Bürger – Adlige – Iwein: zum literarischen Horizont der Freiburger Familie Malterer im Spannungsfeld von Rittertum, Minne und höfischer Kultur

Gastbeitrag von Dr. Marcus Schröter

Eine Bürgerfamilie und ein Held – historische Befunde zu der Familie Malterer

Seit seiner Wiederentdeckung vor über hundert Jahren regt der berühmte Malterer-Teppich aus dem Besitz spätmittelalterlicher weiblicher Klostergemeinschaften Freiburgs immer wieder neue Diskussionen an und man darf konstatieren, dass keineswegs alle Fragen gelöst sind – im Gegenteil. Ein Grund dafür, dass sich dieses kostbare textile Kunstwerk immer wieder konsequent einer schlüssigen Gesamtinterpretation entzieht, liegt sicherlich auch in der Vielstimmigkeit des für seine Deutung zwingend notwendigen, interdisziplinären Diskurses von Historikern, Kunsthistorikern, Theologen und Germanisten.1

Mittelalter am Oberrhein“, das neue Blog der Freiburger Landesgeschichte, wählt den um 1320 datierten Malterer-Teppich als geeignetes Symbol für die Gegenstände ihrer Forschung, die „enge Verknüpfung von bürgerlicher und adliger Welt zu den Klöstern.“2Johannes Waldschütz skizzierte aus diesem Anlass aus historischer Perspektive die Geschichte der Freiburger Familie Malterer: Johannes Malterer (um 1312-1360) gelang durch den Erwerb großen Reichtums der Aufstieg seiner aus einfachen Verhältnissen stammenden Familie in die städtische Oberschicht seiner Heimatstadt. Um diesen neuen Status nicht nur dauerhaft zu festigen, sondern darüber hinaus eine weitere Standeserhöhung zu ermöglichen, arrangierte der bürgerliche homo novus geschickt die in den 1350er Jahren geschlossenen Eheverbindungen seiner drei Töchter Elisabeth, Gisela und Margarethe mit dem regionalen Adel.3 Das Interessante dabei ist, dass Johannes Malterer sein Vermögen gezielt investierte und pfandweise Burgen erwarb, die er seinen Töchtern mit in die Ehe geben konnte, ein im Spätmittelalter durchaus verbreitetes Phänomen.4 Und solche Burgen waren – darauf kam es offenbar an – weithin sichtbare Symbole der höfischen Kultur des hohen Mittelalters, die auch für bürgerliche Vorstellungswelten von Minne und Rittertum im Spätmittelalter ihre Attraktivität keineswegs verloren hatten.5

Diese Vorstellungswelten scheinen für den einzigen Sohn des Johannes, Martin Malterer (um 1335/36-1386), geradezu identitätsstiftend gewesen zu sein: Wie seine Schwestern erhielt er von seinem Vater mit der Herrschaft Kastelburg 1354 eine Burg, die er später gemäß seinem adligen Lebensstil als österreichischer Landvogt im Elsass und im Breisgau individuell ausbaute. Im Jahr 1367 zuerst als Ritter belegt, spielte Martin Malterer später eine maßgebliche Rolle in der Rittergesellschaft zum Löwen. Seine Heirat mit der Grafentochter Anna von Tierstein 1373 verband ihn direkt mit dem Adelsstand. Da Martin Malterer ohne Söhne 1386 in der Schlacht von Sempach fiel, erlosch die männliche Linie der Familie jäh.6 Um den gemeinsamen Tod Martin Malterers mit seinem Herzog Leopold III. von Habsburg rankte sich seitdem der Heldenmythos, dem die Stadt Freiburg noch 1899 an der Schwabentorbrücke ein Denkmal setzte.

Stürzende Helden und ein Held im Triumph – literaturwissenschaftliche Perspektiven auf den Malterer-Teppich

Konnten historische Forschungsbeiträge zur Geschichte der Familie Malterer plausible Argumente dafür herausarbeiten, dass es Johannes strategisch und unter Einsatz erheblicher finanzieller Ressourcen nicht nur gelang, innerhalb der sozialen Ordnung der Stadt an die Spitze des Bürgertums aufzusteigen, sondern darüber hinaus die Stadt einzutauschen gegen Lebensentwürfe des regionalen Adels, so möchte ich – über Waldschütz‘ summarische Beschreibung des Malterer-Teppichs als „Zeugnis für deren Repräsentationsbemühungen“ hinaus – fragen, welche inhaltlichen und ikonographischen Signale diesen sozialen und kulturellen Anspruch der Malterer konkret symbolisieren.

© Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

© Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser 

 

Germanistische und kunsthistorische Forschungsbeiträge7 haben gezeigt, dass in der um 1320 im Auftrag der Familie Malterer8 verfertigten Textilie konventionelle und unkonventionelle Bildkonzepte vieldeutig und rätselhaft aufeinander treffen. Sind die in den acht Medaillons vorgeführten Paare Samson und Dalila, Aristoteles und Phyllis sowie Vergil und die Tochter des Augustus auch in anderen bildlichen Darstellungen von Minne- oder Frauensklaven durchaus verbreitet, so trifft dies auf Iwein und Laudine keineswegs zu.9 Und genau hierin liegt die Einzigartigkeit des ikonographischen Arrangements. Der Hauptunterschied zwischen den ersten drei und dem vierten Bilderpaar besteht darin, dass in den ersten drei die jeweils erste Szene den männlichen Protagonisten in einer Situation des Triumphes zeigt, in der zweiten hingegen in einer Situation der Demütigung.

Samson und Dalila, Aristoteles und Phyllis sowie Vergil und die Tochter des Augustus, © Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Samson und Dalila, Aristoteles und Phyllis sowie Vergil und die Tochter des Augustus, © Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Im Falle der Iwein-Szenen ist dieser Sturz des Helden keineswegs so klar, hängt doch die Gesamtinterpretation davon ab, wie man die (vieldeutige) Ringszene deutet. Meiner Einsicht überzeugt Volker Schupps These10, dass man mit philologischem Blick nicht zwanghaft versuchen sollte, das Bild einer der drei Ringszenen im Text Hartmanns von Aue zuzuweisen: weder der Übergabe des unsichtbar machenden Rings an Iwein durch Lunete (Verse 1135-1211)11, bei der Laudine nicht anwesend ist, noch der Übergabe des Treuerings durch Laudine, bei der Lunete nicht anwesend ist (Verse 2940-2955), noch der Rückforderung des Treuerings durch Lunete, bei der Laudine nicht anwesend ist (Verse 3192-2199). Von letzterer Ringszene müsste man ausgehen, wollte man im zweiten Bild den Sturz des Helden sehen – denn Iwein verliert durch den Verlust des Treuerings im Wahnsinn seine Identität, die er erst im zweiten Aventiurezyklus wieder schrittweise zurück gewinnt.

