Schriftliche Fassung des Beitrags zur Tagung “Weblogs in den Geisteswissenschaften” am 9. März 2012
Am Anfang stand eine Urlaubsvertretung. Im November 2001 suchte Edlef Stabenau, der Gründer des bibliothekarischen Weblogs netbib Leute, die für ihn in seiner Abwesenheit weiterbloggen sollten. Neben Jürgen Plieninger und Christian Spließ meldete auch ich mich und so sonderte ich in der Mutter aller bibliothekarischen Weblogs des deutschsprachigen Raums am 21. November 2001 meinen ersten ganz kurzen
Blogeintrag ab. Tausende sollten folgen, denn mir gefiel die Möglichkeit, Aktuelles aus einschlägigen Interessensgebieten wie dem Bibliotheks- oder Archivwesen kurz mitzuteilen und zu kommentieren.
Als sich im Februar 2003 die Möglichkeit bot, ein kostenloses Gemeinschaftsblog bei Twoday.net einzurichten, griff ich zu, und Archivalia, ein Gemeinschaftsblog rund um das Archivwesen, war geboren. Erst allmählich verlagerte sich der Schwerpunkt meiner Blogaktivitäten hin zu
Archivalia (nach wie vor blogge ich sporadisch in netbib). Seither wurden in Archivalia über 21.000 Beiträge veröffentlicht. In den
Blogcharts von ebuzzing steht Archivalia im Ranking der deutschsprachigen Wissenschaftsblogs vom März 2012 auf Platz 8. Was ich auf der Pariser Tagung letztes Jahr zu Archivalia gesagt habe, möchte ich nicht wiederholen; es gibt ein Video dazu (unter CC-BY-SA) im
Netz und eine schriftliche Fassung in
Archivalia. Vielleicht etwas zu wohlwollend charakterisierte Mareike König das Blog in dem von uns gemeinsam verfassten
Beitrag zu deutschsprachigen Geschichtsblogs:
Denkt man an Geschichtsblogs im deutschsprachigen Raum, so kommt einem als erstes Archivalia in den Sinn. Von Klaus Graf im Jahr 2003 als Gemeinschaftsblog gegründet, hat sich Archivalia seine herausragende Stellung durch zahlreiche hochwertige Forschungsbeiträge sowie einen wissenschaftlichen Rezensionsteil verdient. Flankiert durch die Veröffentlichung zahlreicher relevanter Links erreicht Archivalia eine Publikationsfrequenz, die einen schwindelig machen kann. Eine “ausgesprochene Buntheit” und ein Interesse an vielfältigen Themen wurde Archivalia schon 2004 in einer Rezension bei H-Soz-u-Kult bescheinigt. Einen Namen hat sich Archivalia darüber hinaus als “Sturmgeschütz, das für Open Access kämpft” gemacht. Klaus Graf setzt sich mit diesem Blog außerdem für die Renaissance von Miszellen, Splitterveröffentlichungen und Textfragmenten ein, wie aus seinem Vortrag am DHI Paris deutlich wird. Die Art und Weise, in der Archivalia die Community mit Information versorgt, ist sowohl qualitativ wie auch quantitativ einmalig. Anzahl der im Blog publizierten Einträge: Oktober 2011: 274, September 2011: 378.
Seit September 2010 war ich auch der Hauptverantwortliche für das damals gemeinsam mit dem Internetauftritt etablierte Weblog der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Historikerverband. Es ist am Desinteresse der Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft an dieser Form des Publizierens im Netz gescheitert (siehe ausführlich
Abschied vom AGFNZ-Blog, 9. Dezember 2011). Die Inhalte wurden nach de.hypotheses.org importiert, das Blog wird – derzeit auf Sparflamme – als
“Frühneuzeit-Blog der RWTH” am Lehr- und Forschungsgebiet Frühe Neuzeit der RWTH Aachen weitergeführt.
Im Redaktionsblog von de.hypotheses.org habe ich bislang außer der mit Mareike König verfassten Übersicht zur Geschichtsblogosphäre einen Beitrag zur archivischen Blogosphäre
beigesteuert. Anlass war die von dem Siegener Kreisarchivar Thomas Wolf, nach mir der wichtigste Archivalia-Beiträger, initiierte Gründung eines
Gemeinschaftsblogs der Archive im Landkreis Siegen-Wittgenstein.
