Archivwissenschaft an der Unversität Bayreuth oder: Was machen Jugendämter mit Kaugummiautomaten?

„Nun ist euer Universitätsarchiv gerade einmal ein halbes Jahr alt und ihr habt es bereits geschafft, die Archivwissenschaft an der Universität Bayreuth in die Lehre zu bringen! Wie habt ihr das gemacht?“ Die Bewunderung, die in dieser Frage mitklingt, die mir seit dem Wintersemester 2013/14 von Kolleginnen und Kollegen aus ganz Deutschland hin und wieder gestellt wurde, konnte ich stets auf die Kulturwissenschaftliche Fakultät unser Universität Bayreuth und hier besonders auf die Facheinheit Geschichte hinlenken. Von hier ging es aus, das Fach in der Studienordnung des BA-Studiengangs „Europäische Geschichte“ (und neuerdings auch des interdisziplinären Studiengangs „Kultur und Gesellschaft“) unter der Kursbezeichnung „Historische Dokumentation und Archivierung“ als einsemestriges Pflichtmodul mit zwei Wochenstunden zu verankern.[1] Das wirklich Besondere daran ist, dass die Studierenden hier in die Arbeit des Archivars eingeführt werden, während ihre Befähigung, mit Archiven selbst als Nutzer umzugehen, nicht der zentrale Gegenstand dieses Studiengangmoduls sein soll. Wenn das Fach in Bayreuth nun auch älter ist als das Universitätsarchiv und keineswegs mit dessen Zutun eingerichtet worden ist, ist seine in den letzten beiden Jahren gestiegene überregionale Beachtung vor allem auf die Öffentlichkeitsarbeit des Archivs in den Social Media zurückzuführen.[2] Indem dort in unregelmäßigen Abständen auf einzelne Sitzungen und deren Themen hingewiesen wurde, zeigte das Archiv jedem an seinen Nachrichten Interessierten, dass sich der Unterricht am aktuellen Stand der internationalen archivwissenschaftlichen Fachdiskussion ausrichtet und Traditionen nicht ohne kritische Auseinandersetzung und Infragestellung weitergibt.

Um der Praxisbezogenheit, die die Studienordnung von der Übung fordert, gleichermaßen wie dem Ziel der Befähigung der Studierenden zur Reflexion archivischer Methoden gerecht zu werden, besteht die Lehrveranstaltung  insgesamt aus zwei Teilen. Während im Mittelpunkt des praktischen Teils die Archivalienerschließung mit Fachsoftware steht, wechselt der Schwerpunkt des theoretischen Teils von Semester zu Semester.


Slide aus der Lehrveranstaltung, Thema "Bewertung der Archivwürdigkeit"

So lag im Wintersemester 2013/14 die Betonung auf der Makrogenese von Verwaltungsschriftgut und Archivbeständen, also auf den Grundlagen von Schriftgutorganisation und auf der Bestimmung der sog. „Archivwürdigkeit“ von Akten und anderem Verwaltungsschriftgut. Im laufenden Semester liegt der Fokus auf dem Archivrecht und der Erschließungstheorie.


Slide aus der Lehrveranstaltung, Thema "Erschließungsstandards"

Für ein weiteres Semester käme beispielsweise ein intensivierter Blick auf das „Archiv 2.0“, auf die Rolle von Social Media und Web 2.0-Technologie für das archivarische Kerngeschäft in Frage.[3] Wie man sieht, wäre auch ein mehrmaliges Belegen des Kurses keineswegs nur Wiederholung.

Nicht zuletzt profitieren die Studierenden von der Einbindung des Universitätsarchivs in die archivwissenschaftliche Forschung. Das Archiv der Universität Bayreuth ist ein gefragter Ansprech- und Gesprächspartner vor allem in Fragen der Erschließungslehre. Es wirkte beratend am Fachkonzept für die Zugänglichmachung des rwandischen Gacaca-Archivs mit und beteiligt sich protagonistisch bei der Umsetzung internationaler Erschließungsstandards, unter anderem in engem Kontakt mit dem deutschen Team des „Archives Portal Europe Network of Excellence“ (APEx).

Mit der praxisorientierten Archivwissenschaft im Rahmen des Geschichtsstudiums bietet die Universität Bayreuth Studieninteressierten und den Studierenden eine echte Perle. Die  viel zitierte „Schwellenangst“ des Historikers vor dem Archiv wird hier beim Umgang mit originalen Archivalien in geradezu spielerischer Weise überwunden, archivarische Arbeitsweisen und deren Gründe lernen die Studierenden zu verstehen und in ihr eigenes Nutzerverhalten zu transferieren. Gerade das sind zwei wichtige Voraussetzungen für die angehenden Historikerinnen und Historiker, Forschung durch die Einbeziehung der Quellen fundiert zu betreiben und fundierte Forschungsergebnisse erzielen zu können.

Ach ja, da waren noch die Kaugummiautomaten! Was machen denn nun Jugendämter mit Kaugummiautomaten? Nichts! Hat das überhaupt etwas mit Archiv und Archivwissenschaft zu tun? Ja, durchaus! Jenes „nichts“ war die völlig richtige Antwort des Kurses auf jene Frage, die sich illustrierend im Zusammenhang mit der Untersuchung von Ursächlichkeiten für die Entstehung von Behördenakten stellte. Weitergehende Ausführungen würden diesen Beitrag aber in jeder Hinsicht sprengen. Wer dennoch mehr dazu erfahren will, der kann am nächsten Kurs im Wintersemester 2015/16 teilnehmen oder das Thema auf dem APEx-Blog vertiefen.[4]

Quelle: http://unibloggt.hypotheses.org/212

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Die Rostocker Stadtbefestigung

Rostock war und ist die bedeutendste Stadt in Mecklenburg. Damit einher geht das Erfordernis sich auch in diesem Rahmen verteidigen zu können. Im Mittelalter konnte dies mit eindrucksvollen Toren durchaus umgesetzt werden, doch verliert sich dieser Machtausdruck mit der Notwendigkeit … Weiterlesen

Quelle: http://fortifica.hypotheses.org/85

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Japans „glückliche“ Jugend – Im Gespräch mit Carola Hommerich

Carola Hommerich ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIJ Tokyo. Hier arbeitet sie zu Glück und sozialer Ungleichheit in Japan und erforscht insbesondere die Zusammenhänge von objektiver Prekarität und subjektivem Exklusionsempfinden. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der umfragegestützten, interkulturell vergleichenden Einstellungs- und Werteforschung sowie der soziologischen Ungleichheitsforschung.

Carola Hommerich ist Wissenschaftliche
Mitarbeiterin am DIJ Tokyo. Hier arbeitet sie zu Glück und sozialer Ungleichheit in Japan und erforscht insbesondere die Zusammenhänge von objektiver Prekarität und subjektivem Exklusionsempfinden.
Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der umfragegestützten,  interkulturell vergleichenden Einstellungs- und Werteforschung sowie der soziologischen Ungleichheitsforschung.

Frau Hommerich, war früher wirklich alles besser?

Das kommt darauf an, was man unter „früher“ versteht. Vergleicht man die Situation der heute 20- bis 30-jährigen Japaner mit der ihrer Eltern in den 1970er und 1980er Jahren, dann ist beispielsweise der Einstieg ins Berufsleben heute sicherlich schwieriger und mit mehr Risiken behaftet. Damals war es noch einfacher, eine unbefristete Festanstellung zu finden. Heute liegt der Anteil nicht-regulär Beschäftigter bei den 15-24-jährigen Berufstätigen bei 32,3 Prozent. Ein Wechsel in eine reguläre Anstellung im späteren Berufsverlauf ist nur schwer möglich. In Zeiten des wirtschaftlichen Booms konnte man vermutlich noch etwas unbeschwerter jung sein als heute. Das gilt nicht nur für Japan. Deutschland hat eine ähnliche Verschiebung hin zu befristeten und prekären Jobs erlebt, und in vielen europäischen Ländern ist die Lage der jungen Berufseinsteiger weitaus kritischer. Auffällig ist aber, dass die jungen Japaner stark verunsichert sind: Aus einer international vergleichenden Umfrage des japanischen Kabinettbüros von 2013 geht hervor, dass sich die japanische Jugend große Sorgen macht – um ihre berufliche Zukunft, um ihre Rente, um die wirtschaftliche Situation Japans allgemein, um soziale Beziehungen am Arbeitsplatz. Insgesamt sind diese Ängste stärker ausgeprägt als in den Vergleichsländern Deutschland, den USA, Schweden, Korea und Frankreich – dabei sind junge Menschen etwa in Frankreich objektiv größerer Prekarität ausgesetzt als in Japan.

Sie haben sich 2009 in einer Monographie für die Reihe des Deutschen Instituts für Japanstudien (DIJ) mit dem Thema „Jugend und Arbeit“ auseinandergesetzt. Woher kam Ihr Interesse für dieses Thema?

