10. Philipp II. und die Welt als Tisch

Tisch

Im Windschatten allgemeiner Aufmerksamkeit

Jeden Tag benutzen wir sie: Tische in unterschiedlichsten Formen, als Esstisch, als Schreibtisch, als Konferenztisch, als Kaffeetisch, als Nachttisch, als Wickeltisch, als Stammtisch und manchmal sogar als Katzentisch. Und das ist eine recht unvollständige Auflistung. Es bedarf nicht vieler Argumente, um die menschliche Abhängigkeit vom Tisch sowohl im Allgemeinen wie im Besonderen zu belegen. Wir verbringen jeden Tag so viele Stunden an diesem unscheinbaren Möbel, dass es zu Lasten unserer Gesundheit geht und sich ganze Dienstleistungszweige ausgebildet haben, die sich den Auswirkungen einer „vertischten“ Gesellschaft widmen.

Bei allen gesundheitlichen Spätfolgen, die das Leben am Tisch mit sich bringt, gilt es hinreichend zu würdigen, dass der Tisch für die Gattung Mensch eine ungemein nützliche Erfindung ist. Sein spezifischer Knochenbau mit diversen Scharniergelenken (Knie, Hüfte, Ellenbogen) prädestiniert den Menschen zu einer sitzenden Haltung. Und da der Mensch nun einmal dazu tendiert, die Welt so einzurichten, wie es seinen physischen Voraussetzungen entspricht, zieht er in dieser sitzenden Position gleich noch einen Tisch heran, um dort sein Essen abzustellen, Papier zu stapeln oder die Ellenbogen aufzustützen. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Erfindung des Tisches kaum weniger bedeutsam ist als die Erfindung des Feuers oder des Rades.

Dass der Tisch aber üblicherweise nicht in eine Reihe mit diesen grundlegenden Erfindungen der Kulturgeschichte gestellt wird, könnte ein Beleg für die klugen Schachzüge (Schach – ein Tischspiel!) dieses Möbels sein, seine weltfundierenden Funktionen geschickt zu verbergen, um im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit umso effektiver zu agieren. Denn in seiner vermeintlichen Schlichtheit und stillen Zurückhaltung versteht es der Tisch, den Umstand zu verdecken, dass er weit mehr ist als ein Gebrauchsgegenstand. Im Tisch steckt nichts weniger als ein umfassendes Ordnungsmodell, ein Entwurf unserer Welt. Der Tisch repräsentiert nicht einfach nur eine bestimmte Sicht auf unsere Welt, sondern er macht uns diese Welt überhaupt erst verfügbar. Und man könnte sogar die etwas irritierende Frage stellen, ob wir uns wirklich des Tisches bedienen, um die Welt zu bewältigen, oder ob es nicht vielmehr der Tisch ist, der uns seine Version der Welt vorführt, sie uns geradezu „auftischt“.

Ein entmythisierter Atlas

Unter unseren Händen, Tellern, Papierstapeln und Computerbildschirmen ächzt also nicht einfach nur ein bewährtes Stück Materialität, das unserer Zivilisation schon viele Dienste erwiesen hat. Vielmehr stützen wir uns auf eine der zentralen Möglichkeiten, wie wir uns der Welt überhaupt noch versichern können. Der Tisch ist unser entmythisierter Atlas, der für zwar nicht mehr das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern, aber all unsere Weltentwürfe auf seiner Platte trägt.

Wie aber konnte das geschehen? Wie kam die Welt auf den Tisch und wie wurde der Tisch zur Welt? Es hängt wohl nicht zuletzt mit dem wachsenden Radius menschlicher Aktivität zusammen. Der Expansionsdrang des Menschen, der auf mehr Macht, mehr Geld, mehr Wissen und überhaupt mehr von allem abzielt, neigt dazu, den unmittelbar zugänglichen Ausschnitt der Welt als nicht mehr ausreichend anzusehen. Dem Willen nach Mehr wird der eigene Vorgarten irgendwann zu eng. Dieses Mehr an Welt wird jedoch mit einem paradoxen Effekt erkauft – nämlich einem gleichzeitigen Weniger an Welt. Je weiter wir ausgreifen, um mehr von dieser Welt zu wissen, mehr von ihr zu besitzen und mehr von ihr zu beherrschen, desto weniger können wir diese Welt in unmittelbarer Weise erfahren. Wir müssen uns technischer Hilfsmittel bedienen, um mit ihr überhaupt noch umgehen zu können – und an genau dieser Stelle kommt der Tisch ins Spiel.

Man sollte sich davor hüten, hier eine historisch konsequente und von Anfang an zielgerichtete Geschichte zu erzählen, die unweigerlich auf mehr Tisch und weniger Welt hinausläuft. Aber man kann einige Stationen in der globalen Tischgeschichte herauspicken, anhand derer sich der Erfolg dieses Möbels nachvollziehen lässt. Auffallender Weise wurde der Tisch immer dann zum Inbegriff von Welt, wenn der Mensch sich von eben dieser Welt abwandte. In der Politik übernahm er seine tragende Rolle beispielsweise in dem Moment, als Herrscher keine Schlachten mehr schlugen, sondern nur noch von anderen schlagen ließen, um stattdessen Figürchen oder Fähnchen auf einem mit einer Karte bedeckten Tisch hin- und herzuschieben; oder als diese Herrschenden sich nicht mehr in die Welt hinein bewegen wollten, ihren Herrschaftsbereich nicht mehr selbst bereisten, wie es die mittelalterlichen Fürsten und Könige noch getan hatten, sondern sich in ihre allmählich gemütlicher werdenden Schlösser zurückzogen, um anschließend nur noch mittels Akten zu regieren, die man – ja, genau – auf den Tisch legen konnte: „My desk is my castle“.[1]

Schreibtischtäter

Unabhängig davon, ob es sich um die Welt der Politik oder der Wirtschaft oder eines anderen Lebensbereichs handelt, es sind immer Tische, auf denen sämtliche Informationen zusammenlaufen. Hier befindet sich der Nabel der (jeweils eigenen) Welt, hier kommt alles an und von hier geht alles weg. Auch unsere Bilderwelt ist angefüllt von Tischen als Inbegriffen der Macht. Es sind Konferenzräume oder Büros, in deren Mitte ganz selbstverständlich immer ein Tisch steht. Und will man Regierende bei der Tätigkeit des Regierens zeigen, dann lässt man sie an diesen Tischen sitzen. Die Fernsehnachrichtenbilder der Zusammenkünfte von Regierungsmannschaften sprechen eine deutliche Sprache, denn es ist der Kabinettstisch, von dem aus die Geschicke des Landes, wenn nicht der ganzen Welt entschieden werden. Je bedeutsamer der Tisch (und die Tischbenutzer), desto weitreichender die Auswirkungen, die von ihm ausgehen.[2]

Vor diesem Hintergrund macht der Ausdruck des „Schreibtischtäters“ auch überhaupt erst Sinn. Denn als Figur wie als Begriff bringt er genau dieses Tisch-Paradox zum Ausdruck, wonach der Tisch ein Mehr an Welt gewährleistet, indem er immer weniger Welt unmittelbar an den Tischbenutzer heranlässt. Man kann am Tisch Entscheidungen und Handlungen von ungeheurer Tragweite treffen, riesige Mengen Geldes bewegen, über das Leben von Millionen entscheiden, Länder zu ungeheurer Macht oder zum vernichtenden Untergang führen – ohne sich auch nur einmal von diesem Möbel entfernt zu haben. Aber man sollte nicht vorschnell davon ausgehen, dass der Schreibtisch diese Funktion erst im Zeitalter moderner Bürokratie und Telekommunikation erlangt hat.

Es gibt berühmte Beispiele von Herrschern, die ihren Tisch zum Zentrum der Welt machten und die Welt auf ihren Tisch konzentrierten. Einer der bekanntesten ist Philipp II. von Spanien (1527-1598), der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich über ein Imperium herrschte, das sich auch für den reiselustigsten Regierenden in dieser Zeit nicht mehr unmittelbar erfahren ließ; und was den direkten Kontakt mit der Welt anging, war Philipp II. ohnehin nicht der Engagierteste. Lieber schloss er sich in seinem als Kloster angelegten Herrschaftssitz Escorial ein und erwartete, dass die Welt zu ihm kam, auf seinen Schreibtisch. Das gesamte koloniale Riesenreich Spaniens, von Amerika über die Besitzungen in Italien bis nach Asien, wurde vor allem über das Studium von Akten kontrolliert. Nicht nur das, auch in seinem unmittelbaren Lebensbereich am Hof korrespondierte Philipp am liebsten über Notizen und Zettel, die er an seinem Schreibtisch verfasste. Das Leben als Schreibtischmonarch kam seinem Charakter entgegen, denn er galt als verschlossen und kontaktscheu, eigentlich unnahbar. Die Existenz am Schreibtisch erlaubte ihm, immer mehr von der Welt auszuschließen, um gleichzeitig immer mehr mit diesem Möbel zu verschmelzen. Er verzichtete ab 1559 nicht nur auf Reisen außerhalb Spaniens, sondern verließ auch sein Zimmer im Escorial in späteren Jahren nur noch für den Gottesdienst. Man mag es daher kaum als Zufall ansehen, dass ihn auch die typischen Gebrechen eines Schreibtischmenschen ereilten: Er soll der erste Monarch gewesen sein, der eine Brille benutzte, und gegen Ende seines Lebens war er an den Rollstuhl gefesselt, verbrachte seine Zeit also in einer Körperhaltung, die – so zynisch das auch klingen mag – wie angegossen zum Schreibtisch passt.[3]

Der Tisch ist eine Scheibe

Seit Philipp II. ist die neuzeitliche Geschichte gepflastert mit Menschen (nicht selten männlichen Geschlechts), die die Macht des Schreibtischs zu nutzen wussten. In der allgemeinen Diskussion hat sich dabei die Auffassung etabliert, es gäbe eine fundamentale Trennung zwischen dem Schreibtischleben und dem wahren Leben „dort draußen“, in der harten, kalten Realität. Aber diese Vorstellung ist mit einem Fragezeichen zu versehen. Denn Welt und Tisch auf diese Weise in Opposition zueinander zu setzen, führt in die falsche Richtung. Vielmehr muss man festhalten, dass der Tisch eine Fortsetzung der Welt mit anderen Mitteln ist: Die Welt wird „tischbar“.

Und dass sich die Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts die Welt immer noch auftischt, muss nicht großartig bewiesen werden. Die jüngsten medialen und technischen Entwicklungen können und wollen sich nicht von der Tischförmigkeit des Weltzugriffs lösen. Die Benutzeroberfläche des Computers nennt sich „Desktop“, und der Tablet-Computer kommt als „Tischchen“ mit dem Versprechen daher, uns die Welt umfassend zur Verfügung zu stellen. Erheben wir uns also nicht arrogant über frühere Zeiten und andere Kulturen. Die Erde war noch nie eine Scheibe, aber die Welt ist immer noch ein Tisch. Wir sind da kaum weiter gekommen. Oder haben Sie schon einmal einen Tisch in Kugelform gesehen?