Iwein-Szenen des Maltererteppichs, © Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Iwein-Szenen des Maltererteppichs, © Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Löst man sich dagegen von einer strikt textbezogenen Lesart der Ringszene und abstrahiert zugleich von der Textstruktur des „ganzen ‚Iwein‘“, wie es übrigens auch in den Wandmalereien auf Schloss Rodeneck mit Fokussierung auf den ersten Handlungszyklus der Fall ist, bietet sich nach Schupp die Szene der von Lunete angebahnten Versöhnung zwischen Iwein und Laudine an (Verse 2248-2360), die im Entschluss zur Hochzeit mündet – und diese Hochzeit werde durch den Ring symbolisiert. Ikonographische Parallelen sieht Schupp in der Darstellung des Hochzeitsbanketts von Marke und Isolde im Tristanteppich III aus Wienhausen sowie in Illustrationen des ‚Sachsenspiegels‘. Christoph Mackert12 schließt sich Schupps Deutung ebenfalls an und hält eine Funktion des Malterer-Teppichs im Kontext einer Hochzeit durchaus für möglich, wenn das Bildprogramm auf diese Weise nicht mehr nur auf eine Warnung vor irdischer Liebe reduziert werde und das verbreitete Weiberlisten-Motiv eine bewusst positive Wendung erhalte: Lunetes List, selbst wenn sie von Autoren wie Wolfram von Eschenbach durchaus verurteilt wurde,13 führt nach dieser Interpretation gerade nicht zum Ehrverlust des männlichen Helden, sondern zu seinem Ehrgewinn durch den Gewinn irdischer Liebe und die Hochzeit mit Laudine. Ich halte diesen Ansatz für überzeugend – nicht zuletzt mit Blick auf die historisch belegbare offensive Heiratspolitik der Familie Malterer.

Entscheidender Prüfstein für eine solche Interpretation bleibt schließlich die Frage, wie sich das neunte Medaillon mit der Jungfrau mit dem Einhorn in die Gesamtdeutung des Malterer-Teppichs fügt: Ist dieses auf sämtliche Doppelszenen zu beziehen, nur auf die ersten drei oder nur auf die letzte? Formuliert es gleichsam als Fazit der Exempel-Geschichten die Warnung vor der irdischen Liebe und den Aufruf zur geistlichen Liebe? Die geistliche Interpretation der Jungfrau-Einhorn-Szene kann dabei in unterschiedliche Richtungen gehen: Im zwölften Buch der ‚Etymologiae‘ Isidors von Sevilla wird das Einhorn als ferox und fortis charakterisiert, das nicht von Jägern überwunden werden könne, wohl aber von einer Jungfrau, in deren Schoß es sein Horn freiwillig hineinlege. Ebenso überliefert es auch der ‚Physiologus‘ und legt eine Deutung der Menschwerdung Christi durch die Jungfrau Maria nahe. Eine weitere geistliche Interpretation geht dahin, dass das Einhorn mit seinem Horn das von der Schlange vergiftete Wasser reinigt und somit als Christus verstanden wird, der die Welt von den Sünden befreit.14

Einhornszene des Malterteppichs, © Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Einhornszene des Malterteppichs.

Oder aber wird im Einhornmedaillon eine eigene Episode erzählt – allerdings in nur einer einzigen Szene? Dann dürfte – wie auch in den anderen Medaillons – die Jungfrau im Zentrum stehen. Aber wie genau wäre dann das Einhorn zu deuten? Ebenfalls als Symbol weiblicher List, die aber hier allein in der Reinheit und Keuschheit der Jungfrau begründet liegt? Oder als Symbol für die ferocitas oder fortitudo im Sinne Isidors, allerdings übertragen auf die – durch eine Frau gebrochene – männliche Stärke, die die vorangegangenen Doppelszenen vorführen?15 In dieser Lesart würde sich das letzte Medaillon unmittelbar in die vorangegangenen einreihen und die Themen „Stärke der Männer“ und „List der Frauen“ um eine interpretatio christiana erweitern. Ob hiermit zugleich eine geistliche Gesamtdeutung des Malterer-Teppichs intendiert wird, scheint mir aber keineswegs eindeutig – die Iwein-Medaillons öffnen hierfür eine zu weltlich-positive Interpretation von Minne und Rittertum. Möglicherweise ist diese ikonographische Ambivalenz, die durch das Einhorn-Medaillon provoziert wird, auch konstitutiv für die Gesamtkonzeption des Kunstwerks, in das eine Offenheit und Multiperspektivität von vorne herein eingeschrieben sein sollte.

Inwiefern aber passt ein solch bemerkenswertes Konzept zu dem eingangs resümierten spezifischen Hintergrund der Malterer als Stifter? Ich meine: sehr gut. Der durch ihren Reichtum mögliche soziale Aufstieg der Familie an die Spitze des Freiburger Bürgertums einerseits, ihr Herausdrängen aus der Stadt durch Heiratsverbindungen mit dem regionalen Adel unter Verwendung tradierter aristokratischer Symbole und Funktionen wie Burgen und als Mitglied der Ritterschaft andererseits – all dies zeigt ihre enge Vertrautheit mit und Orientierung an der Vorstellungswelt höfischer Kultur.

Zentrale Ideale dieser höfischen Kultur sind Rittertum und Minne, die ihre außerordentliche Wirkmacht bis in die Neuzeit hinein insbesondere in der volkssprachigen Literatur reich entfalteten. Der alemannische Südwesten und seine benachbarten Regionen waren Zentren dieser literarischen Avantgarde, sodass durchaus vorstellbar ist, dass die Familie Malterer mit höfischer Epik und Lyrik vertraut war. Und vielleicht sogar noch mehr: Sie mochten den weithin berühmten ‚Iwein‘ Hartmanns von Aue genau gekannt und gezielt eingesetzt haben, als sie den Auftrag für die kostbare Textilie gaben. Und vor diesem literarischen Horizont der Malterer fand Hartmanns ‚Iwein‘ eine individuelle „Gebrauchssituation“,16 die für den Artusstoff bis dahin singulär war und die uns bis heute Rätsel aufgibt.

