerechte Umsetzung Interdisziplinarität erfordert. Die Informatik allein kann das nicht bewerkstelligen. Die Psychologie auch nicht. Nur die gemeinsame Umsetzung des jeweiligen Fachwissens wird menschengerechte und damit erfolgreiche Lösungen schaffen.

Weitere Artikel dieser Serie:

  1. Auftakt zur Artikelreihe: Was macht Crowdsourcing erfolgreich?
  2. Crowdsourcing: Definition und Prozessbeschreibung
  3. Die Auswirkung von Kontrolle und Orientierung auf Crowdsourcing
  4. Die Auswirkung von Bindung auf Crowdsourcing
  5. Die Auswirkung von Selbstwerterhöhung auf Crowdsourcing
  6. Die Auswirkung von Lustgewinn und Unlustvermeidung auf Crowdsourcing

Literatur:

Nicola Döring: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, Göttingen 2003

Dieter Frey, Martin Irle (Hrsg.): Theorien der Sozialpsychologie, Band III, Motivations-, Selbst- und Informationsverarbeitungstheorien, Göttingen 2002

Gassmann, Oliver: Crowdsourcing. Innovationsmanagement mit Schwarmintelligenz, 2. Auflage, München 2013

Klaus Grawe: Psychologische Therapie, Göttingen 2000

Quelle: http://games.hypotheses.org/1503

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Warum wird im Stadtarchiv Speyer gebloggt …?

Warum, worüber und zu welchem Zweck wird im Stadtarchiv Speyer gebloggt? 

Ein Beitrag zur Blogparade zum 2. Geburtstag von siwiarchiv (verbunden mit herzlichen Grüßen,-).

In diesem Beitrag stehen persönliche Überlegungen und Erklärungen im Vordergrund. Ich denke jedoch, dass die weiteren “bloggenden” bzw. in den social media-Kanälen des Stadtarchivs tätigen Kolleginnen (derzeit Michaela Hayer, Doreen Kelimes – @reen_ke und Elisabeth Steiger – @EMSteiger) diesen Beitrag bestätigen können.

Wie und warum ein Archiv bzw. Archivar die üblichen Web20-Anwendungen nutzen soll (auch mal jenseits von Facebook), das habe ich ja bereits mehrfach beschrieben/präsentiert – dass auch hier die Archive in Deutschland zumeist “Spätzünder” sind – dies ist leider Fakt. Dennoch hat sich in den letzten Jahren und Monaten einiges bewegt, woran sicherlich verschiedene Tagungen, Fortbildungen usw. usf. ihren Anteil haben dürften (demnächst stehen neben der zweiten Auflage der Offenen Archive auch Fortbildungen in NRW zum Thema an, der Südwestdeutsche Archivtag steht unter dem Motto “Neue Ressourcen für alte Archive”, der Deutsche Archivtag hat eine eigene Web20-Sektion usw. – weiteres bitte im Kommentar ergänzen,-).

Eine umfassende Nutzung von Anwendungen mag zunächst als Schwierigkeit angesehen werden. Aber: es ist mehr eine Frage der Organisation, weniger des Zeitbudgets. Es ist mehr eine Frage der Einstellung zur Sache (Stichwort Offenheit, Transparenz, auch Kommunikation), als eine der Technik… Ja, und es kann Spaß machen (und trotzdem anstrengend sein), das reale Leben eben…

Insofern ist es sehr wichtig zu sagen, dass die breite Palette an Web20-Anwendungen des Stadtarchivs nicht zu einem “Wirrwarr” geführt hat. Hauptkanäle sind Facebook und Twitter (neben @Speyer_Archive auch @ARhenanum und vor allem @archive20!), sie dienen auch zur Verbreitung der “richtigen” Blogbeiträge; dazu kommen auf der “Fotoebene” (wichtig für ein Kommunalarchiv!) Flickr und der vor kurzem “wiederbelebte” Account bei Pinterest – alles in allem genutzt für einfache virtuelle Präsentationen und Ausstellungen, kleine crowdsourcing-Projekte oder auch Bildstrecken zu Veranstaltungen (Pinterest auch zusätzlich zum Verbreiten herausragender Fotos, die wir auch auf FB stellen). Dazu kommen Sideshare und ein noch junger YouTube-Kanal. Dazu kommen digitale Präsentationen/Findmittel, die aber nur der Vollständigkeit halber hier erwähnt werden.

Ein eigenes Blog stand zunächst nicht so recht zur Debatte – eher hätte ich (nach dem siwiarchiv-Vorbild) an ein regionales, archivisch-landesgeschichtliches Blog gedacht; das mag durchaus einmal noch kommen (oder dieses Blog mag in diese Richtung gehen…),- Die “Gefahr”, als einzelnes Archiv nicht genügend Beiträge abliefern zu können – dies war wohl der (Haupt)Grund, davon abzusehen. Die Entwicklung ging vielmehr in Richtung thematischer Blogs:

Neben einem kleinen stadtgeschichtlichen Blog (Hausbuch von Johann Michael Beutelspacher 1795 – Bloggen einer Quelle, Transkriptionen u.ä.) begannen wir anlässlich der Vorbereitung der Speyerer Tagung Offene Archive (November 2012) damit, ein Tagungsblog aufzusetzen (DIESES Blog). Es ist mittlerweile wesentlich mehr als “nur” Konferenzvorbereitung, -begleitung und -nachberichterstattung…