Stark bildlastig ist das am 26. September 2011 eröffnete Tumblr-Blog
Archivalia-EN, ein nur von mir bestückter englischsprachiger Ableger von Archivalia mit über 2700 Beiträgen und 220 Followern, die das Blog in ihrem Dashboard verfügbar haben. Wie das Frauen-Netzwerk Pinterest wird Tumblr überwiegend für das Bloggen von im Netz gefundenen Bildern verwendet. Ein praktisches Bookmarklet erleichtert das Teilen von Bildern, Zitaten und Videos. Ursprünglich als Ergänzung zu den englischsprachigen Beiträgen von Archivalia konzipiert, nutze ich dieses Blog zum Mitteilen englischsprachiger Links aus meinen Interessensgebieten sowie als “Bilderschleuder”. Da die interne Suchfunktion nicht funktioniert und Google solche Blogs natürlich nicht komplett erfasst, sollte man alle Einträge, die man später einmal wiederfinden möchte, mit Tags verschlagworten. Die Bildauswahl ist bunt gemischt: Neben Bildern aus alten Handschriften finden sich beispielsweise solche von Schreibmaschinen oder schönen alten Bibliotheksräumen. Längere englischsprachige Texte von mir sind dagegen schon aus Sprach- und Zeitgründen kaum vertreten.
Alle Beiträge aus dem Tumblr-Blog werden automatisch zu meinem Twitter-Account
Archivalia_kg, den ich seit drei Jahren besitze, weitergeleitet und landen ebenso automatisch auf
Facebook. Auch Meldungen von
Google+, dem von mir bevorzugten sozialen Netzwerk, gelangen so zu Twitter. Das von mir als Archivar betreute Hochschularchiv der RWTH Aachen ist seit kurzem auch auf
Google+ aktiv. Seit April 2008 unterhält es das bisher einzige
Weblog eines einzelnen Archivs aus dem deutschsprachigen Raum (bei Blogger.com). Glücklicherweise schreiben meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die meisten Beiträge in diesem Blog und auf Google+.
Man kann mich aufgrund dieser doch recht bedenklich anmutenden Produktivität als Blogger gewiss in die Schublade eines klassischen Vielschreibers einsortieren. Bedeutet aber Quantität ohne weiteres auch geringere Qualität?
“Ein Wissenschaftler, der nicht bloggt, ist ein schlechter Wissenschaftler”
In der Diskussion zu meinem Pariser Referat wurde mir die Frage gestellt, ob ich der Ansicht sei, dass ein Wissenschaftler, der nicht blogge, ein schlechter Wissenschaftler sei. Ich antwortete mit einem lapidaren Ja.
Wer die methodischen Schritte, die Droysen Heuristik nannte, nicht beherrscht, kann kein guter Historiker sein. Ein deutscher Mediävist, der nicht mit der MGH umgehen kann, ist kein guter Mediävist. Wer ineffizient nur mit gedruckten Bibliotheksbeständen und umständlichen Fernleihen arbeitet, weil er das
Auffinden von Digitalisaten nie richtig gelernt hat, ist sicher kein Vorbild für Studierende. Jeder akademisch Lehrende hat seinen Studentinnen und Studenten immer auch Heuristik beizubringen. Dazu gehört im digitalen Zeitalter essentiell der Umgang mit Internetressourcen und das Wissen um die Möglichkeiten des Web 2.0. Wie man das Mitmach-Web hinreichend verstehen und seine Chancen, aber auch Gefahren im universitären Unterricht angemessen darstellen soll, ohne selbst mitzumachen, ist mir ein Rätsel. Ein Schwimmlehrer, der nur auf dem Trockenen lehrt, aber selbst nie im Wasser war, wäre eine absurde Vorstellung. Ein Professor, der sich von oben herab über die Wikipedia äußert, ohne sich mit ihr genügend auseinandergesetzt zu haben, ist dagegen alles andere als ein Außenseiter. Über soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook oder Mendeley werden zunehmend auch wissenschaftliche Neuigkeiten ausgetauscht. Wer hier nicht am Ball bleibt, gerät ins Hintertreffen. Natürlich kann man als genialer Meistererzähler mit einem kleinen Handapparat veralteter gedruckter Quellenausgaben und ohne Zuhilfenahme einer Schreibmaschine eine großartige historisch-philosophische Darstellung schaffen – aber wie realistisch ist ein solches Wissenschaftlerbild in unserer Gegenwart?