Die Idee für den Vergleich entstand während eines Auslandssemesters in Tokyo im Winter 2001/2002. Mir fiel auf, dass meine japanischen Freunde sich mit ähnlichen
Themen befassten wie meine deutschen Kommilitonen und ich: Wie soll es nach dem Studium weitergehen? Soll ein Job vor allem gut bezahlt werden, oder sollen Inhalt und individuelle Gestaltungsfreiheit im Vordergrund stehen? Mich hat damals interessiert,
ob es in Japan langfristig zu einer Individualisierung kommt, in dem Sinne, dass Selbstverwirklichung als wichtiger bewertet wird als finanzielle Sicherheit. Mit dem Eintritt ins Berufsleben verschieben sich die Prioritäten aber, da die Realität des Arbeitsmarktes
den idealistischen Ansprüchen nicht gerecht wird. Nach einigen Jahren in prekären Jobs, die zwar Raum für Selbstverwirklichung, Hobbys und Freunde lassen, aber bei denen man finanziell immer an der Armutsgrenze lebt, rücken materielle Aspekte letztendlich
doch stark in den Vordergrund – gerade wenn es irgendwann darum geht, eine Familie zu gründen. In der Hinsicht waren sich junge Japaner und junge Deutsche sehr ähnlich. In Deutschland habe ich mir damals die gut ausgebildete „Generation Praktikum“ angeschaut. Davon schafften es die meisten nach einer Art „Leidenszeit“ in verschiedenen Praktika doch auf eine feste Stelle. Im stark segmentierten japanischen
Arbeitsmarkt ist der Übergang in eine reguläre Beschäftigung dagegen meist nur schwer möglich. So verfestigt sich die Prekarität im Lebensverlauf. Mittlerweile sehen junge Japaner nicht-reguläre Jobs nicht mehr als Möglichkeit, etwas auszuprobieren, oder als Chance auf Freiheit und Selbstbestimmung. Das hat sich vor allem nach der internationalen Finanzkrise noch verstärkt: Bei den jungen Absolventen stehen heute wieder finanzielle Sicherheit und Planbarkeit an erster Stelle.

In Ihrer Monographie „‚Freeter‘ und ‚Generation Praktikum‘ – Arbeitswerte im Wandel? Ein deutsch-japanischer Vergleich“ beschreiben Sie eine verlorene Generation. Von der japanischen Bevölkerungsgruppe zwischen 15 und 24 Jahren waren 2003 9,8 Prozent arbeitslos. Durch die steigende Jugendarbeitslosigkeit ist vor allem Südeuropa mit ähnlichen Problematiken konfrontiert. Wie ist Japan mit diesen kritischen Entwicklungen umgegangen?

Im Vergleich zu Jugendarbeitslosenraten von über 55 Prozent, wie in Griechenland oder Spanien, klingen fast 10 Prozent nicht besonders problematisch. Es kommt aber darauf an, an was eine Gesellschaft gewöhnt ist. In Japan lag die Arbeitslosenrate von Anfang der 1970er bis Mitte der 1990er Jahre unter 3 Prozent. Dagegen sind 10 Prozent Jugendarbeitslosigkeit erschreckend viel. Man kann allerdings nicht behaupten, dass die japanische Regierung besonders viel unternommen hätte, um den jungen Menschen den Berufseinstieg zu erleichtern. Politische Maßnahmen richteten sich eher an ältere Arbeitnehmer, die die Zeit nach der Pensionierung mit 60 Jahren bis zum Beginn der Rentenzahlungen mit 65 Jahren überbrücken müssen. In dieser Gruppe war der Anteil Arbeitsloser ebenfalls stark – auf 8 Prozent – angestiegen. Die Hauptstrategie zur Reduktion von Arbeitslosigkeit in Japan war Deregulierung. So kommt es, dass so hohe Anteile junger Menschen in atypischen, meist befristeten Jobs sind. Empfehlenswert finde ich diese Vorgehensweise nicht. Eine neue Studie von Wei-hsin Yu von der Universität Texas zeigt für Japan, dass sich eine nicht-reguläre Beschäftigung langfristig negativer auf die individuelle Karriere auswirkt, als eine Phase der Arbeitslosigkeit. Allerdings müsste man das in weniger stark segmentierten Arbeitsmärkten überprüfen und auch psychologische Aspekte einbeziehen. In der Hinsicht ist eine Beschäftigung, auch wenn sie prekär ist, immer noch besser als keine. Das zeigen Daten einer landesweiten Befragung, die ich 2009 für das DIJ in Japan durchgeführt habe: Arbeitslose fühlen sich sehr viel stärker von der Gesellschaft ausgeschlossen als atypisch Beschäftigte. Diese Exklusionserfahrung wirkt sich stark negativ auf das subjektive Wohlbefinden aus.

Der „Jugend von heute“ wurde erst kürzlich in einem „Weckruf “ der FAZ wieder vorgeworfen, sie würde sich zu wenig auflehnen. Gibt es in Japan einen vergleichbaren Diskurs und wenn nicht, warum?

In Japan wurde die Jugend über die letzten Jahrzehnte hinweg immer wieder für ihre Passivität und ihr politisches Desinteresse kritisiert. Durch ihr selbstzentriertes und in sozialen Belangen apathisches Verhalten würde sie der Gesellschaft schaden. Die Gründe für dieses Verhalten werden unterschiedlich interpretiert. Der junge Soziologe Noritoshi Furuichi beispielsweise behauptet, die Jugend wisse, dass sie kaum politischen Einfluss habe – durch die starke demografische Alterung ist die Jugend als Wählergruppe eher uninteressant – und dass es für sie keine Aussicht auf sozialen Aufstieg gäbe. Statt nach Höherem zu streben oder für ihre Rechte zu kämpfen, habe sie sich mit ihrer Situation arrangiert und sei damit zufrieden. Ich denke, seine Einschätzung ist nicht ganz falsch, zumindest was die Desillusion betrifft. In einem zentralen Punkt würde ich ihm aber widersprechen: Was ich an Daten kenne, spricht eindeutig gegen eine „glückliche“ Jugend. Im Gegenteil: Ein Großteil der jungen Japanerinnen und Japaner ist unzufrieden und zutiefst verunsichert, steht unter immensem Leistungsdruck und hat Angst, den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren. Das gilt auch für die besonders gut Ausgebildeten. Ähnlich wie in Deutschland handeln sie stark „Lebenslauf-gesteuert“ – bei Handlungsentscheidungen wird immer auch abgewogen, wie etwas in der Bewerbungsmappe wirkt.

Sowohl Japan als auch Deutschland sind einem massiven demografischen Wandel ausgesetzt. Wie wirkt sich dieser Ihrer Meinung nach auf den Jugendbegriff beider Gesellschaften aus? Kann man hier noch von „Generationen“ sprechen?

Politische Maßnahmen richteten sich eher an ältere Arbeitnehmer, die die Zeit nach der Pensionierung mit 60 Jahren bis zum Beginn der Rentenzahlungen mit 65 Jahren überbrücken müssen.

Politische Maßnahmen richteten
sich eher an ältere Arbeitnehmer, die die
Zeit nach der Pensionierung mit 60 Jahren
bis zum Beginn der Rentenzahlungen
mit 65 Jahren überbrücken müssen.


Von Generationen kann man sicherlich auch weiterhin sprechen. Allerdings verschiebt sich die Bedeutung, die den Problemen einzelner Generationen zugeschrieben wird. Die Vernachlässigung der japanischen Jugend durch die Politik ist meiner Ansicht nach ein schwerwiegendes Problem. Das zeigt sich bereits am oben erwähnten Beispiel von
Arbeitsmarktmaßnahmen, die sich mehr auf die finanziell gut abgesicherte, aber zahlenmäßig starke Generation der Älteren richteten, als auf die prekäre, aber mit Blick auf Wählerstimmen eher unbedeutende Generation der Jungen. Auch in Bezug auf Familienpolitik passiert in Japan zu wenig. Als sei die niedrige Fertilitätsrate kein existentielles Thema. Das ist es aber natürlich, wenn ein Viertel der Bevölkerung älter als 65 Jahre ist. Zukunftsweisend ist eine solche Politik nicht.

Stichwort: „30 ist das neue 40“ – junge Menschen scheinen sich immer früher alt zu
fühlen. Das steht im Gegensatz zu unserer tatsächlichen Lebenserwartung und körperlichen Fitness. Definiert sich die deutsche Gesellschaft gegenwärtig mehr über das Alter als über andere Merkmale? Und wie geht man in Japan mit dem Älterwerden um?