Ebenfalls ein Gemeinschaftsblog ist die Präsenz des oberrheinischen EU-Projekts Archivum Rhenanum – und in diesem Fall ist die Form eines Gemeinschaftsblogs die einzig gangbare, um regelmäßig Posts anbieten zu können (und dann noch zweisprachig, in zwei Blogs…). Während das gerade im Aufbau befindliche Virtuelle Speyerer Gedenkbuch 1933-1945 wesentlich auf Feedback, ergänzenden Informationen etc. aus dem Ausland hofft (wie bei ähnlichen Projekten), möchten wir beim gemeinsamen Stadtarchiv-Blog “Archivar-Kamera-Krieg” die umfassende Bearbeitung und Digitalisierung eines aus unserer Sicht herausragenden Fotobestandes von Beginn an dokumentieren, also bloggend einen Einblick geben. Da im Fall der Fotos auch einiges im Bereich der Konservierung, Verpackung usw. zu machen ist, hoffen wir auch da auf Kommentare und Verbesserungsvorschläge. Und: da die old-style-Publikation der Fotos (Buch, samt wissenschaftlichen Beigleittexten), so wünschenswert sie auch wäre, derzeit kaum leistbar ist, bloggen wir auch zu den Inhalten der Fotos und zur Person des Fotografen. Das Endergebnis ist, abgesehen von der grundlegenden Erschließung, Digitalisierung (und Online-Präsentation, wohl), noch offen – dokumentieren und informieren ist das Motto.

Ganz knapp jetzt:

Warum sollen Archivare und Archive bloggen? Und worüber?

Um über ihre oft staubumnebelte Arbeit zu berichten, um einen vertieften Blick hinter die Kulissen zu bieten, um (wichtig) spezielle Projekte oder Themen herauszuarbeiten (besser jedenfalls, als “nur” mit Facebook z.B., viel besser als statisch via Homepage o.ä.). Thematische Blogs können zeitlich begrenzt sein, Beiträge entstehen aus der Arbeit an der Sache heraus relativ einfach und schnell. Übrigens steigt auch die “Presse” sehr gut auf thematische Blogs ein, lässt sich informieren und berichtet dann auch gerne printweise, so geschehen bei den “Kriegsfotos” zuletzt, aber auch bei Archivum Rhenanum und Archive20 – und wohl auch beim Virtuellen Gedenkbuch.

Worüber bloggen? Generell mal über alles, was man auch auf Facebook “verbrät”, aber halt ausführlicher, etwas genauer, auch gerne mal wissenschaftlicher. Gerade die alltäglichen Dinge (“wir räumen um im Magazin, wir heben Archivalien aus oder verpacken diese, warum und wie verpacken wir) interessieren auch. Und über vieles mehr… Aber dieser Beitrag ist nicht enzyklopädischer Natur,- Man kann auch mal darüber bloggen, dass das Bloggen technisch simpel ist (WordPress usw.),-

Nochmals zum Beginn 2011/12 : Hätte man damals “das” Stadtarchiv-Blog an sich begonnen, würde es nun weniger thematische Blogs beim Stadtarchiv geben. Aber gerade diese machen den Reiz an der Sache aus und sind aus meiner Sicht den Nicht-Eingeweihten einfacher zu erklären (Stichwort: Unterschied zur Homepage). Sie sind aber erst im Zusammenhang mit den sonstigen social media-Angeboten des Archivs ein Rundum-Wohlfühlpaket (,-) und machen sicherlich allen Mitbloggenden durchaus Spaß… Ein Blogbeitrag, ohne ihn zu teilen, ist nur die Hälfte wert.

Quelle: http://archive20.hypotheses.org/1156

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Entstehung des ›neuen‹ Nordens – einige Gedanken zum Kieler Frieden 1814

Vor 200 Jahren wurde in Kiel ein Friedensschluss unterzeichnet, an den dieser Tage erinnert wird. Mit diesem Vertrag verzichtete Dänemark zugunsten des alten Erbfeindes Schweden auf Norwegen, das seit 1380 zum dänischen Reich gehört hatte. Nach Schweden wurde nun auch Dänemark »Opfer« der Napoleonischen Kriege: Schweden hatte wegen seiner Gegnerschaft zu Frankreich 1808/09 bereits Finnland an Russland abtreten müssen. Nun ging es gewissermaßen umgekehrt zur Sache: Dänemark musste einen bitteren Preis für seine Teilnahme an der Kontinentalsperre bezahlen. Für die Dänen war das seinerzeit letztlich die Kulmination einer ganzen Reihe von nationalen Katastrophen: Nach der Bombardierung Kopenhagens durch die britische Flotte 1801 und dem 1813 durch die hohen finanziellen Belastungen des Krieges hervorgerufenen Staatsbankrott war der Verlust Norwegens ein weiterer Schlag. Die Entschädigung mit dem auf einen recht kleinen territorialen Bestand zusammengeschrumpften Schwedisch-Pommern konnte da kaum als angemessen gelten. Dies galt anderthalb Jahre später umso mehr, als Dänemark auch dieses Zipfelchen Land an Preußen abtreten musste, das alte, seit brandenburgischen Zeiten bestehende Erbansprüche geltend machte. Es hätte allerdings noch schlimmer kommen können: Im ursprünglichen Entwurf hätte Dänemark auch die ursprünglich zu Norwegen gehörenden Beilande Island, Grönland und die Färöer abtreten sollen. Diese verblieben letztlich aber doch bei Dänemark (was wiederum später für Zwist mit Norwegen sorgen würde…).

