Biographien über Alexander von Humboldt gibt es viele. Sie füllen ganze Regalmeter. Allein...
Quelle: https://recs.hypotheses.org/2683
Geschichtswissenschaftliche Blogs auf einen Blick
Biographien über Alexander von Humboldt gibt es viele. Sie füllen ganze Regalmeter. Allein...
Quelle: https://recs.hypotheses.org/2683
Es ist manchmal interessant, das eigene Forschungsthema oder Lebenswelt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Um die Rolle Brandenburg-Preußens in der Frühen Neuzeit einzuordnen, lohnt sich daher oft, nicht nur die Monographien zum Thema zu durchforsten, sondern auch dort zu blicken, wo Brandenburg nur als Fußnote auftaucht oder wo erklärt werden muss, was, wo und warum es ist. Das Buch von den australischen Gefühls- und Genderhistorikerinnen Susan Broomhall and Jacqueline Van Gent über die kulturellen Praktiken der oranischen Dynastie in der Frühen Neuzeit bietet eine solche Gelegenheit. Brandenburg, an mehreren Stellen als „lands impoverished after the Thirty Years´War“ (S. 3) charakterisiert, spielt hier eine unerwartet prominente Rolle: als Objekt. Denn untersucht wird, wie der brandenburgische Raum, die materielle Kultur am Hof und die kulturellen Praktiken der Hohenzollern durch die oranischen Einflüsse „kolonisiert“ wurden. Der materielle Nachlass aus Potsdam, Berlin, Oranienburg, Caputh oder Charlottenburg ist dabei prominent als Analysematerial vertreten.
Der Begriff „dynastischer Kolonialismus“ im Titel könnte für Verwirrung sorgen. Wer Schilderung von kolonialen Unternehmen der Niederländer und eine Analyse der Stellung der oranischen Dynastie erwartet, wird enttäuscht.
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Quelle: http://recs.hypotheses.org/1964
Horowskis groß angelegtes Panorama gibt einen tiefen Einblick in die Welt der Fürstenhöfe – für die Zeitspanne von 1642 bis zur französischen Revolution. In 20 Episoden werden Szenen aus der Welt des höfischen Adels erzählt. Diese Szenen spielen teils an den Fürstenhöfen selbst – in Versailles, in Berlin und Königsberg, in London, in Warschau, in Neapel, ja sogar in Den Haag – teils handelt es sich um Schnappschüsse von typischen Episoden aus der adeligen Lebenswelt: Szenen während der Kavaliertour der hohen Herren, auf dem Schlachtfeld, im Duell, in Festungshaft, um nur einige zu nennen.
Damit der Leser bei der Vielzahl der Orte und Namen, der Personen und Institutionen nicht völlig den Überblick verliert, tauchen manche der geschilderten Akteure gleich in mehreren der Episoden auf, erlebt man sie also in unterschiedlichen Momenten ihres Lebens. Auf preußischer Seite ist es Friedrich Wilhelm von Grumbkow, auf französischer Seite Antonin-Nompar de Caumont, Duc de Lauzun, die immer wiederkehren und so für einen verbindenden Faden zwischen den dargestellten Episoden sorgen. Die einzelnen Szenen sind von Horowski sehr gut ausgewählt und zusammengestellt, um die Botschaft des Buches zu vermitteln. Vier dieser Botschaften möchte ich hervorheben:
Da wird beispielsweise im vierten Kapitel auf äußerst amüsante Art und Weise von der Festungshaft des Duc de Lauzun berichtet, der in der Festung Pignerol mitten in Piemont einsitzt, Zelle an Zelle mit dem ehemaligen französischen Finanzminister Nicolas Fouquet. Auf der Erzählebene erfährt man amüsante Geschichten, z.
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Quelle: http://recs.hypotheses.org/1758
Gleich vorweg: Um dieses zweibändige Werk wird man künftig keinen Bogen mehr machen können. Der Autor katalogisiert in 211 Nummern französische Grafik in detaillierten Einträgen und bildet schon allein dadurch ein unverzichtbares Kompendium für die Forschung. Allein die Menge an minutiös recherchierten und hier kompilierten Kupferstichen ist bemerkenswert, sie aber zusätzlich in einen sinnvollen Zusammenhang miteinander zu bringen und Kooperationen und Abhängigkeiten von Künstlern, Auftraggebern und tatsächlich ins Werk gesetzten Stichfolgen nachzuspüren und darzustellen ist eine große Aufgabe. Der Autor hat sie sehr gut gelöst.
