Ein Gastbeitrag von Jan Hassink
„Was wir gestern Morgen auf dem Westender Rennplatz gesehen haben, das ist – ich zweifle nicht daran – ein Blick in unsere Zukunft.“ Als der liberale Publizist Friedrich Dernburg mit diesen Worten am 30. Juni 1901 seine Eindrücke von der Zieleinfahrt des Autorennens Paris-Berlin zusammenfasste, stand er offensichtlich noch ganz im Bann des Tags zuvor erfahrenen „Triumphzugs der Automobilisten“, so der Titel seines Essays.1 „Es steckt etwas darin, etwas Phantasievolles, Bestrickendes und zu gleicher Zeit etwas Brutales, Rücksichtsloses, beinahe Barbarisches. Mit einem Worte: etwas Modernes.“ Wie elektrisiert zeigte er sich von der eindrucksvollen Demonstration der „Hast und Rastlosigkeit in der Bewegung“ und dem „Drang nach individueller Ungebundenheit.“ Hellsichtig prophezeite er dem Automobil als genuinem Ausdruck der Moderne eine große Zukunft. Fast schon als etwas Erhabenes erscheint das Automobil bei Dernburg, in sich die Widersprüche der Moderne – die Ohnmacht des Menschen gegenüber der („barbarischen“) Technik und sein immer stärkerer Drang nach individueller Freiheit – verbindend.
Das Automobil – Fluch oder Segen?
Das dreitägige Autorennen, das die Fahrer im Sommer 1901 von Paris über Aachen und Hannover nach Berlin führte, beeindruckte nicht nur den Redakteur des Berliner Tageblatts, sondern war ein internationales Medienereignis. Die Faszination für das Automobil im Allgemeinen und das deutsch-französische Rennen im Besonderen äußerte sich in vielen Presseberichten dies- und jenseits des Rheins; sie ging dabei oft über eine Begeisterung für das rein Sportlich-Technische hinaus. Dernburg etwa gab dem Rennen eine politische Dimension: Er sah hier die „völkerverbindende Macht des Sports“ am Werk, der „dazu bestimmt [sei], die kriegerische Tendenzen im Menschen in einer milderen Gabe abzulösen.“ Schließlich wurde hier die geographische Nähe der beiden „Erbfeinde“ einmal ganz anders interpretiert: „sportlich“, nicht militärisch. Die „Maschen der Menschheit“, so Dernburg, seien „wieder einmal enger gezogen.“ Hier bündelten sich Technikbegeisterung, Fortschrittsglaube und politischer Optimismus auf eine Entspannung der deutsch-französischen Beziehungen.
Nicht alle teilten diese euphorische Einschätzung. Skeptisch fragte die Allgemeine Automobil-Zeitung (AAZ) als Reaktion auf das Rennen, „welch praktischen Nutzen es habe, automobile Ungethüme von der Species der Ueberwagen […] drei Tage hindurch über Stock und Stein rasen zu lassen“.2 Der „in Frankreich entstandene Schnelligkeitswahnsinn [greife] epidemisch um sich“. Ganz ähnlich erhoben sich auch in Frankreich kritische Stimmen zu der „Volupté de la Vitesse“, so der Titel eines Aufsatzes von Edmond Lepelletier im Écho de Paris vom 2. Juli 1901: „La vitesse, envisagée comme plaisir, comme un de ces adjuvants et de ces stimulants, fruits des paradis artificiels, dont Baudelaire a chanté et analysé les ivresses, tels que le vin, l’opium, les parfums, ne date que de l’avènement du pneu.” Der Automobilismus – eine dieser modernen Grenzüberschreitungen, die es einzuzäunen gelte, denn: „Les voluptueux de la vitesse […] sont des sadiques très désagréables, puisque leur jouissance égoïste appelle à son aide les blessures et la mort.”