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Die in Kiel aufgestellte Stele, mir der an den Buchwaldschen Hof erinnert wird.
Wikimedia Commons, gemeinfrei

Die bald folgenden Unabhängigkeitsbestrebungen der Norweger drohten die schwedische Übernahme zu unterminieren. Dagegen gingen die Schweden durch einen rasch durchgeführten Kriegszug vor und zwangen Norwegen in eine Union, die bis 1905 halten sollte. Zuvor hatten sich die Norweger aber im Mai 1814 in Eidsvoll eine eigene Verfassung gegeben (die als damals modernste in Europa galt) und beriefen sich, obwohl sie die Union mit Schweden zähneknirschend akzeptierten, immer wieder auf dieses Grundgesetz (grunnloven). Norwegen blieb aber – auch das war wichtig – ein eigenständiges Königreich und wurde »lediglich« vom selben König regiert wie die Schweden, es durfte zudem keine eigene Außenpolitik führen.

Mit dem Kieler Frieden war eine Phase der staatlichen Neuordnungen in Nordeuropa an ihr Ende gekommen, die den Weg für die künftige Entwicklung vorzeichnete. Mit der Abtretung des östlichen schwedischen Reichsteils an das Zarenreich wurde daraus das Großfürstentum Finnland und dieses damit erstmals eine eigenständige politische Entität. Der Kieler Frieden brachte zwar nicht die Eigenstaatlichkeit Norwegens mit sich, doch der Unwille der Norweger, zum Spielball der Interessen anderer zu werden, führte zumindest dazu, dass wieder eine eigene norwegische Monarchie entstand – erstmals seit 1380 oder genauer gesagt, seit 1536, als der norwegische Reichsrat abgeschafft wurde. Damit war die später von Henrik Ibsen so genannte Zeit der »400jährigen Nacht« vorbei, als die die gemeinsame Zeit mit Dänemark mittlerweile gedeutet wurde. Die wesentlich stärker verhasste Union mit Schweden überdeckte dies aber rasch.

Mit der Entstehung des ›neuen Nordens‹ war innerhalb von fünf Jahren aus den ehemaligen Großreichen Dänemark und Schweden eine neue politische Gliederung entstanden. Zwar mussten Finnland und Norwegen noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts warten, bis sie ihre staatliche Souveränität erlangten, doch die Basis für die heutige nordische Staatenwelt war damit geschaffen.

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Logo der Jubiläumsaktivitäten
(Klicken: Link zur Homepage)

In Kiel oder überhaupt in Deutschland ist dieser Friedensschluss nicht sehr bekannt – was nicht ganz verwundert, schließlich hat er mit der deutschen Geschichte nicht direkt zu tun. Wir sehen Geschichte eben häufig immer noch durch die nationale Brille. In Kiel erinnert man mit einer Ausstellung samt zahlreichen Begleitveranstaltungen an das Ereignis, diese Ausstellung wird ab Mai dann noch mal in den Nordischen Botschaften in Berlin zu sehen sein. Auf der Begleitseite zu den Jubiläumsaktivitäten (Klick auf das Logo links) findet sich auch der Vertragstext in einer deutschen Übersetzung. Außerdem hat man in Kiel vor einigen Jahren bereits eine Stele aufgestellt, die an den Ort der Friedensverhandlungen erinnert. Für die Dänen gibt es dieses Jahr also neben dem – sicher prominenteren – Gedenken an den Zweiten Schleswigschen Krieg von 1864 auch noch dieses zweite Jubiläum, das an den Anfang vom Vielvölkerstaat Dänemark erinnert.

Quelle: http://nordichistoryblog.hypotheses.org/2088

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Ein gesamtdeutscher Diplomat in Paris? Der gescheiterte Versuch 1848

Im August 1848 reiste Friedrich von Raumer mit dem Auftrag von Frankfurt nach Paris, dort als diplomatischer Vertreter der neuen Provisorischen Zentralgewalt von der französischen Regierung anerkannt zu werden. Sein Aufenthalt in Paris war allerdings kurz und erfolglos, denn bereits in den letzten Tagen des Jahres 1848 trat er die Rückreise an. Warum lohnt es sich trotzdem, die wenigen Monate zu betrachten, in denen Raumer vergeblich versuchte, von französischer Seite diplomatische Anerkennung zu finden?

Friedrich von Raumer

Friedrich von Raumer (Künstler unbekannt; Quelle: Illustrierte Zeitung 1910/3, S. 626 – Wikimedia Commons)

Der Aufenthalt von Raumer in Paris stellte den Versuch dar, einen gesamtdeutschen diplomatischen Vertreter in Paris zu etablieren. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Paris mehrere deutsche Staaten, darunter beispielsweise Preußen, Bayern, Baden und Hessen-Darmstadt, die jeweils eigene diplomatische Vertretungen in der französischen Hauptstadt unterhielten. Die im Jahr 1848 infolge der revolutionären Umwälzungen entstandene Provisorische Zentralgewalt mit Sitz in Frankfurt am Main strebte alsbald an, eigene Diplomaten ins Ausland – darunter auch Raumer nach Paris – zu entsenden. Friedrich von Raumer war jedoch kein erfahrener Diplomat, sondern hatte sich bisher vielmehr als Historiker, Professor an der Berliner Universität sowie liberaler Abgeordneter der Nationalversammlung hervorgetan. Nicht nur auf Grund seiner diplomatischen Unerfahrenheit hatte er Schwierigkeiten, sich mit seinem Auftrag in Paris durchzusetzen: Die französische Regierung wollte den Vertreter einer vorläufigen Regierung nicht anerkennen. Demgegenüber reagierten die etablierten deutschen Diplomaten in Paris sowie die Regierungen, die sie vertraten, höchst unterschiedlich auf den Vorstoß der Provisorischen Zentralgewalt: Das Spektrum reichte von der sofortigen Bereitschaft, Paris zu verlassen bis dahin, die Bestrebungen möglichst zu ignorieren.