Die Quarterlife Crisis auf die Sie sich beziehen, ist tatsächlich ein Problem. Ich glaube aber, dass es dabei nicht um die Frage geht, wie alt man ist oder sich fühlt, sondern darum, dass viele junge Menschen einen Leistungsdruck erleben, der sie überfordert.
Das beginnt in der Schule, zieht sich durchs Studium und dann weiter hinein ins Berufsleben. Unter meinen deutschen und japanischen Interviewpartnerinnen und -partnern hatten viele die Vorstellung, dass dieser Druck mit dem Eintritt ins Arbeitsleben aufhört. Die Realität sah aber meist anders aus: Die Anspannung wuchs noch, weil der erste Job auf wenige Monate befristet war, oder hohe Leistung bei extremen Arbeitszeiten forderte. Einige hielten diesem Druck nicht stand und erlebten eine Art Burn-out bis hin zu starken psychischen Problemen. Das gab es in Deutschland genauso wie in Japan. Im Großen und Ganzen ist mein Eindruck aber, dass die jungen Deutschen mit den Risiken postmoderner Erwerbsbiographien besser umzugehen wissen als ihre japanischen
Altersgenossen. Das liegt möglicherweise daran, dass sie nicht mit der Erwartung aufgewachsen sind, ein Leben lang bei einer Firma zu arbeiten. In Japan ist das immer noch die Idealvorstellung. So steht etwa bei der Wahl der Universität und des Studienfachs nicht die Frage im Vordergrund, was man einmal inhaltlich machen möchte, sondern wie hoch der Anteil von Absolventen dieser Universität ist, der bei einem großen Unternehmen festangestellt wird. Von beruflicher Selbstverwirklichung ist man da weit entfernt.

Quelle: http://gab.hypotheses.org/1493

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Kulturgeschichte und chinesische Medizin


"Die Tradition der Chinesen dürfte in der ganzen Welt ohne Beispiel sein, den berühmtesten Ärzten in den größeren Städten des Landes überall Tempel zu erbauen, um die Erinnerung an sie wachzuhalten und sie zu verehren. In diesen "Tempeln der Medizinkönige" sind ihre Namen auf Tafeln verzeichnet, und die Menschen gingen bis zu Anfang dieses [d.i., des 20.] Jahrhunderts in die Hallen und brachten den Geistern der Ärzte Opfergaben." (yaowangmiao [藥王廟])[1]

Dieser Satz aus Manfred Porkerts Die chinesische Medizin regt dazu an, sich mit den kulturgeschichtlichen Aspekten der traditionellen chinesischen Medizin zu beschäftigen[2].

Vor allem die Verehrung des angeblich von 581 bis 682 lebenden Arztes Sun Simiao 孫思邈[3] scheint alle Dynastiewechsel des kaiserlichen China sowie alle Umbrüche des 20. Jahrhunderts überdauert zu haben.  Während der Qing-Dynastie (1644-1912) wurde Suns angebliche Heimatstadt in Yaowang Shan 藥王山 (d. i. "Medizinkönig-Berg") umbenannt [4]  Nach wie vor wird Sun Simiao beispielsweise in dem im Süden Beijings liegenden Baiyun Si  白雲寺 ("Tempel der Weißen Wolke") verehrt.[5]

Neben dem hier exemplarisch genannten (volks)religiösen Aspekt bieten sich für weitere Betrachtungen von "Wechselwirkungen" zwischen Medizin und Kulturgeschichte in erster Linie wohl die Bereiche Bildung/Buchdruck und Ernährung an. Da man von einer einführenden Darstellung zur Kulturgeschichte Chinas nicht unbedingt ein Kapitel über die traditionelle Medizin erwarten sollte, werden die "medizinischen" Aspekte wohl bei den genannten Bereichen in die Darstellung einfließen.

 

  1. Manfred Porkert: Die chinesische Medizin (Düsseldorf, 2. Aufl. 1989) 287.
  2. Zu berühmten chinesischen Ärzten vgl. die sehr kurzen biographischen Angaben unter "Famous Chinese Physicians of the Past" auf den Seiten des Institute for Traditional Medicine, Portland, Oregon
  3. Zu Leben und "Nachleben" Suns vgl. Paul U. Unschuld: "Der chinesische "Arzneikönig" Sun Simiao. Geschichte - Legende - Ikonographie. Zur Plausibilität naturkundlicher und übernatürlicher Erklärungsmodelle." In: Monumenta Serica 42 (1994) 217-257.
  4. Vgl. dazu Iiyama Tomoyasu, Macabe Keliher (trans.): "Maintaining Gods in Medieval China: Temple Worship and Local Governance in North China under the Jin and Yuan" In: Journal of Song-Yuan Studies 40 (2010) 79 Anm. 11. Anm. d. Übers.
  5. Vgl. etwa Volker Scheid: Chinese Medicine in Contemporary China. Plurality and Synthesis (Durham 2002) 17.

Quelle: http://wenhua.hypotheses.org/1512

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Wein für den neuen Gouverneur

Neue Nachbarn sollte man willkommen heißen, besonders wenn sie potentiell gefährlich waren. So oder so ähnlich wird der Rat der Stadt Wesel gedacht haben, als er davon hörte, daß die spanische Garnison im knapp 30 km entfernten Geldern „widder“, wie es hieß, einen neuen Kommandeur bekommen hatte. Am Montag, den 25. November 1647, wurde daraufhin in der Ratssitzung beschlossen, Arnhold Bongardt nach Geldern zu schicken. Dort sollte er dem neuen „Gubernator“, wie er im Ratsprotokoll genannt wurde, seine Aufwartung machen und ihm Wein verehren.

Am Dienstag, 3. Dezember 1647, erfolgte dann der Bericht des Weseler Abgesandten vor dem Rat der Stadt Wesel: Er habe dem Gouverneur „salutirt“ und ihm den Wein übergeben. Damit hatte er aber die Bitte verbunden, der Gouverneur möge die spanischen Streifparteien anhalten, „daß sie hiesige burger mit abpressungh einigh bier oder tuback [!] gelt nicht molestieren sollen.“ Tatsächlich versprach der Gouverneur darauf hin zu wirken, „daß die partheien keine vberlast den burgern zufuegen sollen.“

Was sich hier abspielte, war ohne Zweifel eine in langen Jahrzehnten eingeübte Praxis. Schon seit den frühen Jahren des niederländischen Aufstands, spätestens aber seit dem Niederrheinischen Erbfolgefall, in dessen Zug spanische und generalstaatische Truppen feste Positionen am Niederrhein besetzt hielten, waren die Streifparteien beider Armeen eine ständige Belastung für die Bevölkerung. Letztlich reagierte auch der Rat von Wesel relativ routiniert auf den Personalwechsel in Geldern, auch wenn man sich in der Stadt wenig Illusionen über den Effekt dieser Initiative gemacht haben wird. Doch war ein solcher Antrittsbesuch, wie Bongardt ihn namens Wesel unternahm, sicherlich wichtig; face-to-face-Kommunikation war durch verschickte Briefe nicht zu ersetzen.

Auffällig ist der Hinweis auf das Verfahren der spanischen Söldner: Daß sie einfach nur Geld für Bier und Tabak haben wollten, hört sich wie eine fast schon gutmütig-sympathische Form der Wegelagerei an. Sicher mag schon ein solches zwangserhobenes Trinkgeld dem einen oder anderen Betroffenen eine schmerzhafte Lücke in die Börse gerissen haben. Doch im Vergleich zu den Praktiken der 1620er Jahre, als man beim sog. „Fangen und Spannen“ die Reisenden gefangen setzte, verschleppte und für viel Lösegeld freikaufen ließ, erscheint das Biergeld tatsächlich recht harmlos. Ob sich die Kriegsparteien und die Bevölkerung im Laufe der Jahre und Jahrzehnte tatsächlich etwas aneinander gewöhnt und gleichsam humanere Formen des Straßenüberfalls entwickelt hatten? Oder war diese Formulierung nur ein Euphemismus für immer noch sehr gewalttätige Übergriffe?

Die Hinweise hier sind entnommen dem Ratsprotokoll der Stadt Wesel (Stadtarchiv Wesel, A 3: Ratsprotokolle Nr. 97 [1647-1648], hier fol. 103‘ und 106‘), übrigens eine wunderbare Fundgrube für ganz unterschiedliche thematische Aspekte (und gut lesbar zudem!). An der Stelle auch einen herzlichen Dank an meine Kollegin Irena Kozmanová, die derzeit mit diesem Material arbeitet und mir hier Einblick gewährte.

Quelle: http://dkblog.hypotheses.org/572

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Die Wissenschaft vom Multitask

Wenn ich als Kind gerade nicht Schriftsteller werden wollte, war definitiv Wissenschaftler mein Berufswunsch. Ich weiß nicht, ob es euch auch so ging, aber ich hatte da einen verschrobenen Geist vor Augen, der sich 24 Stunden täglich und an sieben Tagen in der Woche um eine Forschungsfrage kümmern kann, die er dann irgendwann löst. Und wenn ich mir jetzt meine tägliche Arbeit so anschaue, muss ich feststellen, dass die Wirklichkeit bei mir - wie bei eigentlich allen Kolleg|inn|en in meinem näheren Umfeld - doch ein wenig anders aussieht.

Ich will hier jetzt gar nicht das große Klagelied anstimmen, dass ja sowieso immer alles auf den Mittelbau abgewälzt wird, der dazu meist noch unter dem Damoklesschwert der Befristung darbt. Nein, ich glaube, insgesamt geht es sicher auch der Professor|inn|enschaft nicht besser, die zwischen Lehre und administrativen Aufgaben auch um Zeit ringen muss, sich mit der eigenen Forschung beschäftigen zu können (was der PHD-Comic ganz nett einfängt, wobei der eher die amerikanischen Hochschullehrer abbildet).