[1] Uta Brandes/Michael Erlhoff (Hg.): My Desk is my Castle. Exploring Personalization Cultures, Basel 2011.

[2] Jacqueline Hassink: The Table of Power. Amsterdam 2000; Jacqueline Hassink: The Table of Power 2. Ostfildern 2011.

[3] Arndt Brendecke: Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft, Köln/Weimar/Wien 2009.


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/07/12/10-philipp-ii-und-die-welt-als-tisch/

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Web2.0 und Lokalgeschichte | z.B. die facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“

Das Blog Historisch denken | Geschichte machen geht in die Sommerpause und wünscht erholsame Ferien!

Fotoalbum der facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“

 

Die Dynamik von Kommunikation im Web2.0 und beispielsweise der Erfolg einer facebook-Gruppe sind kaum vorhersehbar. Hier soll (exemplarisch) die vor einem Jahr gegründete und „vor Ort“ seither außerordentlich nachgefragte facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“  vorgestellt werden. Bergisch Gladbach ist eine betreffs städtebaulicher Reize eher mittelprivilegierte Großstadt (auf Platz 70 der 76 deutschen Großstädte) im Schatten der Metropole Köln. Gemessen an etwa 109 000 Einwohner/innen sind die bislang über 8 000 Mitglieder der facebook-Gruppe auffällig viele; bemerkenswert ist zudem die rege Beteiligung. Es werden u.a. zahlreiche alte Fotos (teils aus Familienalben, teils aus Publikationen) sowie auch Schriftstücke oder Kuriositäten hochgeladen und oft umfassend kommentiert. Die vergangene Woche (Mo., 1. Juli, bis So., 7. Juli) weist über 120 neue Posts mit insgesamt ca. 2700 Kommentaren (sic! richtige Kommentare, nicht nur likes) auf; von den Posts behandeln etwa 70 tatsächlich lokalgeschichtliche Inhalte (in den übrigen geht es um aktuelle Themen, aber auch um Ärztetipps, vegetarische Restaurants oder Kindergartenflohmärkte). Dabei wurden zugleich etwa 60 historische Fotografien oder Ansichten von Gebäuden hochgeladen. Ein kurzer Blick auf facebook zeigt, dass es ähnliche und auch ähnlich erfolgreiche Gruppen in vielen anderen Städten und Kommunen gibt.

Abgesehen davon, dass private Zuträger von Fotos oder anderen Quellen aus Privatbesitz das „Gedächtnis der Stadt“ digital bereichern, bilden sich in den Posts und Kommentaren interessante Hinweise auf offenbar verbreitete lokalgeschichtliche Identifikations- und Orientierungsbedürfnisse ab. Diese reichen von Informationsaustausch: „puuuhh soweit ich weiß war die Wilhelmstr. die heutige Johann-Wilhelm-Lindlar-Str. *grübel* die Straße vom Löwen Richtung Paas war die Marienstrasse …“ über Banalitäten: „Zu genau der Zeit hatte man auch gerade einem bekannten Frittenbudenbesitzer die Bude zugemacht weil ein Kunde ein Rattengebiss in seinem Schaschlik gefunden hatte …“ bis hin zu Verklärungen: „Toll. So sieht die heutige Jugend mal wie schön Gladbach früher war.“ (alle Kommentare: Post vom Freitag, 6. Juli, 18:16, zum Foto: Bergischer Löwe). Posts mit über 100 Kommentaren sind keine Seltenheit; der facebook-Diskurs bietet somit umfangreiches Material für die Untersuchung lokal- und regionalgeschichtlicher Erinnerungskulturen.

In den Diskussionen über Geschichtslernen mit digitalen Medien ist bereits darauf hingewiesen worden, dass im Netz besondere, neuartige Zugänge erstens zur Hinwendung zu Geschichts- und Erinnerungskulturen und zweitens zur Regional- und Lokalgeschichte eröffnet werden.[1] Unter den Beiträgern der facebook-Gruppe finden sich zwar offenbar nur wenige Jugendliche resp. Schüler/innen. Dennoch werden viele Jugendliche in der Rolle stiller Beobachter gelegentlich mit lokalgeschichtlichen Posts und Fotos in Kontakt kommen. Für den Geschichtsunterricht eignen sich lokalgeschichtliche facebook-Seiten möglicherweise als Einstieg zur Beschäftigung mit lokalgeschichtlichen Themen oder (anspruchsvoller) um anhand der Posts und Kommentare die Argumentationen und Funktionsweisen lokalgeschichtlicher Erinnerungskultur zu dekonstruieren.

[1] S. hierzu Beispielsweise die Blogposts von Daniel Bernsen zur Regionalgeschichte oder zum Mobile Learning, sowie die Übersicht der Potenziale digitaler Medien für das Geschichtslernen.

empfohlene Zitierweise    Pallaske, Christoph (2013): Web2.0 und Lokalgeschichte | z.B. die facebook-Gruppe „Du kommst aus Bergisch Gladbach, wenn…“ In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 8.7..2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/1923, vom [Datum des Abrufs].

Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/1923

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09. Brockhaus und die Fragilität des Wissens

Brockhaus_Lexikon_17_Bande_WK_01Aufräumarbeiten in der Vergangenheit

Wieder einmal klappt er zu, der Sargdeckel des Veralteten. Ein historisches Kapitel wird beschlossen, ein lange Zeit vertrautes Element verabschiedet sich aus der Wirklichkeit, ein bislang selbstverständliches Phänomen verlässt das Hier und Jetzt – und lenkt damit unseren Blick auf eben diese Wirklichkeit, in der wir leben.  Den Brockhaus wird es in Zukunft nicht mehr geben. Nach mehr als 200 Jahren wird dieser einst als unverzichtbar geltende Hort des Wissens, der in keinem sich selbst als bildungsbürgerlich verstehenden Haushalt fehlen durfte, der Entropie der Geschichte zum Opfer fallen. Oder muss man genau genommen nicht davon sprechen, dass es ihn schon länger nicht mehr gibt? Denn die wirtschaftlichen Probleme und zurückgehenden Absatzzahlen, in denen die sinkende Bedeutung dieses Nachschlagewerks ihren unerbittlichen Ausdruck findet, sind ja nicht über Nacht aufgetaucht. Schon länger schwächelt der Brockhaus, weshalb die nun getroffene Ankündigung wie die Hinnahme einer schon länger bestehenden Tatsache anmutet. Die Entwicklungen der jüngeren Zeit – 2012 wurde bereits bekannt gegeben, dass die altehrwürdige „Enyclopaedia Britannica“ nur noch digital erscheint – sind wohl eher Aufräumarbeiten in den Halden einer abgeschlossenen Vergangenheit. Die Reaktionen auf das Brockhaus-Ende sind daher auch weniger durch ein kulturpessimistisches „Was soll jetzt werden?“ als vielmehr durch ein erleichtertes „Wurde aber auch Zeit“ geprägt.

Mit was für einer Veränderung haben wie es hier zu tun? Handelt es sich um eine Verschiebung lexikalischen Wissens vom Bücherregal auf den Bildschirm? Oder wird hier das gewinnorientierte Verlagsunternehmen durch die kollaborative Schwarmintelligenz abgelöst? Oder überholt die Hochgeschwindigkeit des Virtuellen die Trägheit des Gedruckten? Ohne Frage sind all das Faktoren, die sich am Beispiel des Endes klassischer Enzyklopädien beobachten lassen. Schließlich ist es nur zu offensichtlich, dass in der derzeitig vorherrschenden Lexikalisierung von Wissen eine Transformation stattgefunden hat (und weiterhin stattfindet), dass teure und verhältnismäßig schwerfällige Buchprodukte nicht mehr mit kostenlosen und flexiblen Internetangeboten konkurrieren können und dass die Ansprüche an Verfügbarkeit und Aktualisierbarkeit des Wissens einer unübersehbaren Beschleunigung unterliegen.

Beständige Anpassung

Aber ist das aktuelle Ereignis des Brockhaus-Endes tatsächlich ein Indiz für den Abschluss einer historischen Entwicklung? Wir haben es mit dem Ende eines Wirtschaftsunternehmens zu tun, aber nicht – in einem tragischen Sinn – mit dem Ende eines Kapitels der Kulturgeschichte oder – in einem emphatischen Sinn – mit einem Beleg für eine Revolution des Wissens. Wir sind vielmehr Zeugen einer erneuten Transformation der Wissensorganisation, von der einst auch Brockhaus profitierte. Denn das seit 1808 erscheinende Konversationslexikon war wahrlich nicht das erste seiner Art. Schon ein Jahrhundert zuvor hatte sich das nur als „Hübner“ bekannte „Reale Staats- Zeitungs- und Conversationslexicon“ etabliert. Es war um 1700 aus der Notwenigkeit heraus entstanden, die im noch relativ jungen Medium der Zeitung behandelte Welt der Gegenwart zu thematisieren. Wissen sollte sich also nicht mehr nur auf klassische und gewissermaßen ewig gültige Inhalte beziehen, sondern hatte nun auch das Hier und Jetzt zu behandeln. Denn die Welt, wie sie der Leserschaft in der periodisch erscheinenden Zeitung vor Augen trat, war durchzogen von Phänomenen, Personen, Ereignissen, Institutionen und Begriffen, die nicht ohne weiteres verständlich waren. Die Gattung des Zeitungs- und Konversationslexikons sollte hier Abhilfe schaffen.

Schon dieses neue Informationsmedium lebte von der Beschleunigung des Wissens, denn Voraussetzung seines Erfolgs war, dass es sich an die permanent verändernde Gegenwart anpasste und in beständig verbesserten Auflagen erschien. Andere Enzyklopädien, die seit dem 16. Jahrhundert (und auch noch parallel zu den neuen Konversationslexika im 18. Jahrhundert) erschienen, waren Einmalprodukte. Sie traten mit dem hypertrophen Anspruch auf, das Wissen der Welt in einer letztlich vollständigen und vor allem dauerhaft gültigen Form zu versammeln. Aber selbst bei diesen einmalig erscheinenden Enzyklopädien lassen sich Phänomene nicht übersehen, die einer Dynamisierung des Wissens dienen sollten. Denn hatten ältere Exemplare noch auf ein topisches und systematisches Wissensverständnis gesetzt, indem sie ihre Inhalte in Themenbereichen anordneten, sprengten spätere Veröffentlichungen diese Einheit auf. Sie gingen zu einer alphabetischen Organisation des Wissenskosmos über, wodurch keinerlei inhaltlicher Zusammenhang mehr sichtbar wurde. Die Einheit des Wissens wurde geradezu zerfetzt, indem man sie der zufälligen Zuordnung der Buchstabenfolge überließ. Dadurch konnten solche Lexika aber zugleich als schnellere Nachschlagewerke genutzt werden, die überhaupt nicht mehr die Intention hatten, zur Gänze gelesen zu werden.