Im Rahmen meines Dissertationsprojekts möchte ich in einem Unterkapitel den gescheiterten Versuch, einen diplomatischen Vertreter für gesamtdeutsche Interessen in Paris im Jahr 1848 zu etablieren, untersuchen1 Denn es handelte sich um eine Situation, in der die Existenz mehrerer deutscher diplomatischer Vertretungen in Paris grundsätzlich in Frage stand. Die etablierten deutschen Diplomaten vor Ort mussten sich gezwungenermaßen mit ihrer eigenen Legitimität auseinandersetzen. Die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit in Paris war kurzzeitig hinterfragbar geworden – angesichts der Möglichkeit, einen gesamtdeutschen Diplomaten in Paris zu etablieren.

  1. Die Quellengrundlage bilden neben den Akten aus den Staatsarchiven der fünf ausgewählten diplomatischen Vertretungen von Preußen, Österreich, Bayern, Baden und Hessen-Darmstadt die Akten der Provisorischen Zentralgewalt, die im Bundesarchiv (v.a. Bestand DB 53) verwahrt werden, Auszüge aus Parlamentsdebatten sowie die edierten Briefe von Friedrich von Raumer: RAUMER, Friedrich von: Briefe aus Frankfurt und Paris 1848–1849, 2 Bde., Leipzig 1849. In der Forschung ist der Provisorischen Zentralgewalt und ihrer Außenpolitik sowie dem Aufenthalt von Raumer in Paris bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Hilfreiche Ausführungen finden sich bei BOTZENHART, Manfred: 1848/49: Europa im Umbruch (Uni-Taschen­bücher 2061), Paderborn – München – Wien u. a. 1998; HEIKAUS, Ralf: Die ersten Monate der provisorischen Zentralgewalt für Deutschland (Juli bis Dezember 1848) (Europäische Hochschulschriften – Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 739), Frankfurt am Main – Berlin – Bern u. a. 1997.

Quelle: http://achtundvierzig.hypotheses.org/476

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Beiträge zur Konferenz “Digital Humanities Revisited” online

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Volker Crone and Felix Zahn / Volkswagen Stiftung

Zur Herrenhausen Konferenz “Digital Humanities Revisited”, die vom 05. bis 07. Dezember 2013 in Hannover stattfand (wir berichteten), sind jetzt ausgewählte Audio-Beiträge, Fotos und ein Tagungsbericht auf deutsch und englisch online.

So kann beispielsweise der Vortrag von Jeffrey T. Schnapp über “Knowledge Design” oder der Beitrag “Art, Data and Formalism” von Julia Flanders angehört werden. Außerdem stehen einige der Präsentationen auf slideshare.net  zu Verfügung.

 

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=2918

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“Völkermord an den Armeniern” an deutschen Schulen

Christoph Pallaske hat auf seinem Blog “historischdenken” für einen offensiven geschichtsdidaktischen Umgang mit dem schwierigen Thema “Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich geworben (2015 | 100 Jahre Völkermord an den Armeniern | Herausforderung für den Geschichtsunterricht). Dem Plädoyer möchte ich mich zunächst unbedingt anschließen. Im Sommersemester 2013 habe ich in einem geschichtsdidaktischen Proseminar mit Studierenden erarbeitet, welche Funktion dieses Thema im Kontext interkulturellen historischen Lernens haben und wie man es mit Schülerinnen und Schülern erarbeiten könnte.

Ich bin jedoch aus mehreren Gründen mit Christoph Pallaskes Plädoyer noch nicht ganz glücklich:

  1. Er wirbt für einen Überblick über die ideologischen Hintergründe im späten Osmanischen Reich, den Mihran Dabag auf der Fachdidaktischen Tagung für Geschichte und Politik in Niedersachsen 2012 vorgestellt hat. Mir scheint dieser Beitrag der thematischen Erarbeitung nicht angemessen, da sich Dabag ausschließlich auf eine Art geistesgeschichtliche Vorgeschichte der Turkisierungspolitik konzentriert. Brüche, Widersprüche und Verwerfungen selbst innerhalb dieser Geistesgeschichte kommen dabei zu kurz; die Geschichte wird einfach zu geschmeidig erzählt. Grundsätzlicher wäre aber zu fragen, ob dieser Text eine gute Hinleitung zum Thema ist und ob er deskriptiv und explanatorisch angemessen auf das Thema eingeht. Dabag übergeht fast völlig die in den letzten zehn Jahren äußerst rege Forschung, die mit Namen wie Hans-Lukas Kieser (den er mit einem Werk zitiert), Taner Akçam, Ugur Ümit Üngör, Erik-Jan Zürcher, Donald Bloxham oder Fuat Dündar verbunden ist. In diesen Forschungen geht es um wesentlich übnerzeugendere Erklärungsversuche, die sich um Konzepte wie kumulative Radikalisierung, demographic engineering o.ä. drehen. Ich möchte daher einen Gegenvorschlag machen und einen anderen Text vorschlagen, der mir noch am ehesten geeignet erscheint, in dieses Forschungsfeld einzuführen: Dominik J. Schaller, Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich, 1915-1917. Ereignis, Historiographie und Vergleich, in: Dominik J. Schaller/Rupen Boyadijan/Vivianne Berg/Hanno Scholtz (Hrsg.), Enteignet, vertrieben, ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich 2004, S. 233–277, ein Artikel, der zwar nur die Forschung bis2004 anspricht, aber dennoch viele grundsätzliche Einsichten überzeugend zu vermitteln weiß. Die besten neuesten Forschungsüberblicke hat m.E. Ugur Ümit Üngör verfasst.
  2. Es ist richtig, dass die türksiche Gesellschaft dieses Thema zunehmend kontrovers diskutiert. Das könnte explizit der Ausgangspunkt der Vermittlung sein. Auch in diesem Jahr hat eine überwältigende Zahl von Türken am Todestag von Hrant Dink Solidarität bewiesen. Andere Beispüiele ließen sich anführen: Die Verkaufszahlen von Fethiye Cetins “Meine Großmutter” in der Türkei, die Website “özür diliyorum” und andere.
  3. Ich zweifle noch, ob das Thema seine Relevanz wirklich dadurch erhält, dass in vielen deutschen Klassenzimmern türkischstämmige Schüler/innen sitzen. Gisbert Gemein und Uwe Walter formulieren dies in ihrem Beitrag für “geschichte für heute” (Heft 3, 2013). Ich sehe darin eher ein Tappen in die “Kulturalisierungsfalle” (Bettina Alavi; siehe mein Beitrag in der jüngsten “geschichte für heute”). Wieso ist das ein Thema vor allem für türkische Schüler/innen? Weil es “ihre” Geschichte ist? Darin sehe ich eineZuschreibung von Identität, die Geshcichtsdidaktiker nicht empfehlen sollten, wenn das Ziel von Geschichtsunterricht oder allgemein geschichtsdidaktischem Engagement darin besteht, Menschen zu einer eigenständigen Reflexion in ihrem individuellen Geschichtsbewusstsein (auch im Identitätsbewusstsein) zu helfen.
  4. Auch Martin Stupperichs Beitrag, den Christoph Pallaske lobt, möchte ich nicht so stehenlassen. Das Zitat “Haben wir auf deutscher Seite ein selbstkritisches Narrativ, so finden wir auf türkischer Seite ein heroisierendes” finde ich schon unangemessen schwarz-weiß; ich sehe aber vor allem auch in Stupperichs Beitrag einen Ansatz, der das Thema als deutsch-türkisches denkt; und das finde ich problematisch.