Die Arbeit ist als Dissertation entstanden, zur Drucklegung wurde der Text gekürzt. Hier darf die Frage gestellt werden, welcher Professor den Kandidaten mit einem solchen Mammutthema betraut, das ihn viele Jahre beschäftigt, ohne dafür bezahlt zu werden.
Nicht die Ausbreitung des Materials ist Ziel des Werks: „Das Spektrum der möglichen Anwendungen reicht von der Rekonstruktion historischer Interieurs über die Erforschung der alltäglichen, meist in zeremonielle Abläufe eingebundenen Nutzung solcher ausgestalteten Räume und Raumfolgen bis hin zu Fragen des Exports und Transfers dieser Muster und Realisationen außerhalb Frankreichs.“ (S.
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Quelle: http://recs.hypotheses.org/790
Ist zur Dreyfusaffäre nicht schon alles gesagt? Nein, da waren sich die Teilnehmenden bei der Buchvorstellung des neuen, 1504-seitigen monumentalen zweibändigen Werks von Philippe Oriol einig: Nicht nur, dass mit einer systematischen Presseauswertung sowie Tagebüchern und Papieren einiger Protagonisten wie des Anwalts von Dreyfus bisher nicht ausgewertete Quellen für diese Darstellung herangezogen wurden. Auch gilt es nach wie vor, so die Meinung des Autors, die von den Anwesenden geteilt wurde, Aufmerksamkeit zu zeigen und alles zu tun, damit sich die Werke und Interpretationen der Anti-Dreyfusards nicht durchsetzen, sondern die vielfach belegte Wahrheit: Der Staat war schuldig, der Führungsstab des Militärs war Komplize, Dreyfus war unschuldig.
Die von der Fondation pour la Mémoire de la Shoah organisierte Buchvorstellung ist zwar schon eine Weile her. Sie – und nicht die beiden Neuerscheinungen zur Dreyfusaffäre1 – soll hier aber trotzdem Gegenstand eines Blogbeitrags sein, da sie zum einen jetzt online als Video verfügbar ist und zum anderen in mehrerer Hinsicht bemerkenswert war. Schon der Ort der Buchpräsentation war symbolisch und eindrucksvoll: Sie fand im Musée de l’Armée statt, das sich im Hôtel national des Invalides befindet. Um zur Veranstaltung zu gelangen, musste man also den berühmten Innenhof (siehe Foto) überqueren, in dem Dreyfus am 5. Januar 1895 degradiert wurde. Darüber hinaus saßen im ersten Teil des Abends, der von Le Monde-Journalist Nicolas Weill moderiert wurde, u.a. neben dem Autor auch Charles Dreyfus, der Enkel von Alfred Dreyfus sowie Martine Le Blond-Zola, die Urenkelin von Zola, mit auf dem Podium. Die Zeit der Dreyfusaffäre hatten beide nicht miterlebt, wohl aber die Anfeindungen, Verleumdungen und Auseinandersetzungen der Zeit danach.
Alfred Dreyfus: ein warmherziger Großvater
Charles Dreyfus erinnerte sich an seinen Großvater, den er entgegen vielfach in der Forschung auftauchenden Einschätzungen als warmherzig beschrieb. Auf den Roman „Intrige“ von Robert Harris angesprochen2, der demnächst von Roman Polanski verfilmt wird, äußerte er sein Missfallen an manchen Stellen im Roman, in denen sein Großvater aus seiner Sicht zu negativ dargestellt werde, während Georges Picquart, der Leiter des militärischen Geheimdienstes, die Heldenrolle einnehme. Charles Dreyfus erzählte, dass er Robert Harris und Roman Polanski getroffen und einige Änderungen im Drehbuch vorgeschlagen habe, die aus Respekt vor Alfred Dreyfus auch berücksichtigt worden seien.