Die Beständigkeit des Unbeständigen

Vor diesem Hintergrund ist das Ende des Brockhaus überhaupt kein Ende. Der Wandel des Mediums und die zunehmende Dynamisierung des Wissens sind nur konsequente Fortsetzungen von Prozessen, die schon seit Längerem zugange sind. Aufschlussreicher ist daher möglicherweise die Frage nach der Kultur, die Wissen für sich in einer bestimmten lexikalischen Form organisiert. Wenn das Wikipedia-Prinzip inzwischen das Brockhaus-Prinzip abgelöst hat, dann überwindet hier nicht nur das schnellere Internet das langsamere Buch. Dann wird vor allem eine Unbeständigkeit und Unsicherheit des Wissens etabliert, die wesentlich bedeutsamer zu sein scheint. Der gedruckte Brockhaus arbeitete mit einer Verbindung von Zeit und Wissen, die wenn schon nicht auf Ewigkeit, dann zumindest auf Dauerhaftigkeit setzte. Wissen war stabil – oder hatte zumindest stabil zu erscheinen. Demgegenüber funktioniert Wikipedia nicht nur auf der Basis des Prinzips, dass Wissen immer aktualisiert werden muss, sondern dass es sich von den Grundlagen bis in die kleinsten Verästelungen hinein beständig verändern können muss. Die Fragilität des Wissens tritt an die Stelle der Stabilität. Und wenn man sich der Beständigkeit des Wissens über die Welt unsicher geworden ist, dann macht seine Materialisierung in Papierform auch keinen Sinn mehr. Wenn das Ende des Brockhaus also etwas über unsere Wirklichkeit verrät, dann über den fragilen Status des Wissens.


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08. Michon und die Faktizität des Fiktionalen

BilderrahmenGemalte Ambivalenz

Eine Begebenheit aus der Französischen Revolution: Die Herrschaft des Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre hat seinen Höhepunkt erreicht, der Terreur wütet und die Guillotinen verrichten ihre Arbeit. Im Winter 1793 wird der Maler François-Elie Corentin beauftragt, ein Gemälde der elf Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses anzufertigen. Selbstredend ist es das Ziel dieses Gruppenportraits, das schließlich die riesigen Ausmaße von vier mal drei Metern annehmen sollte, Geschichte zu machen, soll heißen: die Sicht der Nachwelt auf das Wirken des Wohlfahrtsausschusses zu bestimmen. Die Geschichte dieses Gemäldes wird in dem jüngst ins Deutsche übersetzten Buch von Pierre Michon mit dem schlichten Titel „Die Elf“ erzählt. Die andauernde Faszination von Corentins Gemälde resultiert aus der Ambivalenz möglicher Deutungen. Man kann darin sowohl einen Robespierre als Halbgott der Revolution als auch einen Robespierre als machthungrigen Tyrannen entdecken.

In seiner Schilderung stellt Pierre Michon den Maler Corentin, der im französischen Limousin aufwuchs und beim Historienmaler Jacques-Louis David ausgebildet wurde, in eine Reihe mit keinen Geringeren als Giotto, Leonardo, Rembrandt, Goya oder van Gogh. Auch der französische Historiker Jules Michelet hat in seiner immer noch bedeutsamen „Geschichte der Französischen Revolution“, die in sieben Bänden zwischen 1847 und 1853 erschien, diesem riesigen Gemälde ein eigenes Kapitel gewidmet. Sie sollten sich also bei ihrem nächsten Besuch des Pariser Louvre Michons Buch unter den Arm klemmen, seiner Wegbeschreibung folgen (er gibt genau an, wo das Bild – geschützt von dickem Panzerglas – hängt) und sich diese gemalte Form der Geschichtsproduktion näher ansehen.

Die Wirklichkeit des Erfundenen

Seien Sie aber nicht zu enttäuscht, wenn Sie nichts finden. Denn das Gemälde gibt es nicht. In seinem meisterlichen Stück Prosa, das eine Mischung aus Essay, Künstlerportrait und literarischer Augenwischerei ist, hat Michon eine Gestalt mit einer erfundenen Biographie und den Louvre mit einem nie gemalten Bild ausgestattet. Zugegeben, er will uns hier kein Schelmenstück vorführen, weshalb recht schnell klar wird, dass wir Leser einer Erfindung sind. Michon hat also nicht den Weg Wolfgang Hildesheimers eingeschlagen, der seinen „Marbot“ im Stil einer klassischen Biographie mit so viel Plausibilität belegte, dass man unweigerlich zum Lexikon greifen möchte, um sicherzugehen, dass Marbot tatsächlich nie lebte.

Aber selbst wenn wir durchschauen, dass es sich um Fiktion handelt, dass der Maler Corentin niemals existierte und das Gemälde „Die Elf“ auch nach intensiver Suche im Louvre nicht aufzufinden ist – sollte uns das tatsächlich die historischen Schultern zucken lassen und Gemälde samt Maler der völligen Bedeutungslosigkeit überantworten? Wenn Corentin und „Die Elf“ nie Wirklichkeit waren, haben sie dann auch mit unserer (historischen) Wirklichkeit nichts zu tun?

Man kann die Beantwortung dieser Frage vom jeweiligen kulturhistorischen Status fiktionaler Texte oder vom Wirklichkeitsverständnis abhängig machen, mit dem man zu hantieren bereit ist. Die naheliegende Unterscheidung nähme eine klare Trennung zwischen Faktizität und Fiktionalität vor. Die erfundenen Geschichten mögen als nette Unterhaltung dienen, mögen sogar erkenntnisfördernd sein und uns die Augen öffnen für die Zustände der Wirklichkeit – aber sie sind keine Wirklichkeit! Menschen, Objekten und Ereignissen, die allein in der Form von Druckerschwärze und Papier, Celluloid oder Pixeln existieren, darüber hinaus aber keine außermediale Existenz besitzen, streiten wir üblicherweise den Wirklichkeitsstatus ab. Problematisch an einer solchen Auffassung ist nur, dass wir zumindest die Bücher, Filme oder Bilder, die diese Fiktionen enthalten, als Teil unserer Wirklichkeit anerkennen müssen. Wenn sie aber schon einmal da sind, könnte es dann nicht sein, dass sie mitsamt ihren Geschichten auch Wirksamkeiten entfalten, also in unsere Wirklichkeit hineinwirken?

Absolute Wahrheit

Fiktionen zeichnen sich ja nicht zuletzt dadurch aus, dass sie innerhalb ihres eigenen Referenzrahmens in einer Art und Weise auf Wirklichkeit und Wahrheit pochen können, wie dies in der Welt außerhalb des fiktionalen Rahmens niemals möglich wäre. In der Welt der erfundenen Geschichten haben alternative Wirklichkeitsentwürfe nur insofern Platz, als sie durch die Schöpfer der Fiktion zugelassen werden. Die Wahrheit der Fiktion ist absolut. Ein solcher Grad an Wirklichkeitsverdichtung lässt sich nicht einmal in der totalitärsten aller Diktaturen erreichen.

Interessant wird es dann, wenn die unterschiedlichen Sphären der Wirklichkeit, die faktischen und die fiktionalen, miteinander in Kontakt treten und sich überschneiden. Denn die Fiktionen sind beständig dabei, unsere Wirklichkeit zu verändern und zu infizieren: Nicht nur kommt die nicht-fiktionale Welt in der fiktionalen vor, ebenso werden fiktionale Deutungsangebote in unsere außerfiktionalen Lebens- und Weltentwürfe importiert.

Dann ist es nicht mehr so einfach, zwischen Erfindung und Realität zu unterscheiden. Aber das ist wohl weniger ein Problem der mangelnden Trennschärfe, vielmehr ein Problem unseres unzureichenden und eingeschränkten Wirklichkeitsverständnisses. Es gehört zum Standardrepertoire von Romanen, dem Leser zu versichern, es handele sich um wahrheitsgemäße Darstellungen, die vom Autor nur in seiner Funktion als Herausgeber veröffentlicht würden. (Auch Michon bemüht die beständige Ansprache an den Leser als Realitätsevokation, so als befände man sich bei einer Museumsführung.) Die Fiktion imitiert und desavouiert die Wirklichkeit in ihrem Realitätsverständnis – gleichzeitig gelingt es der außerfiktionalen Realität aber nicht in der gleichen Weise, ihre fiktionalen Gehalte ernst zu nehmen.

Muss es aber nicht so erscheinen, als seien Figuren wie Don Quijote, Robinson Crusoe, Faust oder Dracula selbstverständliche Bestandteile unseres Lebens? Zumindest muss man sie als Elemente unserer historischen Wirklichkeit akzeptieren, weil sich einerseits in ihnen vergangene Realität verdichtet und weil sie andererseits auf diese Wirklichkeiten unübersehbaren Einfluss ausgeübt haben. Dabei handelt es sich bei diesen und vielen weitere Figuren um Beispiele, die ihre Fiktionalitätsmarkierung noch eindeutig mit sich herumtragen. Etwas mulmiger wird die Angelegenheit schon, wenn man erfährt, dass das US-Verteidigungsministerium kurz nach dem 11. September 2001 Renny Harlin engagierte, um Untergangsszenarien für mögliche weitere Anschläge zu entwerfen. Harlin war aber nicht Mitglied eines politikstrategischen think-tanks, sondern Drehbuchautor und Regisseur von „Die Hard 2“. [1]

Aber haben wir auch nur eine ungefähre Vorstellung davon, wie viele Erfindungen wir als selbstverständliche historische Wahrheit mit uns herumschleppen? Eine Märchengeschichte, die beispielsweise bis zum heutigen Tag in historischen Darstellungen und Schulbüchern wiederholt wird, handelt von der mittelalterlichen Überzeugung, bei der Erde handele es sich um eine Scheibe anstatt um eine Kugel. Dass diese „Geschichte“ eine Mittelalter-Fiktion des 19. Jahrhunderts ist, wurde schon längst erwiesen. [2] Scheint aber fast niemanden zu interessieren. Als Fiktion ist sie so mächtig, dass sie allenthalben nachgeplappert wird.

Die Frage danach, wer oder was denn nun Geschichte macht, lässt sich erwartungsgemäß auch nicht mit Blick auf die Fiktion letztgültig beantworten. Aber wie auch immer die Antwort ausfallen sollte, die fiktiven Geschichten und Figuren dürfen dabei nicht vergessen werden. Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Menschen inzwischen im Louvre nachgefragt haben, wo denn nun das Gemälde der „Elf“ zu finden sei.