Wenn Bigott in seiner Untersuchung der Handlungsspielräume der Damen Malterer mit Blick auf die Szenen des Malterer-Teppichs „nicht ohne ein gewisses Schmunzeln“ fragt, „wie weit die realen Maltererdamen ihre Männer dominierten“,17 stellt er meines Erachtens eine sehr wichtige Frage, verlässt aber seine historische Perspektive nicht, weil er die Ikonographie des Kunstwerks zu wenig in seine Interpretation mit einbezieht. Greift man seine Interpretation der massiven Heiratspolitik des Johannes Malterer für seine drei Töchter auf und versucht den Malterer-Teppich – als Hochzeitsteppich – in diesen konkreten Kontext zu stellen, müsste die bisherige Datierung später als um das Jahr 1320 angesetzt werden, da diejenigen Damen Malterer, an denen nach Bigott die kluge Verwirklichung der gesellschaftlichen und politischen Zielsetzungen besonders deutlich fassbar sind, zur Generation der Töchter und Enkelinnen Johann Malters gehörten. Wenn Elisabeth, Margarethe und Gisela in den 1350er Jahren heirateten und es sich bei der neben Johannes als Stifterin genannten Anna um die archivalisch nachweisbare, 1354 verstorbene Ordensangehörige handelt, so wäre aus kunsthistorischer Sicht zu prüfen, ob der Malterer-Teppich dreißig Jahre später datiert werden könnte.

Nach meiner Auffassung ist schließlich der ikonographische Befund grundsätzlicher zu betrachten: Der Malterer-Teppich könnte einen konkreten Einblick in den literarischen Horizont seiner Auftraggeber geben und die virtuose Kreativität zeigen, mit der sie diesen in ihrer Selbstinszenierung als Identifikations- und Legitimationsmuster nutzten. In dieser Interpretation hätte die Familie durch die bewusst kalkulierte Wahl der ‚Iwein‘-Szenen für den Teppich diesem ihren eigenen kulturellen und literarischen Horizont, der dominiert ist von hochhöfischen Vorstellungen von Minne und Rittertum, in die traditionelle Szenenauswahl der „Weiberlisten“ aus dem Alten Testament, der griechischen und der römischen Antike öffentlich sichtbar eingeschrieben. Möglicherweise – hier möchte ich die historische Argumentation Bigotts unter germanistischer Perspektive weiterführen18 – ist gerade der ‚Iwein‘, in dem nicht nur die Dienerin Lunete als listige Frau klug kalkulierend die vorteilhafte Eheverbindung Laudines und Iweins arrangiert, sondern auch die mächtige Herrscherin Laudine für die von der Familie Malterer verfolgte Heiratspolitik besonders attraktiv gewesen. In seiner neuen Gebrauchssituation kann der ‚Iwein‘ seine besondere Sprengkraft entfalten. Ob die Familie Malterer selbst das gesamte ikonographische Konzept entwarf oder ob ihr ein erfahrener Concepteur zur Seite stand, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.

In der „modernen“ (spät-)mittelalterlichen höfischen Welt, zu der sich die Malterer selbstbewusst zählen, kann Frauenlist auch zu glücklicher Liebe führen, wie nicht nur an Iweins Schicksal, sondern auch an den Heiratsverbindungen der Töchter des Johannes mit dem südwestdeutschen Adel deutlich wurde. Die geistliche Liebe, wofür die Szene mit dem Einhorn stehen kann, bleibt davon möglicherweise ganz unberührt: Vielleicht sollten hier gerade nicht unterschiedliche Konzepte der Liebe gegeneinander ausgespielt, sondern einfach nur nebeneinander gestellt werden. Sollte es sich bei Anna Malterer um die Ordensdame handeln, so würde jede der beiden Stifterpersönlichkeiten ihre eigene Deutung des Themas Liebe in das Bildprogramm eingebracht haben: Johannes die weltliche Sicht aus der Perspektive seines literarischen Horizontes, der durch die höfisch-aristokratische Welt des Hochmittelalters geprägt war, Anna dagegen die geistliche Sicht der Ordensfrau. Wenn auch die Einhornszene der Gesamtkomposition eine bestimmte Gewichtung verleiht, so muss dadurch doch keine abschließende Bewertung der Liebe vorgenommen sein. Beide Konzepte von Rittertum und Minne, das geistliche und das weltliche, wurden von der Stifterfamilie Malterer gelebt. Insofern muss der Teppich auch nicht zwingend auf den möglichen Anlass einer Hochzeit, wofür es in der Familie Malterer in den 1350er Jahren mehrere gegeben hat, bezogen werden, sondern kann ebenso gut für sich stehen.

Literatur und Leben – vom Umgang mit literarischen Mustern

Mit einem solchen identifikatorischen Umgang mit Literatur standen die Freiburger Malterer aber keineswegs allein: Ein besonders prominentes Beispiel ist die Bozener Familie Vintler19, die ebenfalls im 14. Jahrhundert eindrucksvoll zeigte, wie präzise höfische Literatur instrumentalisiert werden konnte, um gesellschaftlichen Aufstieg repräsentativ zu inszenieren und sie in neuen Gebrauchssituationen visuell zum Sprechen zu bringen. Dem städtischen Patriziat entstammend und zu Reichtum gekommen, erwarben Niklaus und Franz Vintler 1385 Burg Runkelstein und ließen sie durch aufwändige Wandmalereien nach höfischer Literatur, darunter ‚Wigalois‘, ‚Garel von dem blühenden Tal‘ oder ‚Tristan‘, ausmalen. Auch ‚Iwein‘ gehört zu den Identifikationsmustern der Bozener homines novi, denn er ist mit Parzival und Gawein als einer der drei besten Artusritter an die Außenwand des sogenannten Sommerhauses gemalt, so dass man ihn vom Burghof aus weithin sehen konnte.20 Die Vintler waren ferner Sammler und Auftraggeber von Handschriften und traten mit Hans Vintler sogar mit eigener literarischer Produktion an die Öffentlichkeit. 1393 erreichten die Vintler exakt das, was auch die Malterer erstrebten: die Verleihung des Adelsprädikates. Burg Runkelstein gelangte später in den Besitz Kaiser Maximilians I., des „letzten Ritters“, in dessen gedechtnus–Konzept Strategien der Malterer und Vintler eine noch ganz neue Komplexität erreichten.