PHD comics by Jorge Cham
www.phdcomics.com

Da meine Aufgaben in letzter Zeit immer mehr zerfaserten, musste ich eine Organisationsstruktur zurechtlegen, die mich überall einigermaßen auf dem Laufenden halten kann, welche Aufgaben dringend der Behandlung bedürfen, ohne aus den Augen zu verlieren, was noch so alles erledigt werden muss. Was habe ich nicht alles ausprobiert - Tafelbilder auf dem Whiteboard hinter mir oder Task-Listen auf Schmierzetteln vor mir festgehalten, e-Mails sortiert, zweistellige Zahlen von Google-Docs angelegt und dazu To-Do-Listen auf unterschiedlichen Plattformen ausprobiert. Momentan bin ich dabei angekommen, auf Evernote je eine Notiz zu allen verschiedenen Aufgaben, die ich im Moment betreue, anzulegen und dort wichtige Termine und ToDos festzuhalten. Momentan liegen in dem Ordner zehn dieser gegliederten Notizzettel. Über jeden dieser Zettel könnte ich eigentlich mal einen Blogpost schreiben, es sind durchweg interessante Aufgaben, denen ich aber leider immer nur einen Teil meiner Zeit opfern kann.

Da muss ich z.B. meine Lehrveranstaltungen vorbereiten, managen und eventuelle Prüfungsleistungen korrigieren. Mit dem Kollegen dessen Dissertation besprechen. Oder den BA-Studiengang Informationsverarbeitung für die Re-Evaluierung neu strukturieren. Den MA-Studiengang als 1-Fach-Master völlig neu konzipieren, Austauschmodule zu anderen Studiengängen entwerfen und absegnen. Mit meinen Kollegen Überlegungen zur strategischen Ausrichtung des Institutes anstellen, mit verwandten Fachbereichen Kooperationen absprechen, überlegen, wie wir uns besser in das Cologne Center for e-Humanities eingliedern, und ob ich dort meine Pflichten als stellvertretender Sprecher irgendwie besser ausfüllen könnte. Mögliche Forschungsprojekte ausdenken, ausgedachte anschieben, angeschobene beantragen, bewilligte beaufsichtigen, weiterdenken, Zwischen- und Abschlussberichte verfassen, Ergebnisse veröffentlichen, diverse Formblätter zur Drittmittelanzeige, zur Vollkostenkalkulation, zur Rechnungsstellung ausfüllen, vom Justiziariat belehrt werden, was der Unterschied zwischen Auftragsforschung und Kooperationsverträgen ist, Meetings ansetzen mit Projektmitarbeiter|inne|n, mit unseren Admins, mit dem gesamten Lehrstuhl, mit dem gesamten Institut, mit der CCeH-Geschäftsführung. Dazu irgendwie auf dem Stand der Forschung bleiben in so hochdifferenzierten und weitläufigen Bereichen wie der Computerlinguistik, der Softwaretechnologie und der Wissenschaftskommunikation.

Noch einmal: Ich will nicht jammern, im Gegenteil bin ich in meinem Job wirklich glücklich (gut, ohne Befristung schliefe ich besser). Man muss halt Kompromisse oder Synergien finden - eine Lehrveranstaltung bspw. an ein Thema koppeln, zu dem man gerade ein Projekt leitet. Projekte anschieben, die kompatibel mit dem eigenen Forschungsvorhaben sind. Teile der eigenen Forschung in davon unabhängig gestellte Projekte einbringen. Delegieren, netzwerken, den Überblick behalten. Ich war nie ein besonders guter Multitasker und ich werde es vermutlich auch nie werden. Mit der Nutzung geeigneter Software (Evernote für mich, Google Drive für die Bearbeitung gemeinsamer Dokumente, mitunter, wenn viel Kleinkram auf einmal kommt, auch eine ToDo-Liste wie Wunderlist) ist es mir aber in Teilen möglich, die Multitasks auf eine Reihe von Einzeltasks aufzuteilen, die mein Hirn nicht überfordern. Auch wenn ich froh sein werde, wenn die aktuellen Notizzettel weniger werden sollten, kann ich so noch eine Weile produktiv (Selbstbild) arbeiten. Immerhin hatte ich ja Zeit, diesen Blogpost zu schreiben. Und bald sind ja auch Weihnachtsferien, in denen man dann all das, was in den letzten Monaten hinten runter gefallen ist, aufarbeiten kann...

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/1208

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Das Siegel der Universität Oxford an einer Urkunde des 18. Jahrhunderts

Oxford_Siegel_klein

 

Interessant sieht das Siegel aus, das die engliche Ehrendoktorwürde der Universität Oxford eines westfälischen Adeligen aus dem 18. Jahrhundert beglaubigte. Erstaunlicherweise hat es mit dem heutigen " Siegel" bzw. Logo der Universiät visuell kaum etwas zu tun (http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Uni_oxford_logo,.svg&filetimestamp=20081116171714&).

Es zeigt im Bild die Universität des Mittelalters: In der Mitte übergroß der  Professor, der seinen Studenten eine Vorlesung hält. Die Studenten sitzen auf einem typisch mittelalterlichen Holzgestühl rund um ihren Professor gescharrt. Ob es sich bei dem abgebildeten Professor um einen Heiligen handelt, wird nicht deutlich. Er ist in jedem Fall, wie die sichtbare Tonsur erkennen lässt Mönch. Die Umschrift lautet: "+Sigill[um] cancellarii  et universitatis Oxoniens". Auch der Ochse, der sprechend in späterer Zeit im Siegel eine Rolle spielt. (Vgl. z.B. das Siegel von 1433:http://archives.balliol.ox.ac.uk/Archives/stcross01.asp)

Es ist tatsächlich zur Mitte des 18. Jahrhunderts das älteste Siegel der Universität Oxford, das an die Urkunde mit der Ehrendoktowürde gehängt wird. Es stammt nachweislich aus dem Jahr 1300.  Trotz anderer Siegel und eines schon füh aufkommenden Wappens (http://www.oua.ox.ac.uk/enquiries/arms.html), das in späterer Zeit als Siegel, bzw. Symbol der Universität genutzt wurde, griff man zu diesem besonderen Anlass auf das älteste Siegel zurück. Es wurden also zeitgleich mehrere Siegel gleichzeitig genutzt. Dies tat man einerseits aus legitimatorischen Gründen, anderseits aus traditionellen. Auf diese Weise wurde die lange Geschichte der Universität, die bis in das 11. Jahrhundert zurückreicht hervorgehoben und die Würde und Bedeutung der Ehrendoktorwürde betont. Vermutlich wurde es in der frühen Neuzeit für diese besonderen Zwecke genutzt, ähnlich wie in mittelalterlichen Städten das sogenannte "große Stadtsiegel". Die älteste Siegel an dieser Stelle hat damit in doppelter Weise beglaubigende Funktion, einmal in rechtlicher und dann in historischer Art und Weise.

 

Literatur: A Short History of the English People by J R Green (Macmillan, 1892).

 

 

 

Quelle: http://siegelblog.hypotheses.org/47

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Klassenkampf auf Grönländisch

Parlamentswahlen im Zeichen des Konflikts zwischen Zentrum und Peripherie

von Ebbe Volquardsen

Als das Grönländische Fernsehen (KNR) am Freitag, den 28. November 2014, kurz nach Schließung der Wahllokale seine Prognose veröffentlichte, sah alles danach aus, als würde sich bewahrheiten, was die Umfragen seit Wochen vorausgesagt hatten. Sara Olsvig, 36 Jahre alt, studierte Anthropologin und frisch gewählte Vorsitzende der linken Oppositionspartei Inuit Ataqatigiit (IA), würde, so ließ sich das Balkendiagramm lesen, gemeinsam mit den sozialliberalen Demokraten eine souveräne Mehrheit erhalten und Grönlands neue Premierministerin werden. Die bisherigen Regierungsparteien, die sozialdemokratische Siumut und die bürgerliche Atassut, lagen weit abgeschlagen. Doch es sollte anders kommen.

Der spannende Wahlabend begann mit der Veröffentlichung der Prognose. Foto: Ebbe VolquardsenDer lange Wahlabend begann mit der Veröffentlichung der Prognose. FOTO: EBBE VOLQUARDSEN

Als sich nicht mehr leugnen ließ, dass die tatsächlichen Hochrechnungsergebnisse erheblich von der Prognose abwichen, diese gar ins Gegenteil verkehrten, räumte der Moderator ein, auf welche Weise der »Exit Poll« zustande gekommen war. Man hatte direkt nach dem Urnengang gut 1100 Wähler nach deren tatsächlichem Wahlverhalten gefragt, eine Zahl, die bei rund 40000 Wahlberechtigten eigentlich repräsentative Daten versprach. Allerdings hatte das Fernsehen seine Demoskopen nur in die vier größten Städte geschickt. In der Hauptstadt Nuuk, dem wichtigen Fischereihafen Sisimiut, der Tourismushochburg Ilulissat und dem wirtschaftlich angeschlagenen Qaqortoq ganz im Süden lebt zusammen etwas mehr als die Hälfte der Grönländer. Verlässliche Daten ließen sich hier trotzdem nicht ermitteln.