Es war nicht das erste Mal, dass Charles Dreyfus bei Darstellungen über die Ereignisse eingriff: Als ein weiteres Beispiel erzählte er, dass auf dem Titelbild des gut 600-seitigen Buchs von Jean-Denis Bredin, 1983 erschienen und viele Jahre das Standardbuch zur Dreyfusaffäre, Alfred Dreyfus bei der Degradierung im Innenhof des Hôtel des Invalides mit gesenktem Kopf abgebildet war (siehe Abbildung links). Alle Erzählungen würden aber belegen, so Charles Dreyfus, dass sein Großvater Alfred während der gesamten Zeremonie mit erhobenem Kopf aufrecht da stand und stets geradeaus schaute. In einer neuen Auflage des Buches aus dem Jahr 1993 änderte Bredin dann aufgrund der Intervention der Familie die Abbildung. Auf dem Titel ist dort die bekannte Abbildung von Roger-Viollet aus dem Petit Journal. Dreyfus ist darauf in derselben Szene zu sehen, aber mit dem Blick geradeaus gerichtet.
Welche Erkenntnisse kann die Geschichtswissenschaft aus diesen Erläuterungen für die historische „Wahrheit“ – was auch immer das sein mag – ziehen? Eigentlich keine. Für den Ablauf der Ereignisse und für die Interpretation, deren Schwerpunkte je nach Autor auf den antisemitischen, politischen, militärischen oder medialen Vorkommnissen liegt – ist es unerheblich, ob Dreyfus ein warmherziger Großvater war und ob er nicht vielleicht während der Degradierung doch den Kopf einmal kurz gesenkt hat, auch wenn es nur für eine Millisekunde war. Man kann aber etwas anderes aus diesen Aussagen lesen:
Die integre Persönlichkeit von Alfred Dreyfus als Teil der Verteidigungsstrategie
Wer Jahrzehnte lang und darüber hinaus um die Anerkennung der Unschuld und gegen Verleumdungen gekämpft hat, für den wird jede Einzelheit zum Pars pro Toto. Wird ein Detail angezweifelt, so wird das als Angriff auf die gesamte Wahrheit gesehen. Das ist verständlich, denn von diesen Angriffen und Umdeutungen gab es zahlreiche. Daher wird es als so wichtig erachtet, auch in kleinsten Punkten nicht nachzugeben. Das Eingreifen von Charles Dreyfus steht darüber hinaus in einer Tradition der Verteidigung durch die Familie. Schon nach der ersten Verurteilung sammelte Mathieu Dreyfus Beweise für die Unschuld seines Bruders Alfred und versuchte, andere von dieser Unschuld zu überzeugen. Besonders wichtig für die Verteidigung war, dass ein Motiv für die Tat fehlte, war Alfred Dreyfus doch ein treuer Ehemann, der weder spielte noch trank noch auf andere Weise Geld brauchte, das er sich mit einem Vaterlandsverrat zu verdienen versucht haben könnte. Seine persönliche Integrität und militärische Ehre standen daher bei der Verteidigung im Vordergrund. Das erklärt, warum es so wichtig war und ist, dass er ein warmherziger Großvater war und bei der Degradierung erhobenen Hauptes dastand – und nicht etwa Kopf und Augen senkte, wie ein Verräter es getan haben könnte.
Dass Alfred Dreyfus als Jude und Elsässer vor allem als Person angegriffen wurde, war auch in der historischen Forschung aufgegriffen worden. Beispielgebend dafür ist das richtungsweisende Buch „L’affaire sans Dreyfus“ von Marcel Thomas, der 1961 die Dreyfusaffäre ohne den Hauptprotagonisten erzählte. Erst 2006 wurde das gemeinhin unsympathische Bild, das über Alfred Dreyfus verbreitet wurde, von Vincent Duclert in einer Biographie mit dem Titel „L’honneur d’un patriote“ grundsätzlich revidiert3.
Der Kampf um die Wahrheit macht aus Sicht der Familie die Protagonisten unantastbar, auch auf Nebenschauplätzen. Das wurde ebenso im kurzen Beitrag von Martine Le Blond-Zola deutlich, in dem die Worte „vérité“ und „heroïsme“ am häufigsten vorkamen. Auf die Bemerkung des Moderators, die letzten Werke von Zola zählten nicht zu seinen besten, hatte die Urenkelin nur einen wegwerfenden Blick übrig. Hier ließ sich erahnen, wie schwer es für die Familie im einzelnen sein mag, sachliche Kritik von persönlicher Anfeindung zu unterscheiden.