[1] David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest, München 2011, 92

[2] Peter Aufgebauer: „Die Erde ist eine Scheibe“. Das mittelalterliche Weltbild in der Wahrnehmung der Neuzeit, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 57 (2006) 427-441

[Pierre Michon: Die Elf. Übersetzt von Eva Moldenhauer, Berlin 2013]


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Ungleiche Geschwister | Medienbegriffe des Geschichtslernens

In den vergangenen Jahren und Monaten haben sich Diskussionen über die Auswirkungen des digitalen Wandels und digitaler Medien auf das Geschichtslernen (zuletzt u.a. auf den Tagungen #gld13 in München und #nmdig in Salzburg) intensiviert. Gelegentliche Unschärfen dieser Diskussionen ergeben sich daraus, dass von Medien gesprochen wird, dabei aber unterschiedliche Medienbegriffe zugrunde gelegt werden. Das folgende Schaubild differenziert (nach derzeitigem Stand) für das Geschichtslernen relevante Medienbegriffe.


Einerseits schließen sich die drei aufgeführten Medienbegriffe, die bereits seit vielen Jahren diskutiert werden[1], und die aufgezeigten Geltungsansprüche nicht gegenseitig aus und können deshalb supplementär nebeneinander angeordnet werden; die vorgeschlagene Abstufung der Relevanz ist eine normative Setzung. Andererseits sind die Medienbegriffe ungleiche Geschwister. Es gibt wenige Bezugnahmen zwischen den jeweiligen Entstehungs- und Diskussionskontexten, Vorannahmen und zentralen Kategorien.

In der Geschichtsdidaktik ist der Medienbegriff seit Jahren klar abgesteckt und etabliert. Hauptsächlich auf Hans-Jürgen Pandel geht die Setzung zurück, dass Vergangenheit nur medial vermittelbar ist und sich die Geschichte ihre Medien selbst schafft. Im Mittelpunkt dieses Medienbegriffs stehen Objektivationen und Präsentationsformen von Vergangenheit und Geschichte; sie werden aufgrund der Kriterien Authentizität und Historisierbarkeit in Quellen, Darstellungen und Fiktionen kategorisiert. Aus dieser Festlegung resultieren verschiedene Mediengattungen (Texte z.B. als Textquellen, historische Fachliteratur und historische Romane; Filme z.B. als Filmdokument, Dokumentarfilm oder Historienfilm usw.). Dieser Medienbegriff kann eine große Plausibilität für sich verbuchen. Gegenüber Aspekten des digitalen Wandels ist er jedoch abweisend wie eine Teflonpfanne – schließlich ist es beispielsweise gleichgültig, ob Bilder in analoger oder digitalisierter Form vorliegen oder projiziert werden.

Mit dem Fokus auf das Geschichtslernen gewinnen deshalb zusätzlich allgemeine Medienbegriffe an Bedeutung um Veränderungen des Geschichtslernens im digitalen Wandel zu beschreiben und zu erklären; diese berühren auch fachdidaktische Gesichtspunkte. Betreffs des formellen Lernens sind Medien als Lehr- und Lernmittel relevant, dabei insbesondere der instrumentelle Charakter von Medien nicht nur als Mittel, sondern auch als Mittler. Solche Instrumente konfigurieren mediale Denk- und Lernräume, in denen verstärkt subjektorientiertes Lernen stattfinden kann. Diesbezüglich zeigen digitale Medien neue Formen und Wege des Geschichtslernens auf. Digitale Denk- und Lernräume werden (nach heutigem Stand) vor allem durch digitale Geräte und das Internet konfiguriert. Online-Tools wie Blogs, Wikis oder Etherpads ermöglichen beispielsweise kollaborative Lernformate, die bezüglich Diskursivität und Kontroversität auch fachdidaktische Relevanz aufweisen.

Der allgemeine bzw. gesellschaftliche Medienbegriff, der sich mit der Frage der Verbreitung der Massenmedien und der Ausbildung von Medienkompetenz beschäftigt, verdeutlicht, dass mit dem digitalen Wandel ein tiefgreifender gesellschaftlicher und kultureller Umbruch einhergeht, der sowohl formelle als auch informelle Aspekte des Geschichtslernens einschließt. Auf der Münchner Tagung wurde zum digitalen Wandel auch das Lernen unter den Bedingungen der Digitalität diskutiert, dem man sich längst nicht mehr entziehen kann – beispielsweise der Umstand, dass Schüler/innen (egal ob erlaubt oder nicht) Informationen mit ihren Smartphones nachschlagen und sich deshalb die Aufgaben- und Lernkultur verändern sollte. Bezogen auf fachdidaktische Aspekte spielen für das Geschichtslernen insbesondere der entgrenzte Raum des Internets mit einer Hinwendung zur Geschichtskultur oder die neuen kommunikativen Möglichkeiten z.B. in Social Media eine bedeutende Rolle. Einen besonderen Beitrag des Geschichtslernens kann auch die Thematisierung von Mediengeschichte leisten, die durch Medien ausgelöste gesellschaftliche Veränderungen der Vergangenheit mit den aktuellen, rasanten Entwicklungen der heutigen Mediengesellschaft in Beziehung setzt.

Die Diskussion zur Bedeutung des digitalen Wandels für das Geschichtslernen lässt sich somit einfach systematisieren, indem nicht allgemein von Medien, sondern von a) Medien im Sinne des (etablierten) geschichtsdidaktischen Medienbegriffs, b) Medien als Lehr- und Lernmedien und c) Medien im Sinne eines gesellschaftlichen Medienbegriffs gesprochen wird.

Das Schaubild macht einerseits deutlich, dass das Geschichtslernen mit digitalen Medien  aus Perspektive der Geschichtsdidaktik nicht von primärer Relevanz ist. Andererseits kann der etablierte geschichtsdidaktische Medienbegriff den sich vollziehenden digitalen Wandel nur unzureichend beschreiben. Daher kommt den im allgemeindidaktischen Kontext diskutierten Medienbegriffen für die fachdidaktische Reflexion im sich rasant vollziehenden digitalen Wandel eine wachsende Bedeutung zu. Bezogen auf den geschichtsdidaktischen Medienbegriff stellt sich schließlich die Frage, erstens ob und zweitens mittels welcher Ansätze die aufgezeigte Lücke gefüllt werde könnte.

[1] Wichtige Stichwortgeber zur Diskussion des Medienbegriffs für das Geschichtslernen sind neben Hans-Jürgen Pandel, der diesbezüglich die einschlägige Handbuchliteratur dominiert, u.a. Host Gies, der Medien als “Mittel und Mittler” beschrieben hat sowie zuletzt Daniel Bernsen, Alexander König und Thomas Spahn mit ihrem Beitrag Medien und historisches Lernen. Eine ausführliche Darstellung mit entsprechenden Literaturangaben (für das Blog zu umfangreich) folgt im Beitrag zum Open Peer Review „Geschichte Lernen im digitalen Wandel“ (zur Tagung in München vom März 2013).

empfohlene Zitierweise    Pallaske, Christoph (2013): Ungleiche Geschwister | Medienbegriffe des Geschichtslernens. In: Historisch denken | Geschichte machen | Blog von Christoph Pallaske, vom 8.5.2013. Abrufbar unter URL: http://historischdenken.hypotheses.org/1653, vom [Datum des Abrufs].

Quelle: http://historischdenken.hypotheses.org/1653

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06. Benjamin und das Ereignis im Zeitalter seiner technischen Multiplizierbarkeit

Per Fingerdruck in die Ewigkeit

Neulich im Zoo, Abteilung für Fische, Reptilien, Amphibien und ähnliches: Menschen, die vor Aquarien und Terrarien stehen, ohne auf die Tiere selbst oder wenigstens auf die sie einsperrende Glasscheibe zu sehen, sondern beständig den Bildschirm ihres Smartphones anstarren und ein Foto nach dem anderen schießen, möglicherweise auch den einen oder anderen Kurzfilm drehen. Ich erwische mich bei einer viel zu naheliegenden kulturpessimistischen Reaktion: Warum, um Himmels willen, muss man bei einem Zoobesuch Zierfische, Stabschrecken oder Tiefseequallen fotografieren, anstatt sie einfach nur anzusehen? Was macht man zu Hause mit diesen Dutzenden von Bildern – außer löschen, um danach neue unsinnige Bilder zu knipsen?

Bevor mich die nicht mehr ganz frische Überzeugung vom Untergang des Abendlandes endgültig in ihre Krallen bekommt, fällt mir dankenswerterweise noch ein, dass ein anderer Beobachter sich hätte fragen können, warum man sich als halbwegs reflektierter Mensch in eine Institution namens „Zoologischer Garten“ begibt, um dort in naturidentischen Mikrobiotopen Tiere zu betrachten, die in diesem Gefängnis nun wirklich nichts verloren haben. Mein Verhalten gibt also nicht minder Anlass zu Stirnrunzeln und Kopfschütteln.

Um hier aber nicht in thematisch unüberschaubare Gefilde wie Mensch-Tier-Beziehungen zu geraten, bleiben wir zunächst bei den Alltags- und Alles-Fotografen. Die Existenz dieses Phänotypus ist nun alles andere als eine aufregende Beobachtung, schließlich haben entsprechende Bildgebungstechniken schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Womit wir es aber in der jüngeren Vergangenheit zu tun haben, ist das exponentielle Wachstum der fotografischen Bildproduktion durch die Unabhängigkeit vom Fotoapparat. Man muss schon seit einer kleinen Weile keine unhandliche Kamera mehr mit sich herumschleppen, man kann einfach den Apparat zücken, der früher vor allem ein Telefon war, um das gewünschte Foto zu machen. Die beständige Verfügbarkeit – lediglich gebremst durch die Akkulaufzeit – lädt ein zum Dauerknipsen. Die Frage, die mich dabei interessiert, kann man in gut Benjaminscher Manier stellen: Welche Rückwirkungen hat diese Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation auf unser Verständnis von Geschichte und ihren Ereignissen (S. 12)?

Abgesehen von der Frage, wie sehr wir uns auf ein Leben vor und durch den Bildschirm einlassen wollen, muss ich wohl neidlos anerkennen, dass all die Fotografierer und Videografierer, all die Dokumentaristen ihres eigenen Alltags ein wesentlich tiefer gehendes Verständnis von Geschichte haben als ich. Sie arbeiten nämlich mit Hochdruck am Projekt der Auto-Historisierung, der durchgehenden und umfassenden Überlieferung ihres eigenen Lebens – das höchstwahrscheinlich nichts „Historisches“ (im Sinne von „Außergewöhnliches“) aufzuweisen haben wird, außer der Überlieferung selbst. Unzählig viele Menschen sind genau in diesem Moment dabei, an ihrer eigenen Unsterblichkeit zu basteln, indem sie ihr Dasein bildlich fixieren. Auch das hat schon Walter Benjamin in seiner eigenen Gegenwart beobachtet: Man kann sich mit einem Fingerdruck in die Ewigkeit katapultieren (S. 131). Die Kamera im Mobiltelefon potenziert diese Möglichkeiten nochmals um ein Vielfaches, weil sich der Weg zwischen Objektsichtung, Aufnahme und Veröffentlichung auf ein Minimum reduziert hat.