All diese Punkte verstehe ich nur als Beitrag zur Debatte; Pallaskes Plädoyer am Ende seines Blogposts (“Es wäre dabei erstens erstrebenswert, Lernangebote und konkrete Materialien (auch online) zur Verfügung zu stellen. Zweitens wäre ein Austausch über – sicher gelegentlich schwierige – konkrete Umsetzungen und Erfahrungen der Thematisierung des Armenier-Genozids im Geschichtsunterricht notwendig.”) möchte ich mich ausdrücklich anschließen. In diesem Zusammenhang möchte ich dringend für das Theaterstück “Annes Schweigen” des exiltürkischen Autors Dogan Akhanli werben, das ich vergangenes Wochenende in Frankfurt gesehen habe; die an das Stück anschließende Diskussion hat mir gezeigt, dass das Stück funktioniert und großes geschichtsdidaktisches Potential hat. Die Organisatoren des Stücks arbeiten in Berlin bereits an Konzepten der Zusammenarbeit mit Schulen und hätten sicher Interesse, auch darüber hinaus Kontakte zu knüpfen.

Ich selbst überlege, mit Studierenden im SoSe2014 eine kleine Ausstellung zum Thema “Das Deutsche Reich und der Völkermord an den Armeniern” zu konzipieren, die dann 2015 gezeigt werden könnte; das ist noch ziemlich unausgegoren, ich freue mich aber schon jetzt über jede Idee.

Quelle: http://geschichtsadmin.hypotheses.org/192

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Fotoausstellung Fred Stein

Little Italy, New York 1943 © Estate of Fred Stein

Fred Stein, fotografiert von Lilo Stein, Paris 1935 © Estate of Fred Stein

Fred Stein, fotografiert von Lilo Stein, Paris 1935 © Estate of Fred Stein


„Dresden vertrieb mich; so wurde ich Fotograf“

Mit diesen knappen Worten beschrieb Fred Stein die radikalste Wende seines bisherigen Lebens und den damit verbundenen Aufbruch in eine unbekannte Zukunft. Wie für viele jüdische Bürger in Deutschland bedeutete auch für Fred Stein der 30. Januar 1933 eine persönliche Zäsur. Dem jungen Rechtsreferendar aus Dresden wurden zunächst die angestrebte Promotion und schließlich die berufliche Zukunft gänzlich verwehrt. 1909 als Sohn eines Rabbiners geboren und zudem ein überzeugter Sozialist, stellte Stein das Feindbild der neuen Machthaber schlechthin dar. Um den Diffamierungen und Übergriffen durch die Nationalsozialisten zu entgehen, fingierte er zusammen mit seiner Frau Lilo eine angebliche Hochzeitsreise nach Paris, und im Oktober 1933 verließen beide Deutschland.

Im Gepäck von Fred Stein befand sich eine Kleinbildkamera der Marke Leica, die noch eine bedeutende Rolle spielen sollte. Stein war klar, dass ihm seine juristische Ausbildung im Pariser Exil nicht von Nutzen sein würde, und bereits nach kurzer Zeit entdeckte er das anfängliche Hobby, die Fotografie, als neue Profession für sich. Es stellte sich schnell heraus, dass Fred Stein außerordentliches Talent besaß, und dementsprechend stieß seine Arbeit auch auf Resonanz. Schon bald konnte er sich ein eigenes, kleines Fotostudio in Paris einrichten und war ab 1935 an mehreren Fotoausstellungen beteiligt, teilweise mit namhaften Künstlern wie Man Ray und André Kertész.