Runkelstein_Castle_31

Abbildung von Gawein und Iwein auf Burg Runkelstein (Parzival links abgeschnitten),

 

Mit diesen Bemerkungen sollte der historische Beitrag zum Maltererteppich von Waldschütz durch eine germanistische Perspektive auf die kostbare Textilie und auf ein konkretes paralleles Beispiel, die Bozener Familie Vintler, ergänzt werden: Diese erlangten nicht nur als Burgbesitzer, sondern gleichermaßen als Mäzene von Literatur Ruhm – in der Diskussion um die vielen ungelösten Fragen des Malterer-Teppichs ist dieser Aspekt m. E. so noch nicht diskutiert worden.

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Marcus Schröter ist Fachreferent an der Universitätsbibliothek Freiburg für Geschichte, Alte Geschichte, Musik, Klassische Archäologie, Ur- und Frühgeschichte, Provinzialrömische Archäologie sowie Klassische Philologie, hat zum Wiener ‘Eneas-Roman’ (Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Vind. 2861) Heinrichs von Veldeke in Text und Bild promoviert (als eBook publiziert auf dem Freiburger Hochschulschriftenserver Freidok).

  1. Die historische Literatur zum Thema siehe bei Waldschütz, Johannes: Das Blog und der Malterer-Teppich. In: Mittelalter am Oberrhein [Weblog], 30. Januar 2014: http://oberrhein.hypotheses.org/125
  2. Waldschütz, s. o., Anm. 1.
  3. Bigott, Boris: Die Damen Malterer. Zur Einheirat Freiburger Patriziertöchter in den Breisgauer Adel im 14. und 15. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins “Schau-ins-Land” 126 (2007), S. 19-37, hier: S. 23-30. – Ders.: Städisches Patriziat als Machtfaktor auf dem Burgenmarkt am Beispiel des Breisgaus. In: Burgen im Breisgau: Aspekte von Burg und Herrschaft im überregionalen Vergleich. Hrsg. von Erik Beck, Eva-Maria Butz, Martin Strotz, Alfons Zettler und Thomas Zotz. Ostfildern: Thorbecke, 2012, S. 241-254.
  4. Vgl. Bigott: Städtisches Patriziat, s. o., Anm. 3, S. 241.
  5. Vgl. Zeune, Joachim: Burgen – Symbole der Macht. Ein neues Bild der mittelalterlichen Burg. Regensburg: Pustet, 1996.
  6. Vgl. Bigott: Städtisches Patriziat, s. o., Anm. 3, S. 255.
  7. Schupp, Volker: Der Maltererteppich im Freiburger Augustinermuseum – eine Führung. In: Badische Heimat 3 (2008), S. 336-347. – Ders.: Nachträge zu den Iwein-Bildern des Maltererteppichs. In: Badische Heimat 4 (2009), S. 709-710. – Ders.: „Skriptoralisches“ zum Maltererteppich. In: Vielfalt des Deutschen. FS Werner Besch. Frankfurt: Lang, 1993, S. 149-158. – Wegner, Wolfgang: Die ‚Iwein’-Darstellungen des Maltererteppichs in Freiburg i. Br.: Überlegungen zu ihrer Deutung. In: Mediävistik 5 (1992), S. 187-196. – Bock, Sebastian; Lothar A. Böhler (Hrsg.): Bestandskataloge der weltlichen Ortsstiftungen der Stadt Freiburg i. Br. Bd. 5: Die Textilien. Rostock: Hinstorff, 2001, Nr. 17, S. 87-94. Maurer, Friedrich: Der Topos von den „Minnesklaven“. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen Bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter. In: Ders.: Dichtung und Sprache des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze. Bern, München: Francke, 1963, S. 182-206. – Becherer, Wolfram: Johann Malterer – ein Millionär des Mittelalter. In: Der neunzehnte Riegeler Almanach 2009, S. 19-23. – Schweitzer, Hermann: Die Bilderteppiche und Stickereien in der städtischen Altertümersammlung in Freiburg i. Br. In: Schauinsland 431 (1904), S. 50. – Eißengarthen, Jutta: Mittelalterliche Textilien aus Kloster Adelhausen im Augustinermuseum Freiburg, Freiburg, 1985.
  8. Hinsichtlich der beiden Namen „Johannes“ und „Anna“, die die neun Bildmedaillons umschließen, herrscht lediglich für Johannes eindeutige Klarheit. Da beiden Namen das Familienwappen der Malterer beigefügt ist, hält Waldschütz die Vermutung für unwahrscheinlich, dass es sich bei Anna um die Frau des Johannes handeln könnte, da in diesem Fall das Wappen ihrer eigenen Familie verwendet worden wäre. Ich danke Herrn Waldschütz für seine mündliche Auskunft. Seit Heinrich Maurer: Ein Freiburger Millionär des 14. Jahrhunderts und seine Nachkommen, in: Schau-ins-Land. Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland 34 (1907), S. 3-20, wird das Verwandtschaftsverhältnis Schwester-Bruder angenommen.
  9. Schupp, s. o., Anm. 7, S. 341.
  10. Ebd., S. 342 ff.
  11. http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/12Jh/Hartmann/har_iwe0.html
  12. Schupp (2009), s. o. Anm. 7.
  13. Wolfram von Eschenbach, Parzival, Verse 436, 4-10.
  14. Vizkelety, A.: Artikel „Einhorn“. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Band 1, Sp. 590-593; hier: Sp. 590.
  15. In diesem Sinne argumentiert Konrad Benedikt Vollmann in einer schriftlichen Mitteilung an Volker Schupp. Ich danke Herrn Schupp, der mir dieses gewichtige Argument mitgeteilt hat.
  16. Die Begrifflichkeit wurde von Norbert H. Ott in die literaturwissenschaftliche Diskussion eingeführt. Ott, Norbert H.: Epische Stoffe in mittelalterlichen Bildzeugnissen. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens und Ulrich Müller. Stuttgart: Kröner, 1984, S. 449-474. – Ders. und Walliczek, Wolfgang: Bildprogramm und Textstruktur. Anmerkungen zu den ‚Iwein’-Zyklen auf Rodeneck und in Schmalkalden. In: Cormeau, Christoph (Hrsg.): Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Stuttgart: Metzler, 1979, S. 473-500.
  17. Bigott: Die Damen Malterer, s. o. Anm. 3, S. 19.
  18. Bemerkenswerterweise hat Bigott den Inhalt der Szenen lediglich ganz allgemein auf „dominante Frauen“ reduziert, ohne die tatsächliche literarische Sprengkraft des ’Iwein‘ zu bemerken.Bemerkenswerterweise hat Bigott den Inhalt der Szenen lediglich ganz allgemein auf „dominante Frauen“ reduziert, ohne die tatsächliche literarische Sprengkraft des ’Iwein‘ zu bemerken.
  19. Norbert H. Ott: Höfische Literatur in Text und Bild: der literarische Horizont der Vintler. In: Schloss Runkelstein. Die Bilderburg. Bozen: Athesia, 2000, S. 311-330.
  20. http://www.runkelstein.info/images_big/triade_4x_en.html.