Der Einstieg ins Bloggen kann am einfachsten mit sogenanntem Kuratieren erfolgen (mehr dazu in
Archivalia). Ein Tumblr-Blog ist wirklich in 5 Minuten eingerichtet (siehe auch das
Tumblr-Blog der historischen Schulbibliothek des Hamburger Christianeums). Wer an einer Hochschule lehrt, dem ist trotz aller Zeitzwänge wirklich zuzumuten, ein solches Mikroblog wenigstens für ein Semester probeweise zu führen. Da man allenthalben über die fachliche Informationsüberflutung stöhnt, wären solche Blogs, die auf neue Bücher und Aufsätze zu einem Forschungsgebiet hinweisen könnten, als Orientierungshilfen dringend wünschenswert. Niemand ist gezwungen, für ein großes weltweites Publikum zu schreiben. Er kann sich an den Interessen eines Fachpublikums orientieren, auch wenn ein allgemeiner Internetzugriff möglich ist (siehe dazu auch Michael Schmalenstroer:
“Wissenschaft, Bloggen und die Öffentlichkeit”, 20. September 2011).
Es geht also um öffentliches Teilen von Wissen im Zeichen von “Open Access”, nicht um eitle Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit. Wer Hochschuldidaktik im digitalen Zeitalter ernst nimmt, muss als Lehrender ständig dazu lernen, und das geht im Web 2.0 nur durch “teilnehmende Beobachtung”.
Wissenschaftsbloggen ist meist Bloggen über Wissenschaft, kaum Bloggen, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu publizieren. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass wir auch mehr Experimente auf diesem Feld brauchen.
Von den genannten Blogs, an denen ich beteiligt bin, bieten lediglich Archivalia und das AGFNZ-Blog solche Inhalte. Frank Pohle veröffentlichte im AGFNZ-Blog zwei Nachträge zum Nordrheinischen Klosterbuch. Der
erste Artikel betraf biographische Neufunde zum Jesuitenkolleg Münstereifel, der zweite
Beitrag zu einer übersehenen Aachener Klosterchronik lieferte Anregungen für eine niederländische Forscherin, wie den Kommentaren zu entnehmen ist.
In Archivalia gibt es einen kleinen
Fundbericht (2010) über die Identifizierung eines württembergischen Sagenautors aus dem 19. Jahrhundert, der nicht aus meiner Feder stammt. Ich habe jetzt nachträglich versucht, diejenigen Beiträge von mir in Archivalia, die neue, wenn auch nur bescheidene wissenschaftliche Erkenntnisse erbringen, mit einem Schlagwort
#forschung zu versehen. Ich komme so auf derzeit 66 Einträge, die überwiegend kleine Funde aus dem Bereich der Erforschung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Handschriften betreffen. Der wohl wichtigste Fund – er galt einer
hochmittelalterlichen Handschrift Ruperts von Deutz in der Hofbibliothek Sigmaringen – hat sogar eine Notiz im Deutschen Archiv 2010
veranlasst.
Dank WebCite bzw. webcitation.org ist es möglich, dauerhaft auf solche Beiträge zu verlinken, auch wenn Archivalia aus dem Netz verschwunden sein wird (
Beispiel).
Natürlich bin ich auch stolz, dass Archivalia bislang zweimal in der Datenbank des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke
zitiert wird und dass es nach der Abbildung eines unidentifizierten deutschsprachigen Fragments aus der Hamburger Christianeums-Bibliothek in Archivalia nur wenige Stunden dauerte, bis der Germanist Stephen Mossmann in Manchester den Text als Teil einer Vita Dorotheas von Montau von Johannes Marienwerder
bestimmen konnte.
Wenigstens kurz hingewiesen sei auf den wissenschaftlichen Anspruch erhebenden
Rezensionsteil von Archivalia mit bislang über 40 Original-Besprechungen.
Es sollte viel solche Versuche, wissenschaftliche Ergebnisse online in Blogform zu präsentieren, geben. Daher möchte ich den letzten Teil meiner Ausführungen einem konkreten Vorschlag in dieser Richtung widmen.