Die Schwierigkeiten der Meinungsforscher verdeutlichen Besonderheiten, die in Grönland Teil der politischen Realität sind. Keiner der 74 bewohnten Orte ist mit einem anderen durch eine Straße verbunden. Flugzeuge, Helikopter und eine in den Sommermonaten verkehrende Fähre sind die einzigen Städte und Dörfer verbindenden Verkehrsmittel. Auch Politiker, Journalisten und Demoskopen verfügen nicht über ausreichend Zeit und finanzielle Mittel, um in allen Landesteilen präsent zu sein. In der Bevölkerung trägt die spärliche Infrastruktur zu sozialer Ungleichheit und zur Verfestigung höchst unterschiedlicher Lebensentwürfe bei, Konfliktlinien, die sich auch im Wahlverhalten niederschlagen. Während eine privilegierte, gebildete und global orientierte Elite aus Nuuk mittlerweile zum Einkaufen ins isländische Reykjavík, häufig nach Kopenhagen und von dort in alle anderen Teile der Welt fliegt, stellt schon eine Reise in die Hauptstadt in den Biografien vieler Bewohner der abgelegenen Landesteile ein einmaliges Ereignis dar. Das Durchschnittseinkommen in Nuuk ist viermal höher als in den ärmsten Küstenorten.

Unterschiedliche Lebensrealitäten
Die unterschiedlichen Lebensrealitäten in Zentrum und Peripherie werden besonders dann sichtbar, wenn auch diejenigen eine Stimme haben, die im Alltag nur selten Gehör finden. An den Wahlen nehmen auch die traditionell lebenden Fischer und Robbenfänger an den zahlreichen Außenposten teil, an der alltäglichen politischen Debatte in der Regel nicht. So bewahrheitet sich im selbstverwalteten Grönland, was der Soziologe Seymour Martin Lipset bereits zu Beginn der 1980er Jahre als generelle Entwicklung aller demokratischen Systeme prognostiziert hatte: die Relevanz der klassischen ökonomischen Scheidelinie zwischen links und rechts schwindet zugunsten eines neuen gesellschaftlichen Konflikts, der zwischen jenen ausgetragen wird, die in soziokulturellen Fragen postmaterielle Positionen vertreten (können) und jenen, die an traditionellen Werten festhalten.

Letztere Wähler vertreten in Grönland die sozialdemokratische Siumut-Partei und die neue Partii Naleraq des ehemaligen Premierministers Hans Enoksen, die sich als Lobby der kleinen Leute und der Fischereiwirtschaft versteht. Wie die urban orientierte Inuit Ataqatigiit (und die inzwischen bedeutungslose Partii Inuit) verorten sich auch Siumut und Naleraq auf der linken Hälfte des politischen Spektrums. In der Tat: Mehr als 80 Prozent der Grönländer haben am Freitag links gewählt, mehr als 90, wenn man die sozialliberalen Demokraten dazurechnet. Von der »rotesten Demokratie der Welt« sprach Lars Trier Mogensen in der dänischen Zeitung Information. Dennoch: Bei der Suche nach einer gemeinsamen politischen Linie haben die Kategorien links und rechts jegliche Bedeutung verloren. In Grönland schwelt ein sozialer Konflikt, der sich mit dem Schlagwort »Nuuk gegen den Rest« beschreiben lässt. Eine Prognose, die die Stimmen aus der Hauptstadt überrepräsentiert, liefert zwangsläufig ein verzerrtes Bild.

Die Haupstadt Nuuk ist Hochburg der Partei Inuit Ataqatigiit. FOTO: EBBE VOLQUARDSEN

In der Hauptstadt Nuuk hat die Partei Inuit Ataqatigiit ihre Hochburg. FOTO: EBBE VOLQUARDSEN

Nachdem die Siumut-Partei mit ihrem neuen Vorsitzenden, dem Polizeibeamten Kim Kielsen, entgegen aller Erwartungen über den gesamten Wahlabend hinweg souverän in Führung gelegen hatte, wurde es kurz vor Schluss doch noch spannend. Endlich waren auch die Stimmen aus Nuuk ausgezählt. In der Hauptstadt hatten sich fast 70 Prozent der Wähler für Inuit Ataqatigiit und Demokraten entschieden. Auf einmal lagen reformaffiner Stadtblock und Traditionalisten landesweit fast gleichauf. Mit nur 300 Stimmen Vorsprung machte Siumut am Ende das Rennen. Seit Montag führt Kim Kielsen Koalitionsverhandlungen. Erwartet wird, dass sich Grönlands künftiger Premier gegen eine große Koalition und für eine Regierung aus Siumut, Naleraq und bürgerlicher Atassut entscheidet. Ein solches Bündnis hätte eine Einstimmenmehrheit. In den hippen Cafés im Stadtzentrum von Nuuk herrscht seither Katerstimmung; von einem »schwarzen Freitag« ist die Rede.

Jahre des Aufbruchs
Noch vor ein paar Jahren hatte alles ganz anders ausgesehen. 2008 hatte sich eine überwältigende Mehrheit der Grönländer in einer Volksabstimmung für die Selbstverwaltung ausgesprochen. Es begann eine Zeit des Aufbruchs. Grönländisch wurde Amtssprache, der lokalen Regierung wurden zahlreiche neue Verantwortlichkeiten übertragen, unter anderem für die Verwaltung der unter dem schmelzenden Eis vermuteten Rohstoffe, die langfristig eine völlige Loslösung von Dänemark finanzieren könnten. Die grönländischen Wähler hatten Mut bewiesen – und waren der Meinung, dass neue Politiker her mussten, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Bei den nächsten Wahlen schickten sie die jahrzehntelang dominierende Siumut-Partei erstmals in der Geschichte des grönländischen Parlamentarismus in die Opposition. Wie in vielen anderen ehemaligen Kolonien war die Regierungszeit der Partei wiederholt von Korruption und Vetternwirtschaft geprägt gewesen. Nun übernahm ein neues Bündnis aus Inuit Ataqatigiit und Demokraten unter Führung von Premierminister Kuupik Kleist (IA).

Kleist ist einer von den Menschen, die den meisten – unabhängig von politischer Nähe – sofort sympathisch und vertrauenserweckend erscheinen. Es muss irgendetwas mit seinem Äußeren zu tun haben, mit seiner Gestik und Mimik. Selbst der treueste Siumut-Anhänger in der grönländischen Provinz würde Kleist bedenkenlos einen Gebrauchtwagen abkaufen, wenn es denn Straßen gäbe, auf denen man damit fahren könnte. Dies und wohl auch seine Herkunft aus Qullissat, einer 1972 rabiat abgewickelten Bergarbeiterstadt und seither Symbol postkolonialer Empörung, mögen begünstigt haben, dass sich die Grönländer 2009 über alle sozialen Klassengrenzen hinweg mehrheitlich für einen politischen Neuanfang unter Kleists Führung aussprachen.

Erstmals hatte Grönland nun eine Regierung, deren Minister größtenteils an Universitäten studiert hatten, zumeist in Dänemark. Hatte Kleists Vorgänger, der heutige Naleraq-Vorsitzende Hans Enoksen, sich ausschließlich auf Grönländisch geäußert und selbst für dänische Gespräche einen Dolmetscher hinzugezogen, so verhandelten die Mitglieder des ersten Selbstverwaltungskabinetts, unter ihnen gleich mehrere junge Frauen, nicht nur auf Dänisch, sondern auch souverän auf Englisch. Zu einer Zeit, als Grönland aufgrund der neuen Selbstverwaltung, des Klimawandels und der im Land vermuteten Rohstoffe weltweite Aufmerksamkeit auf sich zog, machte Kleists Regierung eine gute Figur auf internationalem Parkett. Mit der grönländischen Sprache indes hatten einige der Minister ihre Schwierigkeiten.

Postkoloniale Nachwehen
Das sprachpolitische Schisma Grönländisch versus Dänisch ist eine der zähesten nur schwer zu überwindenden postkolonialen Nachwehen. Obwohl Grönland als zweisprachig zu bezeichnen ist, gilt das längst nicht für alle Bewohner. Es wird geschätzt, dass etwa die Hälfte der Grönländer nur wenig oder gar kein Dänisch spricht und versteht. Hinzu kommt, dass in Ostgrönland und ganz im Norden um die Siedlung Qaanaaq Dialekte gesprochen werden, die so stark von der grönländischen Standardvarietät abweichen, dass das Westgrönländische, wie es in Nuuk gesprochen wird, für diese Menschen praktisch erste Fremdsprache ist. Doch es gibt auch Grönländer, die ihre eigene Landessprache nur unzulänglich beherrschen.