Die Buchpräsentation und anschließende Podiumsdiskussion wurden aufgezeichnet und können auf der Website Akadem als Video angesehen werden.
Buchvorstellung, 13. November 2014, 17h-19h30
Philippe Oriol, L’histoire de l’Affaire Dreyfus de 1894 à nos jours, 2 Bde., Paris (Les Belles Lettres) 2014, ISBN: 978-2-251-44467-3.
Vortragende: Philippe Oriol, Charles Dreyfus, Martine Le Blond-Zola
Podiumsdiskussion: Philippe Oriol, Vincent Duclert, Henri Mitterand, Alain Pagés, moderiert von Nicolas Weill
Programm: http://www.fondationshoah.org/FMS/Conference-autour-de-L-histoire-de
Video-Aufzeichnung der Veranstaltung: http://www.akadem.org/sommaire/themes/histoire/affaire-dreyfus/les-pouvoirs-politiques/histoire-de-l-affaire-dreyfus-par-philippe-oriol-28-10-2014-64167_89.php
Die französische Restauration (1814-1830) und die französische Julimonarchie (1830-1848) stellen ein Kapitel der französischen Geschichte dar, dem bis dato wenig Aufmerksamkeit in der Geschichtsschreibung zuteil wurde. Oft genug wurde die Bourbonenmonarchie als reaktionäres Intermezzo und als zivilisatorischer Rückschlag auf dem Weg zur Verwirklichung der Republik gesehen. Das Juliregime erschien mehr als Vorstufe zum vorläufigen Ende der Monarchie, das mit der Zweiten Republik eingeläutet und 1870 abgeschlossen wurde. Davon gab es sowohl in der französischen als auch europäischen Historiographie seit 1945 nur wenige Ausnahmen, zu den bekanntesten zählen wohl vor allem Guillaume de Bertier de Sauvignys sowie André Jardin und André-Jean Tudesq jeweilige Überblickswerke.[1]
Innerhalb der beiden letzten Jahrzehnte ist jedoch Bewegung in die Geschichtsschreibung der Bourbonen- und Julimonarchie gekommen. Besonders problematisch erscheint heute die Vernachlässigung wichtiger Aspekte und Faktoren der französischen Gesellschaft zwischen 1814 und 1848. Kaum zu übersehen ist, dass Revolution und Kaiserreich noch lange in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachwirkten und die Legitimitätsgrundlage der Monarchie dauerhaft veränderten. So hat schon Volker Sellin darauf hingewiesen, dass die Charte constitutionnel einen zwar der Gesellschaft aufoktroyierten Kompromiss darstellte, zugleich aber zentrale Ergebnisse der Revolution wie das Parlament oder den Verkauf der Nationalgüter sanktionierte.[2] Emmanuel Fureix hat in seiner wegweisenden Untersuchung zu den Begräbnissen wichtiger Persönlichkeiten der französischen Gesellschaft gezeigt, dass die alten Antagonismen zwischen Ancien Regime und neuer Ordnung fortwirkten.[3] Deutlich wird hier, dass Revolution und Kaiserreich sich zu einem Erfahrungsraum verfestigt hatten, hinter den die Monarchie nicht zurückgreifen konnte.