“Historische Miszellen” – ein Peer-Review-Journal für kürzere Beiträge
Es gibt keine epochenübergreifende deutschsprachige Open-Access-Zeitschrift im Bereich der Geschichtswissenschaft. Das muss aber nicht so bleiben. Bevor man ein ambitionierteres Projekt angeht, könnte man mit einem E-Journal experimentieren, das kürzere Beiträge (etwa bis 10 DIN-A-4-Seiten) aufnehmen soll (analog zu dem kanadischen Open-Access-E-Journal
Opuscula, das für ausdrücklich Editionen von Kurztexten aus Mittelalter und Renaissance vorgesehen ist). Auch kleine Funde sind als
Mosaiksteinchen zu einem größeren Bild mitteilenswert. Dieses Journal könnte – nach dem Motto “keep it simple and stupid” – als Blog im Rahmen von de.hypotheses.org realisiert werden. Arbeitstitel: “Historische Miszellen”. Die freie Lizenz CC-BY wäre wünschenswert. Langzeitarchivierung und dauerhafte Adressen der Beiträge (URN, DOI o.ä.) sollten sichergestellt werden – auch wenn das Projekt nach einer Evaluierungsphase eventuell aufgegeben wird.
Obwohl ich nicht dazu neige, die Forderung nach einem “Peer Review” wie eine Monstranz umherzutragen (nach wie vor praktizieren wichtige geschichtswissenschaftliche Zeitschriften
anscheinend kein Peer Review), wäre es keine schlechte Idee, eine solche Qualitätssicherung einzubauen. Das Peer Review sollte nicht länger als einen Monat beanspruchen. Beiträge sollen neue Erkenntnisse enthalten, müssen aber nicht unbedingt attraktive Themen behandeln oder hoch-innovativ sein. Das Review soll vor allem offenkundigen Unsinn, unwissenschaftliche oder grob fehlerhafte Beiträge aussondern (Vorbild:
PLoS One). ”Doppelt blind” wird nicht praktiziert, ob ein Open Review stattfindet, könnte der Beiträger entscheiden. Anders als bei dem Open Review von
“Kunstgeschichte” sollten aber mindestens zwei Gutachter in jedem Fall eine kurze schriftliche Stellungnahme mit Anregungen/Auflagen abgeben.
Blogs sollten ein wissenschaftliches Experimentierfeld sein, sie sollten – gemäß dem von mir geforderten neuen “Kult des Fragments” – auch Unfertiges und Unausgereiftes aufnehmen. Die Beiträge können dann – nach dem Prinzip der “Bananensoftware” – in der Öffentlichkeit reifen, bis sie der Autor – eventuell nach Einarbeitung von Hinweisen in den Kommentaren – einem etwas formellerem Medium, einer gedruckten Publikation oder den hier vorgeschlagenen “Historischen Miszellen” überantwortet. Es schadet aber auch nichts, wenn sie diese Veredelungsstufe nicht erreichen.
Über den Herold Georg Rüxner aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts gibt es in Archivalia derzeit
50 Einträge, von denen einige unbekanntes Material enthalten. Über eine Publikationsanfrage der Landshuter Museen hatte ich 2009 die Möglichkeit, den damaligen Kenntnisstand in einem gedruckten Ausstellungsbegleitband zusammenzufassen. Inzwischen gibt es dazu aber etliche Nachträge, die teils in Archivalia bereits publiziert wurden, teils auf eine solche Mitteilung noch warten. Da ich leider dazu neige, Themen anzufangen und dann halb- oder dreiviertelbearbeitet in der Schublade liegenzulassen, therapiert Archivalia als ständiges “work in progress” hin und wieder eine solche Schreibblockade.
Blogs sind schneller als gedruckte Publikationen, sie können multimedialer sein und haben vor allem einen für mich entscheidenden Vorteil, den sie mit allen Online-Publikationen, die auf eine HTML-Präsentation setzen, teilen. Soweit Quellen und Literatur online vorhanden sind, können sie verlinkt und vom Leser
mit einem Klick überprüft werden. (Das wäre übrigens auch ein Mittel zur
Plagiatbekämpfung.)
Fazit: Wir müssen auch in den Geisteswissenschaften davon wegkommen, die gedruckte Publikation als Non-Plus-Ultra der wissenschaftlichen Kommunikation zu betrachten. Dafür brauchen wir mehr Mut und mehr Experimente.
Quelle: http://redaktionsblog.hypotheses.org/392