Ein Autorennen als transnationaler Begegnungsort
Der neue Erfahrungsraum, den das Automobil und speziell der Automobilsport um die Jahrhundertwende öffnete – Stichworte „Überwagen“ und „Schnelligkeitswahn“ –, kann als ein transnationales Phänomen gelesen werden; exemplarisch verkörpert im Rennen Paris-Berlin. Die deutsch-französische Grenze wurde hier nicht nur physisch überschritten, sondern ebenso waren die Hoffnungen, Ängste und Zukunftserwartungen, die das rasende Auto hervorrief, an keine nationalen Grenzen gebunden. Auch der Gedanke von der „völkerverbindende[n] Macht des Sports“, von der Dernburg nach dem Rennen gesprochen hatte, wurde von der französischen Presse geteilt: „Comme la musique et la peinture, l’automobilisme et le sport n’ont pas de patrie“, wie man in der Ausgabe des Figaro vom 27. Juni 1901 lesen konnte. Und als transnationales Ereignis, das viele Franzosen anlässlich der gleichzeitig veranstalteten „Touristenfahrt“ von Paris nach Berlin führte – Dernburg nannte sie „eine Art Bierreise“ –, trug das Rennen durchaus zur „Völkerverständigung“ bei: „Ceux de nos compatriotes qui n’étaient jamais allés en Allemagne ont été stupéfaits de constater l’enthousiasme avec lequel on les accueillait […]. Ils ont pu voir que nos voisins ne nous détestaient nullement, et cela les a plus que surpris.“3 Die Begeisterung für das Neue war, im wahrsten Sinne des Wortes, grenzenlos. So bezeichnete Le Monde Illustré das Rennen als eine „solennité internationale“, und: „Nos chauffeurs reviendront enthousiasmés de Guillaume II.“4 Der Kaiser selbst ließ per Telegramm ausrichten, er sei „erfreut über das kameradschaftliche Zusammenwirken französischer und deutscher Wettfahrer.“5 Und der britische Rennfahrer Charles Jarrott, selbst Teilnehmer des Rennens, hielt es im Jahr 1906 rückblickend für eine „particularly happy idea of the French Club to hold a race between Paris and Berlin.“ Denn: „The bitterness of the struggle of the seventies was still existent, and it seemed almost impossible that even in a sporting event the nations could fraternize to the extent of opening up their roads for a race between the two great cities.“6 Der Erfolg der Veranstaltung schließlich hätte diese nationalistischen Bedenken aus dem Weg geräumt und das Gegenteil bewiesen.
Nicht nur auf sportlichem, auch auf industriell-wirtschaftlichem Gebiet stellte das Rennen eine deutsch-französische Zusammenarbeit dar. In seiner Rede beim hochrangig besetzten Festbankett anlässlich des Zieleinlaufs in Berlin fasste der preußische Handelsminister Theodor von Möller diesen Aspekt zusammen: Der „Fortschritt der Industrie“ sei nämlich „ein gleichmäßiges Product aller Culturnationen. Speciell wir beiden Nachbarvölker brauchen in der Industrie keinerlei Eifersucht aufeinander zu haben, sondern unsere Interessen sind in der Industrie wie im Handel durchaus gemeinsame.“7 Gemeinsame wirtschaftspolitische Interessen waren es wohl auch, die den Automobile-Club de France und sein deutsches Pendant, den Deutschen Automobil-Club, überhaupt erst dazu veranlasst hatten, das Rennen in Kooperation zu organisieren. Es bleibt ein offenes Feld für die Forschung, die engen personellen und institutionellen Kontakte zwischen beiden Verbänden näher zu untersuchen.
Eine besondere mediale Aufmerksamkeit zogen in Deutschland wie in Frankreich die an den beiden Rennen beteiligten Frauen auf sich. Die einzige Teilnehmerin des offiziellen Rennens, die Französin Camille du Gast – „Madame du Gast“, wie sie auch in der deutschen Presse durchweg genannt wurde – sei, so der Figaro, „une intrépide chauffeuse, […] qui conduit une voiture de 20 chevaux avec maëstria“. Und als „Madame Gobron“, die Frau eines französischen Automobilindustriellen, die Touristenfahrt erfolgreich mit einem Stundenmittel von 41 km/h beendet hatte, merkte die AAZ anerkennend an: „Das wäre für einen Chauffeur respektabel, um wie viel mehr für eine Chauffeuse!“8 Autorennen waren auf deutscher wie auf französischer Seite ein „männlicher“ Sport; die teilnehmenden Frauen stachen in der Berichterstattung jeweils besonders hervor.