Bis in die 1990er Jahre hinein war das Schulsystem streng zweigeteilt; es gab grönländischsprachige und dänischsprachige Klassen. Letztere waren ursprünglich eingerichtet worden, um die Kinder der im Land lebenden Dänen in deren Muttersprache zu unterrichten. Doch auch viele grönländische Eltern entschieden sich für die mit höherem sozialem Status verbundenen dänischen Klassen. Auf diese Weise entstand eine Minderheit von rein dänischsprachigen Grönländern, denen einerseits hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten an dänischen Universitäten offenstanden, die aber andererseits nicht in der Lage waren mit ihren Landsleuten außerhalb des dänisch geprägten Nuuk zu kommunizieren, und denen daher zuweilen vorgeworfen wird, keine richtigen Grönländer zu sein.

Wie offen die aus dem Sprachenkonflikt resultierenden Wunden noch immer sind, illustriert die kurze Erfolgsgeschichte der Partii Inuit, die 2013 aus dem Stand mit über sechs Prozent der Stimmen ins grönländische Parlament einzog. Empört über Kleists Inklusion der rein dänischsprachigen Minister in sein Kabinett, erklärte sich die Partei zur Interessenvertreterin all jener, die nur die grönländische Sprache beherrschen, und forderte die Verbannung des Dänischen aus allen öffentlichen Institutionen. Konnte die Partei mit ihrer radikal antikolonialen Rhetorik beim ersten Mal noch punkten, so war sie bereits anderthalb Jahre später zur Splittergruppe geworden. Die konsequente Weigerung der freilich zweisprachigen Politiker, sich gegenüber den Medien auf Dänisch zu äußern und an den zahlreichen dänischsprachigen Podiumsdiskussionen teilzunehmen, wurde selbst von der eigenen Zielgruppe nicht goutiert. Nur Grönländisch zu sprechen, ist für die betreffenden Personen keineswegs ein Grund persönlichen oder nationalen Stolz zu empfinden. Im Gegenteil: Es ist ein Grund zur Scham. Privilegierte, die sich, indem sie freiwillig auf den Gebrauch des Dänischen verzichten, zu Repräsentanten der stigmatisierten Einsprachigen erklären, lassen die vermeintlich Repräsentierten die tägliche Demütigung gleich doppelt spüren.

In den kleineren Siedlungen entlang der Küste liegt bei Wahlen meist die Siumut-Partei vorn. FOTO: EBBE VOLQUARDSEN

Sozialer Aufstieg – das ist das postkoloniale Dilemma – ist in Grönland eng mit dem Beherrschen der dänischen Sprache verbunden. Für die gut bezahlten Jobs in Nuuk ist Zweisprachigkeit Voraussetzung, im Zweifelsfall reicht Dänisch aus. Die wiederkehrende Forderung, die erste Fremdsprache Dänisch doch gleich durch das international viel wichtigere und im Fall Grönlands kolonial unvorbelastete Englisch zu ersetzen, erscheint nur auf den ersten Blick als naheliegende Lösung. Grönländer sind dänische Staatsbürger, denen ein Umzug nach Kopenhagen, Aarhus oder Tullebølle jederzeit bedingungslos offensteht. Der für Grönländer am leichtesten zugängliche Arbeits- und Ausbildungsmarkt außerhalb des Heimatlandes würde wegfallen, entschiede man sich für die Hintanstellung des Dänischen auf den Lehrplänen.

Nation Branding
Auch wenn die Konflikte um Sprachfertigkeiten, Ethnizität und die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aufgeworfene Frage, was einen Grönländer eigentlich ausmacht, noch längst nicht beigelegt sind, konnte man in der Regierungszeit Kuupik Kleists den Eindruck gewinnen, dass andere Themen den Grönländern zumindest wichtiger waren. Auf der Welle der positiven Grundstimmung, die die errungene Selbstverwaltung ausgelöst hatte, wurden originelle – teilweise witzige – Nation Branding-Kampagnen entworfen, grönländische Akteure aus Politik, Wirtschaft und Kultur traten souverän und selbstbewusst im Ausland auf, und selbst in Dänemark häuften sich die Anzeichen dafür, dass der verbreitete paternalistische Blick auf die ehemalige Kolonie allmählich einer Sichtweise wich, die Grönland als gleichberechtigte Partnerin innerhalb des Königreichs anerkannte. Wie ausgeprägt der Akzent des Einzelnen, wie dunkel sein Haar, und wie ausgewogen das Verhältnis zwischen Dänen und Inuit auf seinem Stammbaum ist, schienen auf einmal nebensächliche Fragen zu sein. Wer sich mit dem neuen selbstverwalteten Grönland identifizierte, gehörte auch dazu. Am Horizont über der Davis Strait ließ sich bereits die souveräne Staatsnation erahnen.

Angesichts der durchweg gut bewerteten Performanz des ersten Selbstverwaltungskabinetts und der sich positiv entwickelnden Wirtschaft ist erstaunlich, dass die grönländischen Wähler Kuupik Kleist bei den Wahlen im Frühjahr 2013 eine zweite Amtszeit verwehrten. Eine Erklärung dafür mag sein, dass die Realpolitik des besonnenen Premiers den durch die Selbstverwaltung euphorisierten Grönländern nicht markant genug in Richtung einer erhofften wirtschaftlichen Unabhängigkeit und einer daraus folgenden Loslösung von Dänemark wies. Denkbar ist auch, dass sich manche Wähler von der Regierung übergangen oder misrepräsentiert fühlten, jene etwa, die sich aufgrund mangelnder Ausbildung nicht schnell genug an das von Kleist skizzierte global orientierte Grönland anzupassen vermochten. Die postkolonialen Wunden, von denen in Kleists Regierungszeit kaum noch die Rede war, sind noch nicht überall verheilt. An dieser Stelle kam Aleqa Hammond von der Siumut-Partei ins Spiel, die vorgab die heilende Salbe zu kennen. Von März 2013 bis Oktober 2014, als Nuuks Bürger sie förmlich aus dem Amt jagten, war Hammond Grönlands erste Premierministerin.

Ask Rostrup kriegt einen Schreck
Für den Bruchteil einer Sekunde konnte man dem politischen Kommentator des Dänischen Rundfunks (DR) Ask Rostrup anmerken, dass er selbst darüber erschrocken war, was er soeben gesagt hatte. Während ganz Grönland auf die Ergebnisse aus Nuuk wartete, die darüber entscheiden würden, ob das neue Oberhaupt des Landes Kim Kielsen oder Sara Olsvig hieß, hatte das grönländische Fernsehen einige Experten ins Studio geladen. Zusammen mit Rostrup, bekannt für seine scharfzüngigen Analysen, ließ der Moderator Aleqa Hammonds anderthalbjährige Regierungszeit Revue passieren. Dann folgte die Schlussbewertung des dänischen Gasts. Zu keinem Politiker weltweit, resümierte Rostrup, habe Dänemarks Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt je ein schlechteres Verhältnis gehabt als zu Hammond. Ein kurzes Zucken beim Moderator. Derart deutliche Worte von dänischer Seite waren im grönländischen Fernsehen selten. Ein kurzes Zucken beim Gast. Hatte er die Grenze dessen, was zu sagen sich für einen Medienvertreter der ehemaligen Kolonialmacht ziemt, überschritten? Schließlich ein einvernehmliches Nicken. Rostrups Statement war direkt, aber treffend gewesen. Wie hatte es dazu kommen können, dass die zwei Frauen, Regierungschefinnen im selben Königreich und noch dazu beide Sozialdemokratinnen, ein derart angestrengtes Verhältnis zueinander pflegten?

2013 war das internationale Medieninteresse an den grönländischen Parlamentswahlen groß gewesen. Es gab eine Geschichte zu erzählen. Das an Bodenschätzen reiche Grönland stand am Scheideweg, »arktisches Dubai oder arme Fischernation« zu werden, wusste etwa der Fernsehsender n-tv plakativ zu berichten. Dabei herrschte in der grönländischen Politik grundsätzlich Einigkeit darüber, dass die zahlreichen Rohstoffe, etwa die für die Elektronikindustrie so wichtigen Seltenen Erden, gehoben werden mussten, wenn das Land eines Tages wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen sollte. Die strittige Frage war also nicht das Ob, sondern das Wie. Kuupik Kleists Regierung machte niemandem Illusionen. Erst künftige Generationen würden von den Rohstoffeinnahmen profitieren. Die aufwändigen Bergbauvorhaben wollte Kleist von langer Hand vorbereiten und mit Hilfe internationaler Experten planen; auf den Abbau von Uran wollte er verzichten. Herausforderin Aleqa Hammond hingegen vermittelte den Eindruck, als könne nun alles ganz schnell gehen – und vor allem ohne dänische Hilfe. Ihr Ziel sei, ließ sie die Wähler wissen, ein unabhängiger grönländischer Staat zu ihren Lebzeiten, finanziert aus den Einnahmen der Minenindustrie. Hammond war zu diesem Zeitpunkt 47 Jahre alt.