Sofern sich das Problem der dauerhaften Datensicherung halbwegs in den Griff bekommen lässt – schließlich sind elektronische Speichermedien für eine längerfristige Archivierung denkbar ungeeignet –, werden zukünftige Historiker/innen in einem unüberschaubaren Ozean umfassend dokumentierter Lebensläufe baden können. Hier entsteht eine eigene Parallelüberlieferung zur offiziösen und institutionell kontrollierten Geschichtsschreibung der Mächtigen. Die Geschichte des Alltags könnte in gänzlich neue Dimensionen vorstoßen, weil die Vielen eben nicht mehr nur stumme Objekte der Historiographierung derjenigen sind, die sich (auch überlieferungstechnisch) besser organisieren können, sondern die technischen Möglichkeiten ihnen eigene Stimmen und Perspektiven verschaffen. „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.“ (S. 32) Und sei es auch nur beim Bestaunen von Zierfischen.

Nachgemachte Ereignisse

Ebenso dürften künftige Historiker/innen bei der Sichtung dieses Materials aber feststellen, dass sich in den autobiographischen Bilderstrecken von der Wiege bis zur Bahre nicht nur der widerständige Eigensinn eingenistet hat, sondern dass hier zugleich machtgesättigte Diskurse für ihre eigene Reproduktion und Multiplikation sorgten. Und da kann ich den Kulturpessimisten in mir nicht ganz zum Schweigen bringen. Denn werden nicht massenhaft diejenigen Ereignisse als Ereignisse festgehalten, die zuvor schon als Ereignisse apostrophiert und inszeniert wurden? Was sieht man denn inzwischen bei Krönungsfeierlichkeiten, Staatshäupterbegegnungen, Sportwettkämpfen oder Prominentenauftritten außer einem Wald von hochgereckten Handys? Die Zuschauerschar wird nachdrücklich auf die „historische“ Ereignishaftigkeit eines Geschehens hingewiesen, um es dann brav für den privaten Rahmen zu reproduzieren und im Netz zu multiplizieren. Was als nächstes geschehen wird, ist immer schon längst geschehen, weil in hinreichendem Maß durch eine ausgefeilte Inszenierung geplant. Ereignisse werden gemacht – und nachgemacht. Der große historische Auftritt, minutiös im Vorhinein einstudiert, wird tausendfach aus jeweils individuellen, zugleich gänzlich stromlinienförmigen Blickwinkeln festgehalten. Ereignisse werden (und sind) damit in einem kaum noch steigerbaren Maß selbstreferentiell, weil in den Medien vorkommt, was in den Medien vorkommt.

Bei Ereignissen, denen die Menschen nur noch durch ihre Handy-Kameras beiwohnen, ohne das Geschehen selbst zu betrachten, ist diese Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit der historischen Archivierung mit Händen zu greifen: Hier bestätigt sich die Bekanntheit des Bekannten, hier öffnet sich das Fenster zur öffentlichen Multiplizierbarkeit. Im Moment, in dem „es“ geschieht (was immer „es“ auch ist), sieht man „es“ schon durch die mediale und damit auch historische Bedeutsamkeit suggerierende Vermittlung des eigenen kleinen Taschenbildschirms: Mama, wir sind im Fernsehen!

Die Körnung der Ereignisse

Aber wie schon Benjamin wusste: „Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“ (S. 17) Es sind mithin nicht nur die inszenierten Ereignisse, die auf ihre Multiplikatoren wirken, sondern es sind ebenso die Multiplikatoren, die nun Ereignisse erzeugen – und nicht selten völlig ungeahnte.

Die Vervielfältigung der Möglichkeiten bildlicher Dokumentation demokratisiert das historische Ereignis. Es lässt sich nicht mehr absehen und nicht mehr kontrollieren, wann ein Ereignis zu einem solchen wird. Und unerwünschte Ereignisse lassen sich inzwischen auch schwerer unterdrücken. Die Planbarkeit von Historischem entzieht sich zumindest teilweise dem Zugriff der Machthaber. Die allzeit bereiten Bildaufzeichnungsgeräte, die im Stile eines fotografierenden Revolverhelden in Sekundenschnelle gezückt werden können, sind auch überall dort, wo eigentlich nichts passieren sollte. Ereignisse lassen sich von unten machen. Das mag gänzlich Unspektakuläres betreffen, wenn private Videos via Youtube eine Aufmerksamkeit erhalten, die sie überhaupt erst zu Ereignissen machen. Das betrifft aber auch gravierendere Geschehnisse wie Demonstrationen, Proteste, Aufstände oder Kriege – man sehe sich nur die Dokumentation des arabischen Frühlings an –, wenn das Fehlen anderer Beobachter die Handy-Kamera zur dokumentarischen Macht werden lässt.

Mit Blick auf die Presse im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hat Benjamin davon gesprochen, dass immer mehr Lesende inzwischen zu Schreibenden werden (S. 32f.). Aufs Historische übertragen, kann man feststellen, dass immer mehr Ereignisrezipienten zu Ereignisproduzenten werden. Die fernsehbebilderten Abendnachrichten sind deutlich geprägt durch das Informationsmaterial von (nicht selten unfreiwilligen) Amateurkorrespondenten. Es vergeht kaum eine Sendung, in der nicht ein privates Foto oder ein verwackelter Videomitschnitt Verwendung finden. Naturkatastrophen, Unfälle oder Anschläge – mit anderen Worten, all die plötzlich eintretenden Dinge, die nicht schon als pünktlich terminierte Ereignisse angekündigt und vorbereitet worden waren, werden zum Tummelfeld der Knipser und Filmer. Diese Bilder in eher schlechter Auflösung und mit zu geringer Pixelzahl, diese verwackelten Videos, bei denen man zuweilen vor allem sieht, dass man nichts sieht, außer plötzlich explodierenden Farben, kombiniert mit einem wilden Stimmengewirr auf der Tonspur, können dem Geschehen wieder etwas Anarchisches zurückgeben. Auch wenn es sich zumeist um wenig erfreuliche Vorgänge handelt, um Tod und Zerstörung, so halten diese Bilder doch auch eine historische Lehre parat: Die Körnung der Bilder verweist auf die Körnung der Ereignisse. Sie zeigen uns die Unschärfe des Plötzlichen.

[Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Kommentar v. Detlev Schöttker, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2012]


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05. Whitechapel und das mörderische Geschichtsfernsehen

Heutzutage lernt man im Fernsehen über das wirkliche Leben. Keine Sorge, hier folgt kein vorhersagbares Einprügeln auf unterirdisches „Reality-TV“, das seinen lebensfremden Charakter bereits durch den englischsprachigen Titel anzeigt, mit dem aufwendige televisonäre Produktionstechniken versprochen werden, wie sie im Bildschirm-Universum Sinn machen mögen, aber nicht unbedingt für die Welt außerhalb davon. „Wirklichkeitsfernsehen“ hingegen wäre eine verstörende, allzu pädagogisch klingende Bezeichnung – Fernsehen, das den Bildungsauftrag tatsächlich noch ernst nähme. Nein, es geht um die allseits hochgelobten Fernsehserien meist amerikanischer Machart, die möglichst lebensnah und möglichst glaubwürdig an unterschiedliche gesellschaftliche Situationen heranzoomen, um diese in Kombination mit entsprechenden Schauspielerleistungen, Drehbüchern und auch sonstigem technisch-künstlerischem Aufwand über viele Stunden Sendezeit hinweg in all ihren Verästelungen zu sezieren. Mögen diese Serien nun „The Wire“, „Homeland“, „Mad Men“, „Sopranos“ oder sonstwie heißen, hier scheint man irgendwie klüger fürs Leben zu werden.

Mein Pech, denn ich habe es nicht so mit dem Fernsehen. Mag zwar snobistisch klingen, aber ich halte diese Nicht-Tätigkeit zu einem gehörigen Teil für Zeitverschwendung. Nicht weil da nur Schrott liefe, denn es gibt inzwischen ausreichend Auswahl, um sich auch ein interessantes Programm zusammenstellen zu können. Nein, ich mag einfach die Situation der strukturellen Passivität nicht, in die mich das Fernsehen zwingt. Nicht nur die individuelle Zeitorganisation hat sich nach dem Fernsehen auszurichten, sondern man muss auch in körperlich unterwürfiger Duldungsstarre verharren, um die Inhalte zu erwarten, die einem serviert werden. Die einzig vom Zuschauer erwartete Aktivität besteht in der Hantierung der Fernbedienung und dem möglichst geschickten Abpassen der Werbepausen, um körperlichen Bedürfnissen nachzukommen. Nicht mein Ding, vor allem wenn die guten Sendungen gar keine Werbepausen haben!

Natürlich sehe ich fern. Nach einer zwischenzeitlichen zehnjährigen Abstinenz bin ich schon seit Längerem wieder Mitbesitzer eines entsprechenden Übertragungsgeräts. Die Nachrichten versäume ich eher ungern, zuweilen wird auch Fußball konsumiert und manchmal darf es ein Film sein, den man eigentlich im Kino anschauen sollte. Das war es eigentlich. Wenn es da nicht ab und an die kleinen Schicksalsschläge des Lebens gäbe, die strukturelle Passivität zu einem wohligen Zustand werden lassen. Die gemeine mitteleuropäische Durchschnittserkältung beispielsweise, oder der winterliche grippale Infekt, die jeglichen Ansatz von Aktivität in einem kläglich Kreislaufkreiseln und einem undefinierbaren Hirnwabern enden lassen. Da bin ich dann doch einmal ganz dankbar für die Programmgestaltung der Fernsehanstalten und die Segnungen des Zappens.

Bei einer solchen, eigentlich eher unwillkommenen Gelegenheit durfte ich die Erfahrung machen, wie man aus Fernsehserien tatsächlich etwas lernen kann, sogar etwas über die Arten und Weisen des Geschichtemachens. „Whitechapel“ heißt die britische Krimi-Serie, deren Inhalte hier nicht im Einzelnen nachzuerzählen sind. Wichtig ist die personale Grundkonstellation, aus der die jeweiligen Fälle ihre Dramatik beziehen: Inspektor Joseph Chandler ist ein typisches Produkt der englischen upper-class, gebildet, sportlich, hoch gewachsen, gut aussehend, snobistisch, aber mit dem Herz am rechten Fleck – und ausgestattet mit ein paar neurotischen Anwandlungen; Ray Miles ist der raue, altgediente Polizeihaudegen mit eher proletarischem Hintergrund, hat daher zunächst seine Probleme mit Chandler, die aber zusehends von väterlicher Sympathie abgelöst werden; und Edward Buchan, der Nerd in der Runde, ein Hobby-Krimihistoriker, der zunächst eingeführt wird als Autor populärhistorischer Bücher und Stadtführer und der sein Geld mit Führungen für Touristen an die Orte des Verbrechens in Whitechapel verdient, im Lauf der Serie aber zum Archivar und zum historischen Berater der Mordkommission mutiert (und dabei von dem Raubein Ray Miles notorisch abgelehnt wird).