Das Autorennen, soviel zeigt der Blick in die Presse, wurde in der deutschen und französischen Öffentlichkeit nicht als eine bloße Sportveranstaltung wahrgenommen. Industrielle, soziale und politische Aspekte standen zuweilen derart im Vordergrund, dass die sportliche Seite mitunter nebensächlich wurde: „Le grand match franco-allemand […] dépasse de beaucoup de limites du terrain sportif. On en parle comme d’un événement international dans le peuple“, wie der Écho de Paris im Vorfeld die allgemeine Stimmung im Volk beschrieb.9
Nationalistische Ober- und Untertöne
Diese als positiv empfundenen Berührungspunkte und Verflechtungen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Autorennen insbesondere in der politisch rechten Presse zuweilen nationalistisch überhöht wurde – dies ist gewissermaßen die Schattenseite der politischen Aufladung, die das Rennen erfuhr. Der Streckenverlauf – von Paris in die Hauptstadt des Deutschen Reichs – und der Wettkampfcharakter waren geradezu prädestiniert, dem Rennen eine chauvinistische, ja sogar revanchistische Note zu geben. Hier zeigte das Rennen weniger eine integrative, sondern eher eine trennende, abgrenzende Wirkung. Das Spektrum dieser nationalistischen Tendenzen ist weit gefasst: Es reichte von Kriegsmetaphorik und politischen Andeutungen bis hin zur Verurteilung des Rennens von Rechts als Ausdruck von Geschichtsvergessenheit.
So hieß es im Figaro etwa am 28. Juni 1901: „La dernière étape, Berlin, fait naître l’idée d’une revanche industrielle et, pour beaucoup, l’essentiel est de battre nos voisins sur leur propre terrain, dans cette lutte pacifique.“ Die Rede von einer „lutte pacifique“ und einer „guerre économique“, von der „revanche industrielle“ und einer „pointe de chauvinisme“ war in vielen französischen Zeitungsberichten präsent. Und auf die Frage, ob es nicht darum ginge, gerade gegen die Deutschen den Sieg davonzutragen, antwortete der Präsident des französischen Automobilclubs, Baron von Zuylen: „J’espère bien que nous triompherons des Allemands sur ce terrain pacifique.“10 Sprachlich waren die Grenzen zwischen militärischem Konflikt und sportlichem oder industriellem Wettkampf fließend. Le Vélo schrieb am 10. Juni 1901, die Deutschen würden auf industriellem Gebiet genauso handeln wie auf dem Schlachtfeld („champ de bataille“). Und als mit Henri Fournier ein Franzose als erster die Ziellinie in Berlin überquerte, sei die Begeisterung auf französischer Seite so groß gewesen, dass man hätte glauben können, Frankreich habe einen großen militärischen Sieg errungen, wie es der Écho de Paris am 30. Juni formulierte – wenngleich dessen „blonde[s] Haar und die treuherzigen blauen Augen [ihn] eher als einen Vollblutgermanen denn als Franzosen erscheinen“ lassen, wie die Allgemeine Automobil-Zeitung zu berichten wusste.