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/462

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Kloster und Wissen. Einige Thesen zur Diagrammatik der Philosophia mundi.

 

Zu Beginn des Jahres wurde eine deutlich erweiterte Fassung meiner Masterarbeit veröffentlicht, die mittlerweile auch online über den Freiburger Dokumentenserver zugänglich ist.1 In dieser Arbeit habe ich mich mit der so genannten Arnsteinbibel, London BL Harley 2798 und Harley 2799 beschäftigt.

“Das […] Buch behandelt die monastische Wissenskultur des hohen Mittelalters und basiert auf einer mit dem Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences (2013) ausgezeichneten Qualifikationsschrift des Autors. Anhand wissenschaftlicher Diagramme der so genannten Arnsteinbibel (British Library Harley 2799) werden die lebensweltlichen Bedingungen von Wissen im Prämonstratenserstift Arnstein a.d. Lahn im frühen 13. Jahrhundert untersucht. Dabei eröffnet sich dem modernen Betrachter ein ungewohnter, genuin mittelalterlicher Zugang zu naturwissenschaftlichem Wissen, das in Arnstein eine spirituelle und liturgische Dimension erhielt.“2

Harley 2799, fol. 166r (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

In dieser Arbeit vertrete ich unter anderem die These, dass der Diagrammzyklus in Harley 2799 größtenteils auf der Philosophia mundi Wilhelm von Conches basiert.

Harley 2799, fol, 242r. (This image identified by the The British Library, is free of known copyright restrictions)

Ich interpretiere die drei Diagramme auf folio 242r der Bibel als diagrammatische Synthese einer komplexen Stelle im zweiten Buch der Philosophia, in der die Beziehung zwischen dem Kosmos (vor allem dem jeweiligen Stand der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten) und dem menschlichen Körper beschrieben wird. Diese inhaltliche Interdependenz zwischen den astronomischen und medizinischen Phänomenen entspricht einer didaktischen Interdependenz zwischen den drei Diagrammen.3

Diese These scheint mir inhaltlich überzeugend, sie war in zweierlei Hinsicht aber nicht unproblematisch: Zum einen bezeugt der überlieferte mittelalterliche Katalog der Abtei4 keinen Eintrag, der sich eindeutig auf das Werk des nordfranzösischen Magisters beziehen ließe; und zum anderen konnte ich bislang keine entsprechenden Diagramme in der Überlieferung des zweiten Buches der Philosophia mundi ausfindig machen.

Erst nach Fertigstellung des Manuskripts der Arbeit konnten mit freundlicher Hilfe von Prof. Dr. Paul Dutton mittlerweile drei Handschriften gefunden werden, die zur Illustration der Textstelle auf eine ähnliche diagrammatische Formensprache wie die Arnsteinbibel zurückgreifen: Paris BNF Lat. 6560, Paris BNF Lat. 11130 sowie Zürich Car. C. 137 (299 Mohlberg).

Die beiden Pariser Handschriften sind mittlerweile (leider ebenfalls erst nach Abschluss des Manuskripts) online konsultierbar, bislang allerdings völlig unzureichend und fehlerhaft beschrieben.

Alle drei Handschriften stammen vermutlich aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die genaue Herkunft ist bislang nicht bekannt. Sie stellen neben der Arnsteinbibel die einzigen bekannten Zeugnisse dieser diagrammatischen Tradition dar. Während Lat. 11130 und Car. C. 137 die Zusammenhänge im Text ähnlich der Arnsteinbibel mit mehreren (zwei) Diagrammen illustrieren, sind die entsprechenden Elemente in Lat. 6560 in einem Diagramm zusammengefasst.

Paris BNF lat. 11130, fol. 47v und 48r.
Paris BNF lat. 6560, fol. 53r.

Diese neue Überlieferungslage stärkt die im Buch vertretene These, die Abtei habe tatsächlich eine Abschrift der Philosophia mundi besessen, die als Vorlage des Diagrammzyklus zu sehen ist.5

In seinem Standardwerk Album of Science hat sich John Murdoch 1984 wie folgt zur Erforschung der diagrammatischen Produktion geäußert:

„Our knowledge of how manuscript illustrations were produced is infinitely more complete in the case of the well known artistic miniatures of illuminated medieval manuscripts than in that of the scientific illustration or diagram.”6

Ich möchte an dieser Stelle vorsichtig die Vermutung äußern, dass die nunmehr vier Zeugen der Diagrammtradition einen seltenen Blick hinter die Kulissen dieser Produktion ermöglichen und hierzu einige knappe Thesen skizzieren:

Die vier Zeugen lassen sich im Hinblick auf ihre Komplexität sortieren: Das eine Ende der Tradition bildet die Arnsteinbibel, die den Zusammenhang zwischen Kosmos und Körper mit drei Diagrammen darstellt. Lat. 6560 steht am anderen Ende, da es den gleichen Sachverhalt in einem einzigen Diagramm vereint (auch wenn auf der Folgeseite das Verhältnis der Elemente erneut dargestellt wird). Lat. 11130 und Car. C. 137 nehmen mit zwei Diagrammen eine Mittelstellung ein.