Zwischen Unmengen Kräutertee und Medikamenten von ungewisser Wirkkraft war es insbesondere diese Figur des Edward Buchan, die mit ihren Wandlungen mein Oberstübchen ein wenig zum Leben erwecken konnte. Denn seine Aufgaben und sein Verständnis von der Geschichte des Verbrechens verändern sich im Lauf der Serie erheblich, und zwar in einer Art und Weise, dass man daran fast eine Geschichte der Geschichtsschreibung in Kurzform festmachen könnte:

Phase 1: Historia Magistra Vitae. In der ersten Staffel geht im Londoner Stadtteil Whitechapel ein Copykiller um, der die Morde von Jack the Ripper detailgetreu nachahmt. Der neu berufene Inspektor Chandler gerät an den Ripper-Experten (ripperologist heißt der treffende Ausdruck im Englischen) Edward Buchan, der ihm aufgrund seiner historischen Kenntnisse genau vorhersagen kann, wann und unter welchen Umständen der jeweils nächste Mord geschehen wird. Seine aus der Vergangenheit gewonnenen Prognosen sind so genau, dass Buchan zeitweilig selbst unter Verdacht gerät. Geschichte wiederholt sich hier tatsächlich. Man kann aber auch aus ihr lernen, denn zumindest der letzte Ripper-Mord kann dank der historischen Expertise verhindert werden – die Geschichte ist die Lehrmeisterin des Lebens.

Phase 2: Historismus. Edward Buchan hat sich von seiner Tätigkeit als ripperologist losgesagt, weil ihm bewusst geworden ist, dass echte Morde nichts mit der Schauermärchenromantik des 19. Jahrhunderts zu tun haben. Wo Menschen tatsächlich sterben, kommt der nostalgische Voyeurismus an sein Ende. Buchan will sich mit seiner Expertise aber weiterhin nützlich machen und drängt sich der Polizei mit seinen Erkenntnissen auf. Inspektor Chandler sieht – trotz mancher Zweifel – den Erkenntnisgewinn, den ihm der rückwärtsgewandte Kriminalist verschafft. In einer weiteren kopierten Verbrecher-Karriere behaupten die Zwillingsbrüder Jimmy und Johnny Kray die Söhne von Ronnie Kray zu sein – der wiederum mit seinem Zwillingsbruder Reggie in den 1950er und 1960er Jahren Whitechapel unsicher gemacht hat. Wieder scheint sich Geschichte zu wiederholen, nun allerdings unter historistischen Vorzeichen: Die Polizei nutzt den Zugriff auf die historischen Quellen, soll heißen: auf die DNA der alten und der neuen Kray-Zwillinge, um den Schwindel auffliegen zu lassen. Denn bei der Wiederauflage der Verbrecherbrüder handelt es sich keineswegs um die Söhne von Ronnie Kray. Eine quellenkritische Geschichte hat die Wahrheit über Vergangenheit und Gegenwart ans Licht gebracht und damit dem mythisch angehauchten Spuk ein Ende bereitet.

Phase 3: Kritische Geschichte. Edward Buchan hat erreicht, was er wollte. Er ist als researcher bei der Mordkommission eingestellt, man könnte sagen: als polizeilich bestallter Kriminalitätshistoriker. Die Begründungen, die Inspektor Chandler für diese Personalentscheidung gibt, weisen der Geschichte nun eine kritische Rolle zu: Man soll nicht nur aus den 200 Jahren Verbrechensgeschichte lernen, die im hauseigenen Archiv lagern, sondern soll, vermittelt über dieses historische Material, auch eine andere Perspektive auf die jeweiligen Fälle gewinnen. Zusätzlich verändert sich die Rolle der Geschichte. Denn nun geht es nicht mehr um Copykiller, die die Vergangenheit imitieren. Die Situation wird komplexer. Buchan sitzt in seinem Archivkeller und soll die Berge an Akten über vergangene Verbrechen mit einem strukturierenden und systematisierenden Blick durchforsten. An die Stelle der Geschichte einzelner großer Kriminalfälle tritt nun die Strukturgeschichte mit ihrem typisierenden Verfahren. Zugleich muss der Polizeihistoriker jedoch erkennen, dass ihm mit dieser Zunahme an Komplexität auch die Fähigkeit der eindeutigen historisierenden Prognose verloren gegangen ist. Er kann nicht mehr vorhersagen, wann und wie ein Verbrechen geschehen wird, kann nur noch historisch gewonnene Muster erstellen. Weil diese jedoch nicht immer zutreffen, sterben Menschen. Buchan stellt die Sinnfrage und gerät in eine ernsthafte Krise.

Phase 4: Was nun? Mit einem verzweifelten Buchan, der aufgrund seiner Unzulänglichkeiten – die Geschichte ist nicht mehr Lehrmeisterin des Lebens! – inzwischen auch psychologische Hilfe in Anspruch nehmen muss, endet die dritte Staffel. Die Tragik wird noch dadurch gesteigert, dass Buchan auch den Tod seiner Psychologin nicht verhindern kann. Die Geschichte ist nicht nur kritisch geworden, sondern zugleich in eine handfeste Krise geraten. Wie in der kritischen Sozialgeschichte der 1970er Jahre wird auch hier die Frage gestellt: Wozu noch Geschichte?

Eine vierte Staffel der Serie ist offensichtlich geplant. Stellt sich die Frage, wie es weitergehen könnte mit unserem Polizeihistoriker und der Rolle der Geschichte bei der Bewältigung der Wirklichkeit (des Verbrechens). Nur konsequent wäre eine postmoderne Wende. Denkbar wäre eine Staffel, in der ein Archivaußen konsequent negiert wird, in der sich das Verbrechen nun im Archiv und seinen Akten abspielt, in der der Archivar möglicherweise selbst zum Mörder, zum Vollstrecker der historischen Überlieferung wird – und sich dabei im Archiv selbst auf die Schliche kommt. Der Polizeihistoriker würde dann möglicherweise verschwinden, aber das Archiv würde in all seiner zwielichtigen Bedrohlichkeit weiterbestehen.

Aber dann müsste auch noch eine fünfte Staffel folgen, in der das Verhältnis von Geschichte und Wirklichkeit, von Vergangenheit und Gegenwart neu und offen verhandelt würde. Dann ließen sich geschichtstheoretische Überlegungen in die Mordfälle einbauen, die das komplexe Wechselverhältnis zwischen einer Gegenwart und ihren verschiedenen Möglichkeiten der Bezugnahme zur Vergangenheit thematisieren. Dabei kann es auch nicht mehr genügen, ein dichotomisches Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterstellen, sondern vergangene Gegenwart müsste als Teil unseres Hier und Jetzt offenbar werden, ohne zur Lehrmeisterin degradiert zu werden.

Zugegeben, ein wenig telegener Vorschlag. Ein Glück für dieses Medium, dass ich mir keine Fernsehmorde ausdenken muss. Ich kann nur hoffen, dass mich die nächste Erkältung zum richtigen Zeitpunkt niederstreckt – genau dann, wenn die vierte Staffel ausgestrahlt wird und ich mich gerne passiv berieseln und von geschichtstheoretisch affinen Serien belehren lasse.


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03. Niebel und die musealisierte Mütze

Selbstentwicklungshilfeminister

Es war einmal ein deutscher Entwicklungshilfeminister, der gar nicht Entwicklungshilfeminister werden wollte und bei dem sich auch niemand erklären konnte, warum ausgerechnet er diesen Job übernehmen sollte. Zudem hatte dieser Entwicklungshilfeminister einen Regierungsposten besetzt, den seine Partei und wahlprogrammgemäß auch er selbst kurz zuvor noch als unnötig und geldverschwenderisch abschaffen wollten. Nicht zuletzt musste man sich fragen, bei welcher „Entwicklung“ dieser Minister hätte helfen können, außer vielleicht bei seiner eigenen karrieretechnischen. Aber es scheint dann insbesondere der letzte Punkt gewesen zu sein, der ihn alle Bedenken über Bord werfen ließ, um im Dienst der Sache, nämlich seiner eigenen, im Jahr 2009 diesen Posten zu übernehmen. Besser irgendein Minister als gar kein Minister.

Seither kann man ab und an beobachten, wie Dirk Niebel möglichst medienwirksam in dieser politischen Arena zu reüssieren versucht, wie er bei großen internationalen Kongressen immer etwas deplatziert wirkt in diesen multikulturellen Zusammenhängen, wie in der Begegnung mit Menschen von anderen Kontinenten die Überraschung über deren FDP-Ferne immer noch groß zu sein scheint, wie ein gewisses Fremdeln mit dem eigenen Amt und den damit zusammenhängenden Aufgaben kaum zu übersehen ist – und wie ein Minister sich mit einer befremdlichen Mütze vor der Hitze Afrikas zu schützen sucht.

Die Mütze im Museum

Richtigerweise muss man inzwischen sagen: mit der er sich zu schützen versuchte. Denn die vor Kurzem noch aktuelle Verwendung von Niebels Mütze ist inzwischen zur Vergangenheit geworden. Eine Verwendungsweise hat der anderen Platz gemacht, das Kleidungsstück ist zum Ausstellungsstück mutiert. Niebels Mütze ist den Weg alles Symbolischen gegangen: Sie ist ins Museum gewandert. Am 7. März 2013 übergab der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, dem Sammlungsdirektor des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, Dr. Dietmar Preißler, die Mütze, die er seit seiner Bundeswehrzeit bei den Fallschirmjägern besaß (die Fallschirmspringerei scheint in der FDP eine gewisse Tradition zu genießen) und die er bei seinen ministerialen Auslandsreisen immer getragen hat. Wir haben es also mit der historischen Großepoche zwischen Frühjahr 2010 (Niebels erste Auslandsreise) und Frühjahr 2013 (Musealisierung der Mütze) zu tun.

In dieser Zeit hat Niebel – diese Mütze tragend – welche historisch aufwühlenden Taten vollbracht oder ihnen wenigstens beigewohnt? Nun, er ist ins nicht-europäische Ausland gereist und hat Fernsehinterviews gegeben, was man eben so macht als Entwicklungshilfeminister. Dabei hat er immer getreu dem Michel-aus-Lönneberga-Motto gehandelt: „Nicht ohne meine Müsse.“ Da kann man nur sagen: Das wurde aber auch Zeit, dass dieses einmalige Stück der jüngeren Zeitgeschichte endlich dem Museum vermacht und dem drohenden Verlust für die Nachwelt entrissen wurde. Entsprechend ließ der Minister auf der Internetseite seines Ministeriums auch der Freude Ausdruck verleihen, „dass meine Mütze heute den Weg in die Geschichtsbücher findet.“ (Ohne allzu beckmesserisch sein zu wollen, aber zunächst ist die Mütze ins Geschichtsmuseum gewandert; ob sie es in die Geschichtsbücher schafft, ist eine andere Frage. Aber vielleicht freut sich der Minister auch, dass sie den Weg in (m)ein Geschichtsblog gefunden hat?)