Das nationalistische und antisemitische Blatt La Libre Parole von Éduard Drumont empfand es gar als Schande, dass nun, gerade einmal dreißig Jahre nach dem verlorenen Krieg, Franzosen und Deutsche gemeinsam nichtsahnend durch so geschichtsträchtige Orte wie Sedan und Bazeilles fahren sollten – jene blutigen Kriegsschauplätze von 1870, wo noch die Väter der sorglosen Rennfahrer und Touristen bitter gegeneinander gekämpft hätten.11 Die rechtsgerichtete Autorité meinte lakonisch, es sei „la caractéristique des nations en décadence de se consoler avec des succès sportifs des défaites subies sur le champs de bataille sérieux.“12 Und allein die Tatsache, dass ein paar Franzosen mit dem Automobil nach Deutschland gefahren seien, dort ein Bankett abgehalten hätten und von deutschen Beamten mit freundlichen Worten bedacht worden seien, bezeuge noch gar nichts: „Des incidents aussi minuscules ne sont rien dans les relations de deux grandes nations.“13
Das Autorennen hat polarisiert, und ebenso ergibt sich für den heutigen Betrachter ein ambivalentes Bild. Indem es den Zeitgenossen auf beiden Seiten des Rheins die Moderne erfahrbar machen ließ, konstituierte es in Frankreich und in Deutschland einen gemeinsam geteilten „automobilen“ Erfahrungsraum – mit allen damit einhergehenden Ängsten und Hoffnungen. Auch die Zusammenarbeit zwischen den beiden Autoclubs und die Annäherungen zwischen den „Touristen“ deuten auf wirtschaftlich-industrielle und soziale Verflechtung hin. Gleichzeitig, und entgegen solcher Transferprozesse, wurde das Bild des feindlichen Nachbarn in der Presse, zumindest auf französischer Seite, auf die sportlich-industrielle Ebene übertragen. In diesem Spannungsfeld zwischen wachsender Verflechtung einerseits und nationaler Abgrenzung andererseits verortet sich Paris-Berlin 1901.
Jan Hassink studiert seit 2010 Geschichte, Französisch und Latein an der Universität Marburg. Im Herbst 2014 hat er ein Praktikum am Deutschen Historischen Institut Paris absolviert, in dessen Rahmen auch dieser Blogeintrag entstanden ist.
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Abbildungen:
1. Le Figaro vom 27.06.1901, S. 2. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k285550z/f2.image)
2. Le Petit Journal, Supplément illustré vom 14.07.1901, S. 1. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k7164432.image.langDE)
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Bibliographie:
Buisseret, Alexandre: „Les femmes et l’automobile à la Belle Époque“, in: Le Mouvement social 192 (2000), S. 41-64. (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5730002b.image.f43.tableDesMatieres)
Dulier, Jean-Robert: La triomphale course Paris-Berlin, Clermont-Ferrand 1967.
Flonneau, Mathieu: „Paris au cœur de la révolution des usages de l’automobile 1884-1908“, in: Histoire, économie & société 26 (2007), S. 61-74. (http://www.cairn.info/zen.php?ID_ARTICLE=HES_072_0061)
Gardes, Jean-Claude: „La course automobile ‘Paris-Berlin’ (1901) et sa transcription graphique dans les dessins du Rire“, in: Recherches contemporaines, numéro spécial „Image satirique“ (1998), S. 53-63. (http://idhe.u-paris10.fr/servlet/com.univ.collaboratif.utils.LectureFichiergw?ID_FICHIER=1348818743595)
Merki, Christoph Maria: „Das Rennen um Marktanteile. Eine Studie über das erste Jahrzehnt des französischen Automobilismus“, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 34 (1998), S. 69-91.
Ders.: „L’internationalisation du traffic routier avant 1914“, in: Relations internationales 95 (1998), S. 329-348.
Ders.: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, Wien, Köln, Weimar 2002.
- In: Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 30.06.1901, 1. Beiblatt.
- Allgemeine Automobil-Zeitung (AAZ) vom 07.07.1901, S. 5.
- La Vie au Grand Air vom 14.07.1901, S. 398.
- Le Monde Illustré vom 29.06.1901, S. 487.
- AAZ vom 07.07.1901, S. 21.
- Charles Jarrott: Ten Years of Motors and Motor Racing, London 1906, S. 103.
- Seine Rede ist abgedruckt in der AAZ vom 07.07.1901, S. 21.
- AAZ vom 14.07.1901, S. 12.
- L’Écho de Paris vom 21.06.1901, S. 1.
- L’Écho de Paris vom 17.04.1901, S. 1.
- Vgl. La Libre Parole vom 23.06.1901, S. 1.
- Zit. n. Le Vélo vom 02.07.1901.
- Zit. n. Pierre Souvestre: Histoire de l’Automobile, Paris 1907, S. 527. [http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5495467j/f7.image.r=histoire%20de%20l%27automobile.langFR]