Es ist dabei verlockend, über diese unterschiedliche Komplexität auf verschiedene Phasen der Entwicklung dieser Diagramme zu schließen. Da der Arnsteinbibel wichtige gestalterische Elemente fehlen, die den anderen Handschriften gemein sind (hier sind vor allem die versetzte Anordnung der Sternzeichen sowie die doppelwandigen Halbkreise mit den Himmelsrichtungen und den Jahreszeiten zu nennen), scheint es wahrscheinlich, dass die Bibel einer früheren Entwicklungsstufe der Tradition entspricht. Lat. 6550 wäre in dieser Lesart der Endpunkt dieser Entwicklung.

In diesem Fall böte sich hier ein aufschlussreicher Einblick in die Entstehung dieser diagrammatischen Traditionen:

Eine ursprünglich diagrammfreie Fassung des zweiten Buches der Philosophia wurde vermutlich zur Klärung des komplizierten Textes mit Illustrationen versehen, die die wesentlichen Elemente der Textstelle verdeutlichen. Der Urheber dieser Abbildungen bediente sich dabei des klassischen bekannten Formenrepertoirs und war bemüht, die sehr unterschiedlichen thematischen Felder des Textes zu isolieren, gleichzeitig aber auch ihre Beziehung deutlich zu machen. Diese graphische Umsetzung besticht durch ihre Einfachheit, hat aber auch eine entscheidende Schwäche: Man muss erst erkennen, dass die drei Diagramme aufeinander zu beziehen sind, damit die Abbildungen ihren Sinn entfalten können.

Diesem Umstand trägt die zweite Entstehungsstufe in Lat. 11130 und Car. C. 137 Rechnung. Hier wird D2, also der Lauf der Sonne durch die Jahreszeiten, in die graphisch reduzierte Abbildung des Kosmos integriert und dem Schema der Elemente gegenüberstellt. So wird ein besseres Verständnis gewährleistet; die Diagramme verlieren dadurch aber auch an Bildlichkeit und werden abstrakter.

Lat. 6560 könnte nun den letzten Schritt in dieser Entwicklung darstellen. Die Elemente wurden auf ein stark abstrahierendes Diagramm reduziert. Die ursprünglichen klassischen Formen sind in einem neuen Diagramm aufgegangen.

Diese Beobachtungen – sollten sie sich erhärten lassen – legen den Schluss nahe, dass hochmittelalterliche  Diagramme nicht einfach aus dem Nichts geschaffen werden konnten, sondern zunächst aus dem überlieferten Formenspektrum schöpfen mussten. Damit bestätigt sich die Vermutung von Ramírez-Weaver:

“The creator of a diagram, even a new one […] was restricted by standard techniques of visualization […] medieval preferences for the formal arrangements
of charted information (like rotae), and a relatively straightforward adherence to well-known ›facts‹ […].”7

Einmal etabliert werden diese Diagramme dann zunehmend abstrahiert und in ein einzelnes Diagramm integriert.

Diese Überlegungen sind sicherlich noch sehr vorläufig und bedürfen eingehender Prüfung. Rätselhaft ist zum Beispiel das plötzliche Verschwinden dieser diagrammatischen Tradition mit Lat. 6560 ab dem 13. Jahrhundert. Die drei Handschriften der Philosophia, Car. C. 137, Lat. 11130 und Lat. 6560, scheinen auf jeden Fall in einer Beziehung zueinander und zur Arnsteinbibel zu stehen, die näher zu untersuchen sich sicherlich lohnen würde.8

  1. Schonhardt, Michael: Kloster und Wissen – Die Arnsteinbibel und ihr Kontext im frühen 13. Jahrhundert. (Reihe Septem, 2) Freiburg 2014.
  2. Kurzbeschreibung auf Freidok.
  3. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 58-61.
  4. Ediert in Gottlieb, Theodor: Über mittelalterliche Bibliotheken. Leipzig 1890, S. 293-298.
  5. Vgl. Schonhardt: Kloster und Wissen, S. 98-100.
  6. Murdoch, John: Album of Science, Antiquity and the Middle Ages. New York 1984, S. 15.
  7. Ramírez-Weaver, Eric: Creative Cosmologies in Late Gothic Bohemia: Illuminated Diagrams and Memory Tools for the Court of Wenceslas IV, in: Manuscripta Bd. 54 (2010), S. 21–48, hier S. 31.
  8. Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht sicherlich von der geplanten Edition der Philosophia durch Paul Edward Dutton im CCCM zu erwarten.

 

 

Quelle: http://quadrivium.hypotheses.org/228

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Chronicon Bürglense – Einleitung, Übersetzung und Kommentar (Kapitel 1)

Nachdem es im Blog aus verschiedenen Gründen eine Weile still war, soll nun eine neue Reihe gestartet werden. Geplant ist es, in den nächsten Monaten kapitelweise das sogenannte Chronicon Bürglense, Gründungsbericht und Traditionsbuch des sanktblasianischen Priorats Bürgeln mit lateinischem Text und deutscher Übersetzung im Blog zu veröffentlichen. Damit adaptieren wir eine Idee des Mittelalterblogs, wo seit einigen Monaten eine Übersetzung der Historia Occidentalis des Jakob von Vitry veröffentlicht wird.

Im Folgenden soll kurz die Relevanz der Quelle für die Forschung sowie deren Inhalt, Entstehungskontext und Überlieferung vorgestellt werden. Daran an schließen der lateinische Text und eine deutsche Übersetzung des ersten Kapitels, sowie ein kurzer Kommentar zum ersten Kapitel.