Grönländischer Nationalismus
Die nationalistischen Untertöne in der Rohstoffdebatte wurden von den internationalen Medien zumeist nicht zur Kenntnis genommen; für die Grönländer waren sie wahlentscheidend. Es war Hammond gelungen, einen Keil zwischen die einfachen Leute und die international orientierte Nuuker Elite zu treiben, die sich im Dänischen ebenso zu Hause fühlte wie im Grönländischen, und für die die Aufarbeitung etwaiger postkolonialer Traumata daher keine Rolle mehr spielte. Hammonds diskursive Allianzbildung zwischen Volk und Regierung, die sich gegen eine vermeintlich volksferne kulturelle Elite richtet, erinnert stellenweise an die Strategien rechtspopulistischer Parteien auf dem europäischen Festland.

Aleqa Hammond ist eine soziale Aufsteigerin. Darüber spricht sie gern und viel. Als Tochter eines nordgrönländischen Robbenfängers ist sie in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Da sie nicht in Roskilde oder Kopenhagen studiert hat, sondern in den USA und Kanada, sind ihre persönlichen Verbindungen nach Dänemark weniger stark ausgeprägt als die der meisten anderen privilegierten Grönländer. Als sie die dänische Zeitung Information fragte, was das Beste sei, das sie von den Dänen gelernt habe, antwortete Hammond freilich im Scherz, das sei das Rezept für braune Soße – und bewies damit erhebliches diplomatisches Ungeschick. Die Äußerung war allzu symptomatisch für den harschen Ton, den die neue Regierung gegenüber Dänemark und der dänischsprachigen Minderheit im eigenen Land angeschlagen hatte.

Gleich mehrere der zu Kuupik Kleists Regierungszeit eingestellten Experten an den Spitzen der landeseigenen Unternehmen ersetzte Hammond durch die sprichwörtlichen Vettern, die oftmals die nötigen Qualifikationen vermissen ließen. Zudem setzte die Premierministerin eine Versöhnungskommission ein, die sich mit der Aufarbeitung des in der Kolonialzeit und darüber hinaus begangenen Unrechts befassen sollte. Was grundsätzlich keine schlechte Idee war, verwandelte sich schnell zur rhetorischen Kriegserklärung. Es lag auf der Hand, dass die dänische Regierung in einem solchen Gremium nicht Platz nehmen würde. Sie hätte unweigerlich dem indirekten Vergleich der eigenen Kolonialvergangenheit mit dem südafrikanischen Apartheitsregime zugestimmt. Es war Mandelas Südafrika, wo 1996 erstmals eine Versöhnungskommission ihre Arbeit aufnahm.

Als Hammonds Koalition das bislang geltende Uranabbau-Verbot mit der denkbar knappsten Parlamentsmehrheit aufhob, fühlten sich nicht nur große Teile der Grönländer vor den Kopf gestoßen. Auch die Dänen sahen sich übergangen. Man war der Ansicht, dass eine solche Entscheidung ins Ressort der Außen- und Sicherheitspolitik und somit in Kopenhagener Zuständigkeit fiel. Auch die internationalen Konzerne, die Interesse bekundet hatten in die grönländischen Bergbauprojekte zu investieren, registrierten die neuen internen und externen Spannungen und die zuweilen schlichtweg unseriös wirkende Performanz von Hammonds Kabinett. Auf einmal erschien ein Engagement in Grönland ein äußerst risikobehaftetes Vorhaben zu sein; das »Rohstoffabenteuer«, von dem die internationalen Medien im Vorfeld der Wahlen teils euphorisch berichtet hatten, war nur wenige Monate später in weite Ferne gerückt.

Neuwahlen
Es war das versuchte Aussitzen eines Spesenskandals, das Aleqa Hammond im Oktober 2014 zu Fall brachte. Aus einem Prüfungsbericht des Finanzausschusses war hervorgegangen, dass die Premierministerin private Reisen und eine Familienfeier aus öffentlichen Mitteln finanziert hatte. In den Augen vieler Grönländer war die Affäre, die Hammond bei geschickterer Handhabung durchaus hätte überleben können, der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hier zeigte sich, dass Grönland eben nicht jene »Bananenrepublik« war, von der die dänischen Zeitungen – hier Børsen – inzwischen wieder sprachen. Die Sympathien der dänischen Öffentlichkeit für die Führung der arktischen Insel waren binnen eines Jahres merkbar abgekühlt. Doch Hammonds arrogantes Auftreten und ihr offenkundiger Mangel an Demut nach Bekanntwerden der Veruntreuung erinnerten zu sehr an überwunden geglaubte Zeiten, als dass die Grönländer die Verfehlungen der Premierministerin hätten durchgehen lassen. Atugagdliutit und Sermitsiaq, die beiden einzigen Zeitungen des Landes, sprachen sich unmissverständlich für Neuwahlen aus, und nachdem ein Misstrauensvotum im Parlament zunächst gescheitert war, dauerte es nur wenige Tage, bis der kleine Koalitionspartner Atassut und einige Siumut-Minister Hammond endgültig das Vertrauen entzogen. Insbesondere die Jugendverbände der Parteien hatten ihre Abgeordneten mit Nachdruck zu diesem Schritt aufgefordert. Für die junge Generation im selbstverwalteten Grönland ist Machterhalt kein Selbstzweck mehr – unabhängig vom politischen Standpunkt.

Am Tag des Misstrauensvotums forderten vor dem Parlament in Nuuk rund 600 Menschen Hammonds Rücktritt. Eine so große Demonstration hatte es in der Geschichte Grönlands noch nicht gegeben. Dass der Protestzug nicht nur die Meinung der Nuuker Bildungselite repräsentierte, die Hammond ohnehin kritisch gegenüber stand, veranschaulicht eine von der Zeitung Sermitsiaq in Auftrag gegebene Umfrage. Auf dem Höhepunkt des Spesenskandals sprach sich selbst in den abgelegenen Siedlungen eine Mehrheit für die junge IA-Politikerin Sara Olsvig als Premierministerin aus. Zu diesem Zeitpunkt stand die Kür Kim Kielsens als Hammonds Nachfolger im Amt des Siumut-Vorsitzenden freilich noch bevor. Kielsens Sieg bei den Neuwahlen am 28. November 2014 kam dennoch einer Überraschung gleich. Nur einen Tag zuvor war durchgesickert, dass der Haushalt des Siumut-Kabinetts ein erhebliches Defizit aufwies, eine unangenehme Wahrheit, die Finanzminister Vitus Qujaukitsoq (S) offensichtlich bis nach den Wahlen hatte geheim halten wollen. Hatten vor anderthalb Jahren die Rohstoffdebatte, die angestrebte Unabhängigkeit und allgemein nationalistische Töne den Wahlkampf dominiert, so stand nun die in die Krise geratene Ökonomie des Landes im Fokus.

In den Zentren der Fischereiwirtschaft, etwa in Sisimiut, konnte Hans Enoksens Partii Naleraq punkten. FOTO: EV

Kim Kielsens Partei ist beides: Wahlgewinnerin und -verliererin. Zwar konnte sich Siumut knapp als stärkste politische Kraft behaupten, hat aber gegenüber 2013 rund acht Prozentpunkte verloren, während das Ergebnis von Inuit Ataqatigiit nahezu gleich geblieben ist. Dass Kielsen, wenn er denn will, dennoch auf eine große Koalition verzichten kann, liegt vor allem am Wahlerfolg von Hans Enoksens Partii Naleraq, die als Anwältin der Fischereiwirtschaft ein ähnliches Programm vertritt wie Siumut. Allein in der Uran-Frage sind sich die beiden Parteien uneinig. Enoksen hatte zu Beginn des Jahres aufgrund eines persönlichen Konflikts mit Aleqa Hammond mit seiner ehemaligen Partei gebrochen. Nach dem Spesenskandal bot sich Naleraq vielen vorherigen Siumut-Wählern offenbar als unvorbelastete Alternative an. Auch in der neuen Siumut-Fraktion sitzen mehrere politische Newcomer, während einige prominente Regierungsmitglieder den erneuten Einzug ins Parlament verfehlten. Das grönländische Personenwahlsystem ermöglicht es, den einzelnen Politiker abzustrafen und doch seiner Stammpartei treu zu bleiben. Überhaupt spielen familiäre und freundschaftliche Verbindungen zu den Kandidaten in einem Land mit nur 56000 Einwohnern oft eine größere Rolle als politische Zustimmung zu deren Positionen. Während Siumut fast überall verloren hat, konnte die Partei in Kim Kielsens Heimatstadt Paamiut um immerhin drei Prozent zulegen.