Dass es vor diesem Hintergrund durchaus sinnvoll ist, diese beiden „monarchies postrévolutionnaires“ in einer Überblicksdarstellung zu behandeln, hat nun Bertrand Goujon vorgeführt. In dem von ihm verfassten zweiten Band der neuen, in den Editions du Seuil aufgelegten „Histoire de la France contemporaine“ entsteht ein komplexes, vielschichtiges und häufig widersprüchliches Bild der französischen Gesellschaft.[4] Der Mehrwert von Goujons Untersuchung besteht darin, die beiden Monarchien als ein Laboratorium traditioneller und fortschrittlicher politischer Systeme vorzustellen, den Anpassungsprozess der Monarchie, die Ausdifferenzierung der jeweiligen Verfassungen und die Herausbildung der parlamentarischen Opposition sehr konzise zu beschreiben. Dass mit dem vergleichsweise eher kurzen Buch (knapp 400 Seiten Text) dennoch eine umfassende Geschichte entstanden ist, die übergreifende soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen keineswegs vernachlässigt, ist der Fachkenntnis des Autors zu verdanken, der mit großer Souveränität die Auswahl relevanter Themen vorgenommen hat. Goujon gelingt es, aus der Menge an zentralen Aspekten ein beziehungsreiches Geflecht zu weben und dem Leser so eine äußerst kohärente Untersuchung der französischen postrevolutionären Monarchien zu bieten. Daraus hervorgegangen ist nicht nur ein handliches Nachschlagewerk zur französischen Geschichte, sondern zugleich eine sehr tiefgehende Analyse der französischen Gesellschaft zwischen 1814 und 1848. Diese wird ergänzt um eine chronologische Tafel zentraler Ereignisse sowie einer zwar nicht überbordenden Bibliographie, die aber die wichtigsten und vor allem neuesten Publikationen zum Thema enthält.
Eine besondere Stärke der Untersuchung von Goujon liegt in der Periodisierung, mit der der Autor die zentralen politischen Zäsuren zwischen 1814 und 1848 hervorhebt, ohne zugleich die gesellschaftlichen Kontinuitäten aus dem Blick zu verlieren. Goujon arbeitet pointiert die Charakteristika einer ambivalenten Restauration heraus, die zwar den Bruch mit dem Kaiserreich und die monarchische Kontinuität seit Ludwig XVII. betonte, zugleich aber innerhalb einer sich wandelnden Gesellschaft den politischen Kompromiss zu suchen gezwungen war. Goujon legt in diesem Zusammenhang eine überzeugenden Analyse der Charte constitutionelle vor, klärt über die Handlungsoptionen der sich oft abwechselnden Regierungen bis 1830, die Ausdifferenzierungen der politischen Lager sowie das Gewicht zentraler Akteure wie Karl X. oder Minister Decazes auf, der nach dem Ausscheiden von Richelieu 1818 die Politik der Regierung wesentlich bestimmte. Zugleich zeichnet Goujon ein facettenreiches Portrait der gesellschaftlichen Zerklüftungen Frankreichs, in dem gerade in abgeschiedenen ländlichen Regionen wie der Bretagne die Menschen in rückständigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebten, während im Elsass oder im Pariser Raum eine fortschrittliche, liberal eingestellte Elite tonangebend war. Diese wirkte zudem unmittelbar auf die politischen Meinungsbildungsprozesse im Parlament ein. Vor diesem Hintergrund analysiert Goujon die Verschärfung der politischen Krise nach dem Attentat auf den Duc de Berry. Der von Karl X. ab 1824 noch forcierte Rechtsruck in der Regierung lief immer mehr der Mehrheitsmeinung im Parlament zuwider.
Bei der Analyse des Regimewechsels von 1830 verlässt sich Goujon nicht allein auf eine kanonisierte Periodisierung, die für die Erklärung des politischen Wandels die Ereignisse während der Trois Glorieuses oft überbewertet. Anstatt allein die politischen Konjunkturen im Juli 1830 zu fokussieren, nimmt Goujon in einem eigenen Kapitel den Zeitraum zwischen 1828 und 1832 in den Blick. Damit widersteht der Autor nicht zuletzt auch der Anziehungskraft des in Frankreich vorherrschenden heroischen Narrativs, nach dem das reaktionäre Regime der Bourbonen durch einen gewaltigen Aufstand in den Straßen von Paris hinweggefegt wurde. Das ist zwar nicht falsch, wird aber nicht den wirtschaftlichen und sozialen Realitäten gerecht, die gewissermaßen im Hintergrund der politischen Ereignisse ab 1828 abliefen. Dazu gehörte ein drastischer Rückgang der Wirtschaftsproduktivität des Landes, eine hohe Arbeitslosigkeit und steigende Lebensmittelpreise. Zudem erfuhr die Gesellschaft einen grundlegenden Wandel, indem Vertreter einer neuen Generation in die Politik vorstießen, die die Monopolisierung von Schlüsselpositionen in der Politik durch die alte Elite scharf kritisierten und auf mehr Mitsprache sowie eine Ausweitung des passiven Wahlrechts drangen. In einem vielschichtigen Portrait dieser Wendezeit wirft Goujon auch einen Blick auf die französische Kultur, in der sich der Konflikt zwischen den „anciens“ und den „modernes“ besonders am Beispiel der literarischen Strömung der Romantik fortsetzte. In diesem Umfeld des tiefen gesellschaftlichen Wandels wird die zunehmende Isolation des Königs und seiner Regierung gegenüber dem Parlament verständlich. Die adresse des 221 vom März 1830 stellte ein Manifest dar, dessen Kritik am autoritären Stil der Regierung ein überwältigendes Echo in der außerparlamentarischen Öffentlichkeit fand.