I. Relevanz der Quelle für die Forschung

Zwar hat das Chronicon Bürglense einen deutlich lokaleren Bezug als die Historia Occidentalis des Jakob von Vitry, es handelt sich aber keineswegs um eine nur für die landesgeschichtliche Forschung interessante Quelle. Es ist vielmehr ein gutes Beispiel dafür, dass die anlässlich der Ausschreibung eines Editionsstipendiums von den MGH unlängst postulierte Trennung in landesgeschichtliche Quellen einerseits und für die Mittelalterliche Geschichte im Allgemeinen relevante Quellen andererseits, kaum möglich ist.1 Das Chronicon bietet nämlich sowohl Informationen für die landesgeschichtliche Erforschung des Klosters St. Blasiens, von dessen Prioraten sowie der Adelsgeschichte des Breisgaus, ist aber auch als Beispiel klösterlicher Gründungsgeschichten oder Historiae fundationum monasteriorum – so der von Jörg Kastner gewählte Sammelbegriff2 – relevant. Es bietet Ansatzpunkte für Fragen nach Entstehungsgrund und Funktion dieser Quellen3, aber auch zu Fragen adligen Selbstverständnisses, klösterlichen Reformbewegungen oder der Qualität von Besitzübertragungen.

II. Inhalt

Ähnlich wie die wesentlich prominenteren Zwiefalter Chroniken (1, 2) beschreibt das Chronicon Bürglense die Gründung eines, wenn auch deutlich kleineren Klosters, durch eine Adelsfamilie. Im Falle des zwischen Basel und Freiburg, unweit von Schliengen gelegenen Bürgelns,4 war dies die nach Ausweis des Chronicons die im Breisgau, Burgund und Rhätien begüterte Familie der Herren von Kaltenbach. Anders als die Gründer von Zwiefalten, die Grafen Liutold von Achalm und Kuno von Wülflingen, traten Werner von Kaltenbach und seine Frau Ita aber bereits anlässlich der initialen Schenkung in das Kloster St. Blasien ein, ein Schritt, den  – teilweise vor, teilweise nach den Eltern – auch zwei Söhne und zwei Töchter vollzogen.5. Damit traten alle Mitglieder der Familie ins Kloster St. Blasien und dessen Priorate ein,6, hier Kapitel 2, S. 367)), ein in seiner Totalität durchaus ungewöhnlicher Fall.7

Neben dem beinahe hagiographisch anmutendem Lob der Gründerfamilie und deren Klostereintritt, schildert das Chronicon auch die weitere Entwicklung Bürgelns und damit verbundene Rechtsstreitigkeiten. Besonderen Raum nimmt dann das Wirken der von Werner dem Jüngere und Wipert von Kaltenbach, den Söhnen des ursprünglichen Schenkers, für Bürgeln ein. Während beide zeitweise als Pröpste von Bürgeln tätig waren8, hebt das Chronicon insbesondere Wipert von Kaltenbach hervor, der im 17. und letzten Kapitel des Chronicons – einer Auflistung von Traditionsnotizen – mehrfach als Ankäufer von Gütern und Vermittler von Schenkungen dargestellt wird.9. Das Chronicon Bürglense beinhaltet damit auch Elemente eines Traditionsbuchs, wenngleich mir diese weniger im Vordergrund zu stehen scheinen, als dies Jörg Kastner in seiner vergleichenden Studie postuliert und in der “Darstellung der Besitzgeschichte” Bürgelns, das “eigentliche[n] Vorhaben” des Chronicons gesehen hat10.

III. Entstehungskontext und Überlieferung

Das Chronicon selbst ist wohl zwischen 1160 und 1180 im Kloster St. Blasien entstanden, ein späteres sankblasianisches Repertorium schreibt es einem Mönch Konrad des 12. Jahrhunderts zu, der möglicherweise noch Zeitgenosse Wiperts von Kaltenbach war.11.

Das Chronicon Bürglense liegt bislang nicht in einer modernen Edition, sondern lediglich in einem Druck des 18. Jahrhunderts vor, den der Sanktblasianer Mönch Rusten Heer besorgte.12. Dieser stützte sich dabei zwar hauptsächlich auf eine Abschrift des Chronicons, die 1494 der Notar Ulrich Buck anfertigte und zudem ins Deutsche übersetzte,13) konnte aber auch noch auf das heute verlorene Autograph zurückgreifen, nach Angabe Bucks ein ungefähr handbreiter und sieben Ellen langer Rodel, der heute wohl verloren ist.14 Heer notierte gelegentlich Variationen aus dem Autograph hielt sich aber sonst an die Abschrift Bucks, der nach Heer auch die zusammenfassenden Kapiteltitel verfasste.15.

Notarszeichen und Schriftproben

Notarzeichen des Notars Ulrich Buck und Schriftproben aus dem heute verlorenen Autograph sowie der Handschrift GLA Karlsruhe 65/139, gedruckt Chronicon Bürglense, S. 384

 

IV. Lateinischer Text und Deutsche Übersetzung

Kapitel 1: Qualiter Monasterium in monte Bürglen inchoatum sit, et cuius mons ipse antea fuit?

Omne, quod praedicatur aut scribitur, si veritatis ratione caret, vacuum et inane non ambigitur. Unde ad depellendas caliginosas tetrae oblivionis tenebras, et ad verae cognitionis luces serenandas, stili narratione duximus dignum, ad utilitatem posterorum, qualiter Dei servitium in monte Bürglon monasteriali more sit initiatium. Praedictus namque mons cum omni sua pertinentia in Dominium parentelae, quae dicitur de Caltinbach, attinet hereditario iure a progenitorum prosapia, et illorum potestati deditus fuit et subditus curae. Nam pridem vetus ibidem constructa habebatur ecclesia, ac unius Clerici informabatur instantia: Nunc vero Domini optitulante gratia monachorum (uti in praesenti cernere est) solerti instituitur vigilantia.

Kap. 1: Wie das Kloster am Berg Bürgeln begonnen sein soll und wem der Berg zuvor gehörte?16

Man zweifelt nicht an, dass alles, was verkündet oder geschrieben wird – sofern es am Grundsatz der Wahrheit mangelt – leer und unnütz ist. Deshalb, um die dunkle Finsternis des schändlichen Vergessens zu vertreiben und um das Licht der wahrhaften Erkenntnis zu erhellen, hielten wir es für angemessen zum Nutzen der Nachwelt zu erzählen, wie am Berg Bürgeln der Dienst an Gott nach klösterlicher Gewohnheit seinen Anfang nahm. Der besagte Berg gehört – erbrechtlich von einer Vorfahrensippe herrührend – nämlich, mit allem seinem Zubehör zur Herrschaft einer Verwandtengruppe, die von Kaltenbach genannt wird; er war ihrer Herrschaft gegeben und ihrer Obhut unterworfen. Dort soll vor langer Zeit eine alte Kirche erbaut und ihr durch die Emsigkeit eines einzelnen Klerikers Gestalt gegeben worden sein. Nun aber ist sie dank der Hilfe und der Gnade des Herrn mit der klugen Fürsorge der Mönche versehen worden (wie es derzeit zu sehen ist).