Fred Steins Fotografie lebt von ihrer Authentizität und dem Minimalismus des Fotografen. Stein fotografierte ausschließlich in schwarz-weiß und benutzte lediglich zwei verschiedene Kameras. Weder aufwendige Inszenierungen noch nachträgliche Retuschen interessierten ihn. Das Erzeugen einer künstlichen Umgebung, so benutzte er nur äußerst selten ein Blitzlicht, lag ihm genauso fern wie eventuelle Arrangements. Steins Bildsprache ist einfach und klar. Im Fokus stand allein die Person oder die Szene. Dabei sollte das Motiv möglichst natürlich erscheinen und seine gesamte Aura entfalten.
„Du hast nur diesen einen Moment. Wie ein Jäger, der sein Ziel anvisiert, wartest du auf den Augenblick, der aussagekräftiger ist als alle anderen.“
Fred Steins besonderer Sinn für den richtigen Moment machen seine Fotografien so einzigartig.
Sein Gesamtwerk lässt sich in drei große Themenfelder gliedern: Über die gesamte Zeit seines fotografischen Schaffens hat er Porträts angefertigt, die von bemerkenswerter und klarer Schönheit sind. Die Vielfalt der über 1200 Porträts sucht ihresgleichen und liest sich wie das Who´s Who prominenter Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Albert Einstein, Salvatore Dali, Willy Brandt, Alfred Döblin, Walter Benjamin, Ludwig Marcuse, Bertold Brecht, Hannah Arendt, Konrad Adenauer, John F. Kennedy und Marlene Dietrich sind nur einige der Porträtierten.

Albert Einstein (1879-1955), Princeton 1946 © Estate of Fred Stein

Albert Einstein (1879-1955), Princeton 1946
© Estate of Fred Stein


Die zwei weiteren großen Themen der Fotografie Steins sind schicksalhaft mit den erzwungenen Ortwechseln verbunden und betreffen die Zeit des Exils in Paris während der 1930er-Jahre und, nachdem er und seine Familie erneut flüchten mussten, die 1940er-Jahre in New York. Neben klassischen Motiven der beiden Metropolen entstanden zahlreiche Milieustudien und Charakterbilder. Sie stehen in einem soziologischen Kontext von Armut und einfachem Leben in der Stadt und zeigen Straßenarbeiter, Verkäufer, Obdachlose und Familienszenen. Fred Steins Blick verbindet das Alltägliche mit einem Sinn für den außergewöhnlichen Moment.
Little Italy, New York 1943 © Estate of Fred Stein

Little Italy, New York 1943 © Estate of Fred Stein


1958 kam Fred Stein erstmals wieder nach Deutschland und versuchte, seine Arbeiten publik zu machen. Bis auf ein Buchprojekt, „Deutsche Portraits“, blieb dies allerdings erfolglos. Trotz der Bandbreite und Kraft seiner Arbeiten erhielt Fred Steins Werk zu seinen Lebzeiten nicht die gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung. Nach seinem Tod 1967 in New York geriet sein Name in Vergessenheit. Der Nachlass von Fred Stein befindet sich heute im Besitz seines Sohnes und umfasst unzählige Fotografien und Dokumente, die die Lebensgeschichte und Arbeit eines Fotografen dokumentieren, der als jüdischer Jurist und Sozialist gezwungen war, Deutschland zu verlassen und beruflich neu anzufangen.

Das Jüdische Museum Berlin zeigt nun erstmalig in Deutschland eine umfassende Retrospektive des Fotografen Fred Stein und möchte damit das vielschichtige und umfangreiche Werk einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Die von den Kuratorinnen Theresia Ziehe und Jihan Radjai betreute Fotoausstellung, die insgesamt 133 Fotografien beinhaltet, ist noch bis zum 23. März 2014 in der Eric F. Ross Galerie des Jüdischen Museums zu sehen.
Jüdisches Museum Berlin/Ausstellung Fred Stein

Quelle: http://www.visual-history.de/2014/01/24/fotoausstellung-fred-stein/

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Workshop “Digital Humanities and Social Sciences”

logo-fauZum zweiten Mal lädt das Interdisziplinäre Zentrum “Digital Humanities and Social Science” zu einem Workshop mit gleichnamigem Titel ein. Die Veranstaltung findet vom 30.-31. Januar 2014 in den Räumen der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg statt und wird von Günther Görz und Heidrun Stein-Kecks moderiert.

Programm

Donnerstag, 30. Januar 2014

  • 14:00h Begrüßung
  • 14:15h Stanislava Gardasevic: Europeana Collections 1914-1918. Digitising on nations` heritage from the wartime. Case of the National Library of Serbia
  • 15:15h Dr. Elton Barker: Pelagios: Linking together the places of our past through the documents that refer to them
  • 16:15h Kaffeepause
  • 16:45h Dr. Monica Berti: The Leipzig Open Fragmentary Texts Series (LOFTS)
  • 17:45h Prof. Dr. Nicole Saam: Building Trust Simulations
  • 18:15h Abschlussdiskussion
  • 19:30h Gemeinsames Abendessen

Freitag, 31. Januar 2014

  • 9:00h Begrüßung
  • 9:15h Prof. Dr. Günther Görtz: Der Behaim-Globus und seine aktuelle Bearbeitung
  • 10:00h Dr. Felix Schäfer: Fallbeispiele zum Einsatz von IT in der Archäologie
  • 11:00h Kaffeepause
  • 11:15h Prof. Dr. Heidrun Stein-Kecks: Corpus der mittelalterlichen (vorbarocken) Wandmalerei in Bayern
  • 12:00h PD Dr. Sonja Glauch, Prof. Dr. Florian Kragl: Vorstellung einer Online-Edition der Lyrik des hohen Mittelalters
  • 12:45h Kaffeepause
  • 13:00h Abschlussdiskussion
  • 14:00h Gemeinsames Mittagessen
  • 15:00h Ende der Veranstaltung