Zwei unterschiedliche Kandidaten
»Die Dänen kennen den richtigen Kim Kielsen nicht«, schrieb Bent Højgaard Sørensen am Wahltag in der dänischen Zeitung Berlingske. Vorausgesetzt man hat nur den dänischsprachigen Teil des Wahlkampfs verfolgt, fällt es aus europäischer Perspektive in der Tat schwer zu verstehen, warum sich die grönländischen Wähler nicht eindeutig für Sara Olsvig entschieden haben. Während Olsvig, eine attraktive junge Frau, als eloquente und sympathische Politikerin auftrat und in akzentfreiem Dänisch ihre Standpunkte darlegte, wirkte Kielsen nervös, oft aggressiv und geriet immer wieder ins Stocken. Er machte einen umprofessionellen Eindruck. Zwar ist Kielsen absolut in der Lage, an einer dänischsprachigen Debatte teilzunehmen, doch verglichen mit Kuupik Kleists, Aleqa Hammonds und eben auch Sara Olsvigs Sprachkenntnissen wirkt sein Dänisch geradezu mangelhaft. Auch wird sich manch ein dänischer Beobachter des politischen Grönland selbstkritisch fragen müssen, ob Kielsen, der konsequent im blauen Anorak auftrat, nicht auch rein physiognomisch ein bisschen zu sehr »Eskimo« ist, als dass man dem Politiker aus europäischer Sicht Vertrauen schenken könnte. Mehrere Jahrhunderte stereotyper dänischer Darstellungen von Grönländern haben ihre Spuren hinterlassen. Frantz Fanon lässt grüßen.

Für die grönländischen Wähler indes haben derartige Überlegungen keine Rolle gespielt. Wie zu lesen ist, konnte Kielsen in den grönländischsprachigen TV-Duellen durchaus überzeugen und schließlich, indem er sich als bodenständiger Mann aus dem Volk präsentierte, den Rückstand seiner Partei wettmachen. Mit Kielsen und Olsvig standen zwei äußerst unterschiedliche Politikercharaktere zur Wahl, was die auseinanderklaffenden Wahlergebnisse in Hauptstadt und Peripherie nur unterstreichen. Während die Anthropologiestudentin Olsvig im Kopenhagen der Nuller Jahre Bourdieu und Lévi-Strauss las, ging Polizist Kielsen im sozial belasteten Paamiut auf Ganovenjagd. Während Olsvig mit den meisten ihrer Wähler auf Facebook befreundet ist, steht in Kielsens Büro - wie er dem dänischen Fernsehen stolz vorführte - eine Tiefkühltruhe mit selbst erlegtem Rentierfleisch.

Die beiden Kandidaten repräsentieren je einen Teil der grönländischen Bevölkerung, die einander fremd geworden sind. Kuupik Kleists von manchen als zu rasant empfundener Reformeifer und Aleqa Hammonds schädliches Ausspielen der Armen gegen die Reichen, der Fischer gegen die Studierten und der Grönländischsprachigen gegen die Bilingualen haben die gesellschaftliche Spaltung befördert. Es wäre im Interesse des wirtschaftlich angeschlagenen Landes, wenn Kielsen und Olsvig zueinanderfänden und eine Koalition der inneren Einigung bildeten. Doch auch wenn sich Kielsen anders entscheidet, weiß er, dass die alten Zeiten nicht zurückkommen. Seit Einführung der Selbstverwaltung ist Grönland politisch gereift und hat binnen kurzer Zeit eine starke Zivilgesellschaft entwickelt, in der auch der Opposition eine wichtige Rolle zukommt. Egal ob man Kielsens oder Olsvigs Wirtschaftspolitik für überzeugender hält, muss man sich um die Verfassung einer Nation, die eine schlechte Regierung zu stürzen vermag, eigentlich keine Sorgen machen.

Quelle: http://nofoblog.hypotheses.org/61

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Filmproduktion im Museum – Wael Shawkys „Cabaret Crusades“

Wael Shawky bei Dreharbeiten

Wael Shawky bei den Dreharbeiten im K20 im Oktober 2014.
Foto: Kunstsammlung, © Kunstsammlung NRW

In der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20) ist zurzeit eine Einzelausstellung des Ägypters Wael Shawky zu sehen. Der 1971 in Alexandria geborene Künstler präsentiert dort sein Filmprojekt "Cabaret Crusades", das während der dOCUMENTA (13) im Jahr 2012 viel Beachtung erfahren hat und auf Amin Maaloufs Buch "Der heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus arabischer Sicht" von 1983 basiert.

In Shawkys dreiteiliger Arbeit sind Marionetten Akteure der historischen Geschehnisse der Kreuzzüge vom ausgehenden 11. bis ins frühe 13. Jahrhundert: Der erste, in Italien produzierte Teil "The Horror Show File" (2010) stellt die Geschichte des Ersten Kreuzzugs von 1095 bis zur Einnahme Jerusalems durch die Franken im Jahr 1099 dar. Die Protagonisten – in dem Fall kostbare Holzmarionetten aus dem 18. Jahrhundert – vertont Shawky wie auch in den beiden weitern Filmen in Hocharabisch. In dem zweiten, in Frankreich entstandenen Teil "The Path to Cairo" (2012) spielen detailreiche, handgefertigte Marionetten aus Keramik die Ereignisse der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts nach, in der den Muslimen mit der Einnahme von Edessa 1144 ein wichtiger Schlag gegen die europäischen Kreuzritter gelingt. Und in dem letzten, längsten und aufwendigsten der drei Filme – "The Secrets of Karbalaa" (2014) – führen eigens für das Projekt auf Murano produzierte Glasmarionetten den Zweiten und den Dritten Kreuzzug im 12. Jahrhundert auf. Die Trilogie endet mit der Zerstörung Konstantinopels durch venezianische Kreuzfahrer im Jahr 1204.

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Marionette aus Murano-Glas für den dritten Teil "The Secrets of Karbalaa".
© Achim Kukulies / © Kunstsammlung NRW

Shawky thematisiert mit seinen Filmen – und zwar bereits vor dem Ausbruch des Arabischen Frühlings 2010/11 – die Konflikte im Nahen Osten, deren Schauplätze damals, vor rund 1000 Jahren, wie heute Aleppo, Bagdad und Damaskus sind.Mit dem Perspektivenwechsel, nämlich der Schilderung der christlichen Kreuzzüge aus arabischer Sicht, wirft der Künstler Fragen nach den Mechanismen und Konstruktionen der Geschichtsschreibung auf. Auch die Darsteller, die an Schnüren geführten, ferngesteuerten Marionetten, unterstützen diesen Aspekt: Wer eigentlich sind die Fädenzieher?

Was interessiert nun uns, Mitglieder des GRK1678 an dieser Ausstellung? Das für uns Besondere an der Düsseldorfer, von Doris Krystof kuratierten Schau ist die Tatsache, dass der dritte Film "The Secrets of Karbalaa" während der Ausstellung im Museum produziert wurde – sichtbar für alle Besucher. Die Grabbehalle des K20 wurde dafür dreigeteilt: In einem Kinosaal sind die beiden ersten Teile der "Cabaret Crusades" zu sehen. Darüber hinaus sind einige der Keramikmarionetten aus dem zweiten Teil in Vitrinen präsentiert, und den größten Teil der Ausstellung nimmt das eigens für die Shawky-Produktion eingerichtete Filmstudio ein. Gut einen Monat lang hat ein etwa dreißigköpfiges Team – Künstler, Kulissenbauer, Beleuchter, Marionettenspieler, Kostümbildner, Techniker – dort akribisch an dem Projekt gearbeitet. Wer im Oktober das Museum besuchte, konnte durch eine Glasscheibe in das Studio blicken und den Betrieb beobachten: Manchmal wurde laut gehämmert, manchmal lag der Geruch von Weihrauch in der Luft, weil für die Filmhandlung Rauch benötigt wurde. Der Künstler gab seine Anweisungen, die Kulisse wurde umgebaut, Marionetten wurden angekleidet. Alles unter den Blicken der Besucher. Das Museum als Herstellungsstätte, als Ort der Produktion, als temporäres Künstleratelier. Der Herstellungsprozess, der kreative Akt als öffentliches, als ausstellungswertes Ereignis.

Inzwischen ist der Dreh abgeschlossen, das Studio aber bleibt weiter ausgestellt: Eine aufwendig gestaltete Drehbühne, technisches Equipment, Werktische, Regale voller Requisiten und vor allem die bizarren Glasmarionetten in ihren auf den Leib geschneiderten Kostümen sind weiterhin sichtbar und zeugen von einem einzigartigen Experiment.

Der Film befindet sich zurzeit in der Postproduktion, am 04.12.14 wird er im Düsseldorfer Schmela Haus uraufgeführt – wir sind gespannt!

Linda Walther & Anja Gottwaldt

Uraufführung: "The Secrets of Karbalaa", 04.12.14, 19:00 Uhr, Schmela Haus

Ausstellung: "Wael Shawky. Cabaret Crusades", bis 04.01.15, Kunstsammlung NRW (K20)

Konferenz: "The Art of Making History", 11. + 12.12.14, Schmela Haus

Ausstellungskatalog: "Wael Shawky. Cabaret Crusades", Kerber Verlag

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/243

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Hitler auf der Weinflasche. Zwischen Werbekniff und Verharmlosung

Janine Schemmer Mussolini, Stalin und Hitler „zieren“ Etiketten von Weinflaschen, die in Schaufenstern einiger italienischer Cafés und Geschäfte ausgestellt sind und manch vorübergehenden Passanten zum Stehenbleiben und Staunen bringen. Als ich italienischen Freunden gegenüber meinen Unmut vor allem über die … Weiterlesen

Quelle: http://netzwerk.hypotheses.org/2120

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