Was sind, wo sind und wie sind die Sozialwissenschaften in den humanities zu Beginn der 10er Jahre? Dazu liefert ein ambitioniertes Publikationsprojekt der Ecole des hautes études en sciences sociales Paris nun einen wirklich empfehlenswerten, umfassenden, kontroversen und pointierten Blick. In drei Bänden erschien im November 2012 “Faire des sciences sociales” in den éditions EHESS – sozial- und kulturwissenschaftlich arbeitende Historiker/innen sollten sie kennen.
Die drei Bände von “Faire des sciences sociales”.
Quelle: http://lettre.ehess.fr/4525
Die Reihe beinhaltet drei Bände, die es – wie im Bild – auch zum günstigen Gesamtpreis von 45 Euro in einer Box gibt. Diese befassen sich mit (1) “Critiquer” (2) “Comparer” und (3) “Généraliser” als den drei Hauptaufgaben der Sozialwissenschaften. In jedem Band nehmen Autor/innen aus den verschiedensten Fakultäten der EHESS zu dem Hauptthema Stellung, meist unter Bezugnahme auf das eigene Forschungsgebiet. Doch sind die Beiträge bewusst so allgemein gehalten, dass alle aus den humanities von der Lektüre profitieren.
Die Bände reflektieren natürlich besonders die Sozialwissenschaften der EHESS nach dem “cultural turn” der 1990er Jahre. Während in Deutschland und der Schweiz das Soziale häufig noch gegen das Kulturelle gestellt wird, bilden beide in Frankreich eine selbstverständliche, produktive Einheit. Schon Roger Chartier sprach vor fast 25 Jahren von einer Wende von der histoire sociale du culturel hin zur histoire culturelle du social. Wenn ich mein Dissertationsthema in Deutschland vorstelle, spreche ich (eigentlich gegen meine Überzeugung) von einer “Kulturgeschichte der Altgläubigen”, in Frankreich von einer “Sozialgeschichte”.
Für Historiker/innen halten die drei Bände eine Menge spannender, interessanter und anregender Einsichten bereit. In Band eins (“Critiquer“) befasst sich etwa Jean-Pierre Cavaillé mit der seit Hegel aktuellen Frage, ob Historiker/innen das, was sie an sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhängen vor Augen haben, zur Beschreibung und gedanklich-diskursiven Fixierung in Kategorien packen dürfen. Didier Fassin stellt die Anthropologie – eine der methodisch-theoretischen Implusgeberinnen moderner Sozialwissenschaften – als eine “pratique critique” dar. Auch Gesellschaftskritisches bleibt nicht aus. David Martimort kritisiert und dekonsturiert die Expertengesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Band zwei (“Comparer“) befasst sich mit dem sozialwissenschaftlichen Vergleich. Ein Ausschnitt: Mir fällt natürlich gleich der Beitrag von Bruno Karsenti auf, in dem er (nach langer Zeit erstmals wieder) einen strukturalistischen Ansatz für die Religionssoziologie diskutiert. Frédéric Joulian fragt danach, ob und wie man das nicht-Vergleichbare vergleichen kann. Welcher Historiker stand noch nicht vor diesem Problem?
Band drei (“Généraliser“) fragt nach den (möglichen-unmöglichen) Generalisierungen. Auch dieser Teil ist für Historiker/innen höchst interessant, denn besonders in Deutschland gehört die zusammenfassend-einordnende Konzeptbildung schon in das Schlusswort der ersten Hausarbeit. Die Beiträge befassen sich u.a. mit dem methodischen Weg von der Einzahl zum repräsentativen Allgemeinen. Anregend ist auch der Beitrag von Michel de Fornel: das Undefinierte generalisieren. Oder aber das Kulturübergreifende generalisieren, wie bei Jocelyne Dakhlia (Europa und der Islam im Kontakt im frühneuzeitlichen Mittelmeer).
Ich bin jedenfalls sehr angetan von der ersten Lektüre. Deutschland sollte die drei Bändchen aus Frankreich entdecken! Man muss (und soll auch nicht) alle Positionen und Methoden daraus teilen oder gar anwenden. Die Lektüre ist aber auf jeden Fall ein Gewinn und ein Gedankenbeschleuniger – und sei es nur beim Schmökern.
Quelle: http://catholiccultures.hypotheses.org/415