Um Anmeldung wird gebeten. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

 

Quelle: http://dhd-blog.org/?p=2905

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„Verachtet ist der nackte Mann“. Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir

Wikingerzeitliches Frauengewand (Foto: Anita Sauckel 2012)

Wikingerzeitliches Frauengewand (Foto: Anita Sauckel 2012)

1000 Worte Forschung: Dissertation LMU München, abgeschlossen im Juli 2012

Das Textkorpus der Isländersagas umfasst ungefähr drei Dutzend in altisländischer Sprache verfasste literarische Prosatexte von unterschiedlicher Länge, die über die Geschehnisse auf Island von den ersten Siedlern (ca. 870 n.Chr.) bis zum Ende der sogenannten Sagazeit (1030 n.Chr.) berichten. Im Mittelpunkt stehen die Schicksale der mächtigsten isländischen Familien des mittelalterlichen Freistaats.

Seit dem 19. Jahrhundert stehen die Isländersagas im Interesse altnordistischer Forschung. Weiterhin werden sie als Ergänzung zu Bildquellen und Bodenfunden herangezogen, um Lücken bei der Rekonstruktion wikingerzeitlicher Tracht zu schließen. Unproblematisch ist diese Vorgehensweise nicht: Immerhin erfolgte die Niederschrift der Isländersagas in einem zeitlichen Abstand von 200 bis 300 Jahren zu den geschilderten Ereignissen. Als gesichert gilt, dass keine Saga vor dem 13. Jahrhundert niedergeschrieben wurde. Hinzu kommt, dass sich Textilfunde von den in den Texten beschriebenen Kleidungsstücken deutlich unterscheiden, dass die Terminologie einzelner Gewänder unpräzise ist und Stoffbezeichnungen nicht auf die Beschaffenheit der Stoffe schließen lassen bzw. Sammelbezeichnungen für eine Gruppe textiler Gewebe sind. Umso erstaunlicher ist es, dass die minutiös beschriebenen Kleidungsstücke von literaturwissenschaftlicher Seite meist ausschließlich als Illustration einer mittelalterlichen Umwelt interpretiert wurden. Die zahlreichen Beschreibungen seien ein „glänzendes Beiwerk“[1], ein „Zusatz, der des erzählten Hergangs wegen unnötig“[2] sei. Untersuchungen von Kleidung sind für die Isländersagas und Íslendingaþættir (novellenartige Erzählungen, die meist in Königssagas eingeschoben sind) bisher überhaupt nur im Rahmen eng gefasster Einzelstudien von geringem Umfang erfolgt.

Doch wird Kleidung schon in der nordischen Mythologie als integrativer Bestandteil des Menschseins verstanden: So berichtet Snorri Sturluson von der Schöpfung der Menschen durch die Götter, die diese aus Holz formten und ihnen „Namen und Kleidung“[3] gaben. Strophe 49 des Götterliedes Hávamál erwähnt das Einkleiden zweier anthropomorpher Holzfiguren, die sich daraufhin für Menschen halten. Die Strophe schließt mit dem Vers „Verachtet ist der nackte Mann“ (neiss er nøcqviðr halr)[4] – der Mensch wird erst durch Bekleidung zum Kulturwesen.

Ziel meiner Dissertation war eine detaillierte Analyse der in den Isländersagas und Íslendingaþættir auftretenden Kleiderstellen hinsichtlich ihrer unterschiedlichen literarischen Funktion, also vor allem eine durch Kleidung ausgedrückte soziale und psychologische Figurencharakterisierung. Es zeigte sich, dass die meisten Beschreibungen der Veranschaulichung sozialer und geschlechtlicher Distinktionen sowie dem Ausdruck von Emotionen, dienen. Auch handlungsweisende Vorausdeutungen gestalteten die Verfasser der Isländersagas durch das gezielte Einsetzen von Kleidungsstücken und machten die Kleidung somit zu einem integrativen Bestandteil des Sagastils.

So versinnbildlicht die Beschreibung der Kleidung von Oberschichtangehörigen mehr als nur das Vorhandensein ökonomischen Reichtums: Das Zusammenspiel von kostbaren Gewändern, körperlicher Schönheit und vornehmen Tugenden betont die Bedeutsamkeit einzelner Helden über bloßen Besitz hinaus. Gesellschaftliche Großereignisse wie Thingversammlungen dienen den Sagahelden als Bühne zur Präsentation exklusiver Gewänder und somit zur Repräsentation des eigenen sozialen Status. Besonders prachtvoll ausstaffiert sind junge Isländer, die von ihren Auslandsfahrten an fremdländische Königshöfe zurückkehren, wo sie sich Ansehen, Ruhm und Ehre erworben haben. In seltenen Fällen widerfährt den Protagonisten durch Kleidergeschenke auch eine Erhöhung im christlichen Sinne: So erhält der Titelheld der Bjarnar saga Hítdœlakappa von König Óláfr helgi von Norwegen einen seidenen Wadenriemen zum Geschenk, mit dem er sich sogar bestatten lässt. Der mit der Heiligkeit des Königs durchdrungene Seidenriemen verrottet nicht und wird nach der Hebung des Grabes in eine Kirche gebracht, wo er fortan als Gürtel eines Messgewandes Verwendung findet.

Gut gekleidete Helden beeinflussen das Handlungsgeschehen meist positiv. Ausnahmen stellen gut angezogene „fremde Skandinavier“ dar, bei denen es sich häufig um Norweger handelt. Sie sind trotz ansprechendem Äußeren und hohem sozialen Status oftmals negative Figuren, die dem Helden entweder Schaden zufügen oder ihn gar töten wollen.