Die politische Zäsur vom Juli 1830 ist in der Betrachtung Goujons wiederum eine höchst ambivalente. Konnten mit der Neuauflage der Charte wichtige liberale Fortschritte realisiert werden, so blieb die Phase des „mouvement“ und der von den progressiv orientierten Abgeordneten geforderten Reformen doch eine eher kurze Episode. In diesem Kontext ist die Periodisierung von Goujon auch so sinnvoll: sie macht sich nicht die vom Juliregime selbst propagierte Sichtweise eines politischen Aufbruchs zu Eigen, sondern zeigt, wie die Ergebnisse der Julirevolution schon früh die Zeitgenossen zutiefst enttäuschten. Angesichts nur mehr beschränkter Reformen, wie etwa des Wahlgesetzes vom April 1831, das den Zensus nur geringfügig herabsetzte und vielen daher nicht weit genug ging, entfremdeten sich schon früh viele vom neuen Regime. Auch mehr symbolische Akte des neuen Königs, wie die Entlassung Lafayettes vom Oberkommando der Nationalgarde, erweckten den Eindruck, dass das Juliregime die Revolution mit allen Mitteln zu beenden suchte. In der Betrachtung dieser sich zuspitzenden Krise fokussiert Goujon das Jahr 1840 als vorläufigen Höhepunkt. Hier, so Goujon, sei der Immobilismus des Regimes und dessen Unfähigkeit, die dringendsten Probleme wie die soziale Frage zu lösen, besonders zutage getreten. Sehr überzeugend erscheint das Bild, das der Verfasser vom Parlament zeichnet, in dem finanzstarke Notabeln in der Mehrzahl waren, die sich insbesondere die Interessen der Großwirtschaft zu Eigen gemacht hatten. Repräsentierten sie nur einen sehr kleinen Teil der Gesellschaft, waren sie gegenüber einer Herabsetzung oder gar völligen Aufhebung des Zensus genauso taub wie gegenüber sozialkritischen Studien, die die miserable Lage der Arbeiter in überbevölkerten Pariser oder Lyoner Vororten thematisierten. Die Gegenüberstellung einer im Zuge der Industrialisierung äußerst dynamischen Gesellschaft, in der linke Journalisten, Intellektuelle und Wissenschaftler wie Pierre-Joseph Prudhon, Étienne Cabet oder Louis Blanc über grundlegende Veränderungen der sozialen und politischen Verhältnisse nachdachten, und einer erstarrten Führungskaste in Regierung und Parlament gelingt hier sehr gut. Damit konturiert Goujon zugleich den zentralen Unterschied des politischen Patts während der Juli- und Februarrevolution: traten 1830 Regierung und Parlament auseinander, fand 1848 ein Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft statt. Aus der paradoxen Situation, dass das Parlament nicht mehr die Mehrheit in der Bevölkerung widerspiegelte, sich also immer weniger Menschen von den Abgeordneten repräsentiert sahen, ging eine breite Protestbewegung hervor, die das Juliregime und damit den Orleanismus als konservative, marktliberale Regierungsform ad absurdum führte.
[1] Vgl. Guillaume de Bertier de Sauvigny: La Restauration, 1814-1830, Paris ³ 1974 ; sowie André Jardin/ André-Jean Tudesq: La France des notables, 2. Bd., Paris 1989.
[2] Vgl. Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001.
[3] Emmanuel Fureix: La France des larmes. Deuils politiques à l’âge romantique (1814 – 1840), Seyssel 2009.
[4] Bertrand Goujon: Monarchies postrévolutionnaires, 1814-1848, Paris 2012.