Mütze und Macht

So erfreulich und geschichtsträchtig dieser Vorgang auch sein mag, einige Fragen drängen sich natürlich auf, bei denen es politisch und vor allem historisch interessant wird. Da wäre einmal die Frage nach der Initiative – wer hat denn dafür gesorgt, dass das gute Stück ins Museum kommt? Ich hege den Verdacht, dass es vielleicht nicht das Museum selbst war. Schließlich hat Niebel schon vor Längerem angekündigt, dass es seine umstrittene Kopfbedeckung noch einmal ins Museum schaffen würde. Aber dass es so schnell gehen würde …

Nächste Frage: Was könnte sich das Museum von dieser vorauseilenden Historisierung versprechen? Sammlungsdirektor Preißler sagte laut Pressemeldung, die Mütze stehe „in einer Reihe mit Kleidungsstücken von Politikern, die über deren Person und die Wahrnehmung in den Medien Auskunft geben“. Joschka Fischers Turnschuhe, Helmut Kohls Strickjacke, Helmut Schmidts Schirmmütze – alles museal nachvollziehbar und tatsächlich Teil des bundesrepublikanischen Bildgedächtnisses geworden. Aber befindet sich Niebels Mütze tatsächlich schon in dieser Liga? Sollte dem nicht so sein, dürfte man weniger die Mütze selbst als vielmehr ihren Träger dafür verantwortlich machen. Das Museum wäre zumindest vorbereitet, wenn dem Politiker doch noch ein kometenhafter Aufstieg vergönnt sein sollte (auch das soll in der FDP ja schon vorgekommen sein). Und einer geschenkten Mütze schaut man nicht auf die Schweißränder.

Dritte Frage: Welche historische Erkenntnis darf der künftige Museumsbesucher von dem Ausstellungsstück erwarten? Es ist richtig, der Zusammenhang von Kleidung und Macht kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Botschaften, die eine Elisabeth II. im Krönungsornat, ein Mao Zedong in Arbeiter- oder Soldatenuniform und ein Joschka Fischer in Turnschuhen bei der Vereidigung übermitteln, sind wesentlich prägnanter als langatmige Reden. [1] Hier kann man tatsächlich auf einen Blick erfassen, wofür diese politischen Entscheidungsträger stehen oder wie sie gesehen werden wollen. (Das Bonner Museum kann sich also schon einmal an die Planung eines Anbaus machen, wenn demnächst Angela Merkel ihre gesamte Kollektion an Kostümen vorbeibringt.) Wenn das aber so ist, welche Botschaft wollte Niebel dann vermitteln, als er im Ausland ausgerechnet mit einer Mütze des deutschen Militärs auftauchte? Vielleicht: „Oh, Entschuldigung, ich hatte gerade keinen anderen Schutz gegen die Sonne zur Hand“? „Mein spärliches Ministergehalt genügt leider nicht für eine andere Kopfbedeckung“? „Entwicklungshilfe ist ein Kampfeinsatz“? Oder: „Wenn ich schon eine Randfigur im Kabinett bin und von der Materie wenig Ahnung habe, dann sollte ich dabei wenigstens optisch auffallen“?

Diese eher unangenehm berührende Form der Selbsthistorisierung kann den künftigen Museumsbesucher also am ehesten darüber belehren, wie zukünftige Vergangenheiten in der Gegenwart dazu missbraucht werden sollten, politische und historische Bedeutung zu produzieren, die bedauerlicherweise wenig Substanz hat. Geschichte wird gemacht, das ist schon richtig. Aber glücklicherweise ist daran nicht nur eine Person beteiligt. Über eine wirklich nachhaltige Historisierung und Musealisierung entscheiden immer noch die Nachgeborenen, nicht allein die Gegenwärtigen.

Schade allerdings, dass ausgerechnet diese weit reichende Erkenntnis den Besuchern des Hauses der Geschichte in Bonn bis auf weiteres verwehrt bleibt. Die Mütze verschwindet nämlich erst einmal in der Asservatenkammer (was die Pressemeldungen peinlichst verschwiegen haben). Dabei war es doch das Ziel dieser Aktion, Niebels politischer Karriere genau diesen Gang zu ersparen.

[1] Thomas Frank u.a.: Des Kaisers neue Kleider. Über das imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt a.M. 2002.


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02. Franziskus und die Frage nach Zeit oder Ewigkeit

Rituale im Flüsterton

Es ist schon ein paar Tage her, dass der katholischen Welt ein neues Oberhaupt beschert wurde und der Rest der Welt einen neuen Papst kennenlernte. Lassen wir an dieser Stelle die vielen Diskussionen um die Reformbedürftigkeit und Reformwilligkeit einer fast zweitausend Jahre alten Institution beiseite, all die Fragen um die Kompatibilität einer Heilsgarantieinstitution samt Alleinvertretungsanspruch mit den Gegebenheiten des frühen 21. Jahrhunderts. Als Unternehmensberater müsste man der katholischen Kirche wohl dringend raten, keinesfalls diesen Aufforderungen zur Anpassung an die Gegenwart nachzugeben, denn damit würde sie ihren unverwechselbaren Markenkern verlieren. Wo findet man so etwas noch, eine weithin etablierte Institution riesigen Ausmaßes mit einer gehörigen Anhängerschaft (wie aktiv oder passiv diese auch immer sein mag), die ganz offensichtlich in der Lage ist, ein bestimmtes menschliches Bedürfnis nach Ritual und Mysterium zu bedienen? Wie groß dieses Bedürfnis immer noch ist, kann man jedes Jahr an Weihnachten und eben bei jeder Papstwahl beobachten. Auch bei der Kür von Franziskus konnte man sich als Mensch mit einem halbwegs aufgeklärten Selbstverständnis nur wundern über die Berichterstattung diverser Medien. Da wurde über geheimnisvolle Rituale geraunt, wurden lateinische Formeln ausgedeutet und Jahrhunderte alte Traditionen mit gravitätischem Unterton auf ihre Bedeutungen hin abgeklopft. Insbesondere bei Fernsehliveübertragungen müssen sich die Berichtenden dann auch noch eines leichten Flüstertons befleißigen, um ja die Aura des Geschehens nicht über Gebühr zu stören. Man kam sich vor wie bei einem dieser schlechten Dan-Brown-Vatikan-Thriller. Sage mir einer angesichts dieses offensichtlichen Bedürfnisses nach dem Numinosen, das die katholische Kirche umgibt (und mit dem sie umgeben wird), sie sei nicht mehr von dieser Welt. Gut, sie ist nicht mehr von dieser Welt, aber gerade deswegen wird sie sich nicht ändern. Man muss sich entscheiden: entweder Mysterium und Weihrauch (inklusive Zölibat, sexuellen Missbrauchsfällen, Homophobie und einer Ungleichbehandlung der Geschlechter) oder eine „moderne“ Kirche, die mit beiden Füßen in der Gegenwart steht – dafür aber ohne Tamtam und Klimbim. Ich denke, die Chancen der katholischen Kirche, sich nicht ernsthaft modernisieren zu müssen, stehen nicht schlecht.

Der Wievielte?

Aber das soll hier ja gar nicht interessieren. Am Tag der Wahl von Franziskus, am 13. März 2013, gab es eine andere, marginal erscheinende Gelegenheit festzustellen, wie weit die katholische Kirche und die Welt des frühen 21. Jahrhunderts sich bereits auseinander entwickelt haben. Aufgrund der unsäglichen Unsitte, inzwischen auch recht gute Restaurants flächendeckend mit Flachbildschirmen zu tapezieren, wurde ich während eines Abendessens unfreiwilliger Zeuge der Liveübertragung von der Proklamation des neuen Papstes in Rom. Wie auf Knopfdruck titelten alle Medien, und das offensichtlich weltweit, der Name des neuen Papstes sei „Franziskus I.“. Wie inzwischen bekannt, war das nicht korrekt, widersprach auch den Angaben des Vatikans, der die Zählung an keiner Stelle erwähnte, und wurde innerhalb von 24 Stunden von den gleichen Medien auch als Irrtum erkannt und korrigiert. Es gibt zunächst einmal einen trivialen logischen Grund, warum der Titel „Franziskus I.“ keinen Sinn ergibt. Warum sollte man irgendjemand als den Ersten bezeichnen, wenn es nicht mindestens einen Zweiten gibt, von dem er sich unterscheiden könnte? Wenn man schon unbedingt eine Zählung einführen wollte, dann müsste Franziskus nicht „der Erste“, sondern korrekterweise „der bisher Einzige“ als Namenszusatz führen. Oder wenn wir schon bei unsinnigen Titulaturen sind, dann könnten wir ihn, in memoriam Michael Ende, auch Franziskus den Viertelvorzwölften nennen.

Zeit oder Ewigkeit

Aber mit der Zählung war ja schnell Schluss, schon am Tag nach der Wahl hieß der Papst ganz brav überall nur noch „Franziskus“. Mir scheinen die Medienvertreter weltweit aber nicht nur deswegen spontan mit der Bezeichnung „Franziskus I.“ reagiert zu haben, weil sie in ihrer Ausbildung leider gerade auf einem Betriebsausflug waren, als die Seminare „Logik I und II“ angeboten wurden, sondern weil hier zwei grundsätzlich verschiedene temporale Modelle aufeinandertreffen. Es geht um nichts weniger als den Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Fortschritts- und Heilsgeschichte. Und möglicherweise wird gerade an dieser Marginalie, ob man Franziskus nun als den ersten bezeichnen möchte oder nicht, deutlich, wie sehr sich die katholische und die nicht-katholische Welt unterscheiden. Mit einem säkularen Zeit- und Geschichtsverständnis könnte es durchaus sinnvoll erscheinen, Franziskus als den ersten zu bezeichnen. Schließlich muss und darf man davon ausgehen, dass die Geschichte der Menschheit (und der katholischen Kirche) auf Erden noch eine ganze Weile, um nicht zu sagen: unendlich fortgesetzt wird, so dass schon irgendwann ein zweiter kommen wird. Dieses subkutan vorherrschende historische Modell hat, so denke ich, zu den spontanen Tickermeldungen geführt, die den neuen Papst als den ersten seines Namens durchnummerierten. Übersetzt könnte das heißen: Er ist der erste Franziskus, aber ein zweiter wird schon noch kommen, selbst wenn wir ein paar Jahrhunderte warten müssen, aber die Zeit haben wir. Die katholische Kirche hingegen lebt in einer heilsgeschichtlich orientierten Welt, in der es einerseits die Zeit auf Erden gibt, andererseits eine göttliche Ewigkeit, eine transzendente Zeitentrücktheit, auf die Religion im eigentlichen Sinn konzentriert sein muss. Angesichts der Ewigkeit ist die Zeit auf Erden nicht nur eine zu vernachlässigende Marginalie, sondern sie ist auch noch endlich. Schließlich ist die Schöpfung mit einem heilsgeschichtlichen Verfallsdatum versehen, wird irgendwann an ihr Ende kommen, um der Ewigkeit Platz zu machen, wird irgendwann das Jüngste Gericht einberufen, nicht nur um seine Urteile zu fällen, sondern auch um die irdische Zeit in all ihrer Vergänglichkeit abzuschaffen. Und wer weiß, ob es bis dahin einen zweiten Franziskus gegeben haben wird? Sicherlich lässt gerade dieses Ewigkeitsmodell für eine erkleckliche Anzahl von Menschen die katholische Kirche, trotz aller Kritik, immer noch attraktiv erscheinen, weil sie sich einen verschwenderisch-entspannten Umgang mit der Zeit leisten kann, die den meisten Menschen – verstrickt in die Rundum-Ökonomisierung ihres Lebensalltags – abhandengekommen ist. Deswegen kann für die Papstkirche Franziskus eben nicht der erste sein, dem sicherlich ein zweiter nachfolgen wird, sondern muss der bisher einzige sein – der möglicherweise auch der letzte bleiben wird.