Die Vertreter der Unterschicht, die durch ihre schlechte Kleidung sozial stigmatisiert werden, stehen diesen Sagahelden gegenüber. Zu dieser Gruppe gehören Bettler, Landstreicher und Sklaven, aber auch Geächtete und Narren. Ihre ärmlichen, teils ungezieferverseuchten Gewänder offenbaren jedoch auch spezifische Charaktereigenschaften ihrer Träger: Insbesondere die unpassende Kleidung der Sklaven brandmarkt diese nicht selten als Trottel. Die in manchen Fällen bewusst gewählte schlechte Bekleidung der Narren drückt entweder – im Sinne einer erweiterten psychologischen Figurencharakterisierung – die (jugendliche) Unreife ihrer Träger aus oder lässt Sozialkritik aufscheinen. So ignoriert der Titelheld des Hreiðars þáttr heimska bewusst den gut gemeinten Ratschlag seines Bruders, sich am Fürstenhof in erlesene Kleidungsstücke zu hüllen, um die Prunksucht der in der Halle versammelten Gefolgsleute zu karikieren. Unpassende Kleidung ermöglicht Vertretern der Oberschicht darüber hinaus eine Vielzahl von Verkleidungen, mit deren Hilfe sie Ziele erreichen, die ihnen normalerweise verwehrt bleiben würden: So machen die heimliche Beschaffung von Informationen, das Ausführen von Rachetotschlägen oder der Schutz des eigenen Lebens vor Mordanschlägen das gekonnte Einsetzen der Maskerade erforderlich. In der Hallfreðar saga vandræðaskálds verkleidet sich der Titelheld sogar mit großem Aufwand, um einen bekehrungsunwilligen Heiden zu verstümmeln. Durch die Maskerade (sowie durch Devestitur) werden schließlich die Grenzen sozialer Kleiderdistinktion deutlich. Ein Übertreten dieser Grenzen ist charakteristisch für das Kleidungsverhalten der Zauberer; ihre Kombination von Ober- und Unterschichtgewändern lässt keine soziale Einordnung zu.

Kleidung dient in den Isländersagas auch zur geschlechtlichen Distinktion. Von besonderem Interesse ist das Verhältnis von Rollenverhalten und Gewand, das an denjenigen Stellen am deutlichsten hervortritt, an denen Kleidernormen übertreten werden. So nutzen einige Sagafiguren den vestimentären Geschlechterrollenwechsel (Transvestismus), um Ziele zu erreichen, die sie sonst nicht erreichen können. Anders als in kontinentaleuropäischen literarischen Zeugnissen des Hochmittelalters spielt sexuelles Begehren bei dieser Form des Kleidertauschs keine Rolle. Besonders auffallend ist aber das beinahe vollständige Fehlen travestierter männlicher Helden. Allein der Verdacht, ein Mann könne sich weiblich verhalten oder gar weibliche Kleidung tragen, zerstört dessen Ehre unwiederbringlich und bedeutet den Ausschluss aus der Gesellschaft und den Tod. Hingegen verkleiden sich Frauen durchaus als Männer, um sich vor Übergriffen zu schützen oder ihre beschädigte Ehre wiederherzustellen. Ihr Spiel mit den Geschlechterrollen wird zumeist nicht sanktioniert.

Schließlich dienen die Beschreibungen von Kleidung der Veranschaulichung von Emotionen. Aggression, Trauer, Wut aber auch Freude, Liebe und Zuneigung werden von den Sagaverfassern mittels Kleidungsstücken verdeutlicht. Inneres durch Äußeres auszudrücken, gehört zu den Charakteristika des Sagastils: Besonders spannend ist die Beobachtung, dass das Tragen von Kleidungsstücken in der Farbe blár (blau, blauschwarz, schwarz) stets Aggression bis hin zur Mordlust indiziert: So berichtet die Valla-Ljóts saga von Ljótr Ljótólfsson, dass er jedes Mal, wenn ihn die Mordlust (víghugr) überkomme, einen blauschwarzen Rock trage.

Die Verfasser der Isländersagas haben dem Kleidungsverhalten ihrer wikingischen Vorfahren enorme Bedeutung beigemessen. Sie folgten weniger den Vorgaben einer realen wikingerzeitlichen Tracht (wie archäologische Funde sie zeigen), sondern erhoben Kleidung vielmehr zu einem gelehrten Konstrukt und ließen sie zum integralen Bestandteil ihrer Schreibkunst werden. Für die altertumskundliche Diskussion verdeutlicht das nicht zuletzt die methodischen Probleme einer Abgleichung von Sachfund und literarischem Befund. Für die weiterhin intensiv betriebene Sagaforschung hat die Untersuchung nicht zuletzt aufgezeigt, wie bereichernd eine intensivere Analyse vermeintlich bedeutungslosen Beiwerks sein kann.

Anita Sauckel (2013): Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 83). Berlin/Boston.

[1]     Heller, Rolf 2009: Überlegungen zur Brünne in der Laxdœla saga. In: Heizmann, Wilhelm/Klaus Böldl/Heinrich Beck (Hg.): Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 65). Berlin/New York. S. 169–184. Hier: S. 169.

[2]     Kuhn, Hans 1971: Das alte Island. Düsseldorf. S. 76.

[3]     Gylfaginning, c. 9. In: Snorri Sturluson. Edda. Prologue and Gylfaginning, herausgegeben von Anthony Faulkes. 2. Auflage. London 2005. S. 13.

[4]     Hávamál, St. 49. In: Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern I. Text. 5., verbesserte Auflage von Hans Kuhn. Heidelberg 1983. S. 17–44. Hier: S. 24.

Quelle: http://mittelalter.hypotheses.org/2954

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