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01. Nietzsche und die historische Gretchenfrage

Aus nicht ganz aktuellem Anlass ein paar Worte zu einem alten Freund und Kupferstecher: Nietzsche ist ein notorisch aufregender Diskussionspartner, schließlich gibt es im Dialog mit seinen Büchern kaum Wohltemperiertheit. Die mittlere Stimmung ist nicht seine Stärke, die heftige Polemik, die thesenhafte Zuspitzung, die Verschmähung von Gegnern, das opulent formulierte eigene Anliegen hingegen schon. So ertappt man sich bei der Lektüre immer wieder zwischen jubelnder Zustimmung und grunzender Ablehnung.

Da mich das Historische in seiner allgemeinen wie auch besonderen Präsenz in unser aller Alltag interessiert, soll es hier um Nietzsches famose zweite unzeitgemäße Betrachtung gehen. Dieser Text hat unübersehbaren Einfluss ausgeübt auf die Behandlung der geschichtstheoretischen Gretchenfrage, wie wir es nämlich mit der Bedeutung der Geschichte in unserem Leben halten wollen. Bei Nietzsches Lebensbegriff mag das verzweifelte Stöhnen der Leserschaft bereits anheben. Denn sein Verständnis von „Leben“ ist emphatisch aufgeladen und kommt – Arm in Arm untergehakt – mit der „Gesundheit eines Volkes“ und der Bedeutung der „Tat“ daher, die allesamt in mehr als einer Hinsicht Schwierigkeiten machen können.

Wollen Sie die letzten zwanzig Jahre noch einmal leben?

Seien wir jedoch für einen Moment großzügig und lassen die eine oder andere Unstimmigkeit beiseite. Ich befleißige mich eher als geschichtstheoretischer Parasit und befrage Nietzsches „Unzeitgemäße“ (welche Anmaßung schon hier: bestimmen zu wollen, was „die Zeit“ ausmacht, um sich von ihr mit einem hochnäsigen Avantgardismus abzusondern) daraufhin, was sie uns heute noch zu sagen hat. Weniger erkenntnisfördernd finde ich dabei die ansonsten häufig behandelte Unterscheidung von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Geschichtsschreibung. Es ist vielmehr eine andere, eher unscheinbare, weil theoretisch auf den ersten Blick nicht sonderlich interessante Frage, die meines Erachtens Aufmerksamkeit verdient. Was nämlich, so fragt Nietzsche, wenn man seine Bekannten (oder auch die gänzlich Unbekannten) fragen würde, ob sie die letzten zehn bis zwanzig Jahre noch einmal durchleben wollten (S. 255)? An dieser Form historischer Problematisierung – wie hältst du es mit der Bedeutung der Vergangenheit für deine Gegenwart? – könnten sich unterschiedliche Formen der Geschichtskultur festmachen lassen, ließen sich diverse historische Typen identifizieren (von denen Nietzsche schon einige benennt) und damit auch gänzlich unterschiedliche Arten und Weisen bestimmen, Geschichte zu haben und zu machen. Aus diesen diversen Formen der Geschichte ergäben sich wiederum Möglichkeiten der geschichtstheoretischen Reflexion.

Man kann den „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ also in der vermeintlich banalen Beobachtung sehen, dass wir in einer Kultur leben, die sich ohne große Gegenrede seit Langem darauf verständigt hat, „der Geschichte“ eine zentrale Rolle zuzuweisen. Wir leben mithin in einer soziokulturellen Wirklichkeit, die sich der Beobachtung der eigenen Historisierung verschrieben hat, die also ihrer eigenen Geschichte konstitutiven Wert beimisst, gegenwärtige Geschehnisse beständig auf ihren historischen Wert hin taxiert, permanent mit der Produktion von „eigener“ Geschichte beschäftigt ist und nicht zuletzt deswegen sämtliche Phänomene mit einem Datum versieht. Das ist in (historisch und global) vergleichender Perspektive keineswegs notwendig. Man könnte auch sehr gut ohne ein solches Verständnis von „Geschichte“ leben. Europa und dem Westen kann das aber kaum noch gelingen. Warum nicht? Welche Vor- und Nachteile hat eine solche Form der permanenten Historisierung?

Sie verführt zumindest dazu, „Geschichte“ als einen neutralen, alles umhüllenden Container zu begreifen, der die objektive Chronologie vorgibt, in den sich menschliche Tätigkeiten, gesellschaftliche Begebenheiten und kulturelles Geschehen einsortieren lassen. „Geschichte“ wird damit zum säkularen Religionsersatz. Was jedoch außer Acht bleibt, ist die Historizität der Historie – mit fatalen Folgen. [1]

Die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anpassen

Nietzsche warnt beispielsweise vor einer naiven, ja ich würde sagen: arroganten Art und Weise des Umgangs mit dem Historischen, die nicht erst zu seinen Zeiten ein Problem darstellte, sondern seither nichts an Aktualität eingebüßt hat. Es ist eine Position, die untrennbar mit einer diffusen Fortschrittsgläubigkeit verbunden ist und sich unbesehen selbst an die Spitze der historischen Entwicklung setzt, um majestätischen Blicks auf die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit herabzublicken. „Jene naiven Historiker nennen ‚Objectivität‘ das Messen vergangener Meinungen und Thaten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemässen Trivialität anzupassen.“ (S. 289)

Das schließt für Nietzsche eine weitere Position im Umgang mit der Vergangenheit aus, nämlich die richtende. Wenn man sich schon nicht anmaßen kann, die Klimax historischer Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen – Nietzsches Lieblingshaudrauf ist hier natürlich Hegel –, wie sollte man sich dann ein Urteil über frühere Zustände erlauben? „Als Richter müsstet ihr höher stehen als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid. Die Gäste, die zuletzt zur Tafel kommen, sollen mit recht die letzten Plätze erhalten: und ihr wollt die ersten haben?“ (S. 293)

Aber halt: Würde ein solcher Verzicht denn nicht bedeuten, sich der Beurteilung offensichtlichen Unrechts zu entheben? Man muss dabei nicht erst auf den Holocaust verweisen, denn das Problem würde sich auch in zahlreichen anderen Fällen stellen. Hier ginge es aber wohl darum, die Ebenen auseinander zu halten, denn ein Geschehen historisch einzuordnen und für eine Gegenwart anschlussfähig zu machen, ist etwas anderes, als daraus die moralischen Konsequenzen zu ziehen. Beide Schritte bleiben zwar aufeinander bezogen, betreffen aber tatsächlich grundlegend andere Zeitebenen. Einmal wird in der Gegenwart über die Vergangenheit gesprochen, das andere Mal werden aus der Vergangenheit Konsequenzen für die Gegenwart gezogen. Ob die Vergangenheit diese Konsequenzen auch schon hätte ziehen können, wäre wiederum eine historische Frage.

Kein Baum vor lauter Wald

Welche Fragen könnte man also im Anschluss an Nietzsche stellen? Welche anderen Umgangsformen mit dem Geschichtlichen kann man identifizieren? Wo ließe sich das Historische in unserem Alltag und unserem „Leben“ ausfindig machen? Die Schwierigkeit ist wahrscheinlich eher, den Baum im Waldesdickicht erkennbar zu machen. Denn, wie nicht großartig bewiesen werden muss, das Historische ist überall – nur möglicherweise nicht immer ganz offensichtlich. Und es ist nicht immer leicht zu sagen, in welcher Form es sich in unterschiedlichen Zusammenhängen bemerkbar macht.

Beispiele für Historisierungen, für den Gebrauch und Missbrauch von Geschichte gibt es nun wahrlich zuhauf. Wir werden geradezu überflutet mit der beständigen Rede von angeblich historischen Ereignissen, die sich im Minutentakt ereignen, von einem alles erinnernden Memorialkult, vom Geschichtsfernsehen, von Zeitschriften und Büchern historischen Inhalts, von Mittelaltermessen – und von unserem eigenen permanenten Verfilmen und Verfotografieren unseren banalen Alltags, wodurch wir längst zu unseren eigenen Ego-Historikern und Ego-Archivaren geworden sind. Man kann zuweilen Nietzsches Verzweiflung angesichts einer allgegenwärtigen Überhistorisierung verstehen. „By the time you look at something it’s already history“, sang Bruce Cockburn einst. Auch wenn er damit eher die Flüchtigkeit von Werten beklagte, kann man diesen Satz auch als Anklage gegen eine übermäßige Vergeschichtlichung verstehen.

Wie weitermachen? Wie soll man sich in einer solchen Situation noch ernsthaft mit Geschichte beschäftigen können? Nietzsche weiß Rat: mit der unumgänglichen Anwendung der Historie auf sich selbst. Eine Selbstoperation ohne Narkose, gewissermaßen. Es geht also nicht um eine disziplinäre Selbstversicherung, nicht um eine Geschichte der Geschichtsschreibung, sondern um eine geschichtstheoretische Selbstverunsicherung. Der „Ursprung [der historischen Bildung] muss selbst wieder historisch erkannt werden, die Historie muss das Problem der Historie selbst auflösen, das Wissen muss seinen Stachel gegen sich selbst kehren […].“ (S. 306) Daher: Sucht „die Geschichte“ und spießt sie auf, wo immer ihr sie trefft. Zuweilen beschleicht mich der Eindruck, wir hätten mit dieser Arbeit kaum begonnen.

[1] Elizabeth Deeds Ermarth, History in the discursive condition. Reconsidering the tools of thought, London/New York 2011, 98.

[Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Sämtliche Werke. Krirtische Studienausgabe, Bd. 1, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 9. Aufl. München 2012, 243-334]


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Quelle: https://achimlandwehr.wordpress.com/2013/03/30/nietzsche-und-die-historische-gretchenfrage/

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