V. Kommentar

Jörg Kastner hat dieses erste Kapitel als “einleitende Arenga” beschrieben, in der “in gewohnter Weise die Entstehungsursache des Werkes” angezeigt werde.17. Dabei wird einerseits auf den Nutzen des Werks für die Nachwelt (ad utilitatem posterorum) verwiesen, andererseits ein allgemeiner Impetus für Geschichtsschreibung bemüht, nämlich, dass Geschehenes nicht in Vergessenheit geraten dürfe (ad depellendas caliginosas tetrae ovlivionis tenebras).

Ist die Rechtfertigung des Schreibens also eher topisch gehalten und kann als “weiteres Beispiel für die im Hirsauisch-St. Blasianischen Bereich wirksamen Formtendenzen” beschrieben werden,18, so scheinen mir die allgemeine Qualität des Lateins, insbesondere aber die Bemühungen um eine ausgeprägte Metaphorik, sowie gewisse Parallelitäten in der Satzkonstruktion (ac unius Clerici informabatur instantia […] monachorum solerti instituitur vigilantia) auf eine hohe sprachliche Bildung des Autors und dessen literarischen Anspruch hinzuweisen. Auch wenn der Autor ähnliche Werke möglicherweise gekannt hat, habe ich aber keine größeren Übernahmen aus anderen Werken feststellen können.

Mangels eigener Kompetenz in der Beurteilung sprachlicher Fragen wird sich die Kommentierung künftiger Kapitel eher auf den historischen Kontext konzentrieren, für Anregungen, Kommentare und Hinweise zur sprachlichen Qualität des Chronicon Bürglense sowie hinsichtlich von möglichen wörtlichen Übernahmen aus anderen Quellen bin ich aber sehr dankbar.

Empfohlene Zitierweise: Chronicon Bürglense, Kapitel 1, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Johannes Waldschütz, in: Mittelalter am Oberrhein, 13. Juni 2014,  http://oberrhein.hypotheses.org/?p=425 (ISSN: 2199-210X).

  1. Vgl. dazu auch die Diskussion bei Archivalia
  2. Vgl. Jörg Kastner: Historiae fundationum monasteriorum. Frühformen monastischer Institutionengeschichtsschreibung im Mittelalter (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 18), München 1978
  3. Vgl. die bisherige Forschungsdiskussion zusammenfassend: Stephan Molitor: Das Traditionsbuch. Zur Forschungsgeschichte einer Quellengattung und zu einem Beispiel aus Südwestdeutschland, in: Archiv für Diplomatik 36 (1990), S. 61–92, der dazu tendiert auch Chartularchroniken als Traditionsbücher einzuordnen und deren rechtliche und sakrale Funktion gegenüber deren historiographischer und administrativer Funktion höher bewertet. Den historiographischen Aspekt betonen Kastner, Historiae und Hans Patze: Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), S. 8–81 und 101 (1965), S. 67–128. Dabei hebt Patze eher die Bedeutung der Chronistik für den Adel hervor, während Kastner diese als “Frühformen monastischer Institutionengeschichtsschreibung” deutet
  4. Nicht wie Kastner, Historiae S. 45 fälschlicherweise meint Bürglen in der Schweiz
  5. Vgl. zur Chronologie der Eintritte Adolf Schmidt-Clever: Die Gründung der Probstei Bürgeln. Mit einem Nachwort von Friedrich Pfaff, in: Alemannia 40 (1912), S. 47-80, hier S. 76f., online einsehbar mit US-Proxy; hinsichtlich der historischen Fragen wenig hilfreich aber den Inhalt paraphrasierend: Robert Gerwig:
  6. Ein im Chronicon genannter dritter Sohn tritt ist sonst nicht historisch greifbar und könnte früh verstorben sein, vgl. Conradi de S. Blasio Chronicon Bürglense, hg. von Rusten Heer, in: Ders.: Anonymus Murensis denudatus et ad locum suum restitutus seu acta fundationis principalis Monast. Murensis denuo examinata, et auctori suo adscripta…, Freiburg i. Br. 1755, Appendix II, S. 365-84, Digitalisat bei der Bayerischen Staatsbibliothek
  7. Vgl. als Parallelbeispiel den Fall der Grafen von Cappenberg, die ihre Burg in ein Stift umwandelten, Norbert Bewerunge: Der Ordenseintritt des Grafen Gottfried von Cappenberg, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 33, 1981, S. 63-81
  8. Vgl. dazu Urkundenbuch des Klosters Sankt Blasien im Schwarzwald. Von den Anfängen bis zum Jahr 1299, bearb. von Johann Wilhelm Braun (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A: Quellen 23), 2 Bde. und CD, Stuttgart 2003, Vorbemerkung zu Nr. 131
  9. Chronicon Bürglense, S. 381-383, UB St. Blasien, Nr. 131
  10. Vgl. dazu Kastner, Historiae, S. 45f. mit der Beurteilung des Werks als “Vorstufe einer Cartularchronik“
  11. Conradi Monachi Saeculo XII, vgl. ausführlich Adolf Schmidt-Clever, Gründung, S. 47
  12. Conradi de S. Blasio Chronicon Bürglense, hg. von Rusten Heer, in: Ders.: Anonymus Murensis denudatus et ad locum suum restitutus seu acta fundationis principalis Monast. Murensis denuo examinata, et auctori suo adscripta…, Freiburg i. Br. 1755, Appendix II, S. 365-84, Digitalisat bei der Bayerischen Staatsbibliothek
  13. Heute GLA Karlsruhe 65/139, vgl. zu dieser Handschrift den Eintrag im Katalog: Die Handschriften der Staatsarchive in Baden-Württemberg, Bd. 2: Die Handschriften 65/1-1200 im Generallandesarchiv Karlsruhe beschrieben von Michael Klein, Wiesbaden 1978, hier S. 61 (online einsehbar bei Google Books); ebenfalls zu dieser und weiteren davon abhängigen Handschriften, UB St. Blasien, Nr. 130 (Vorbemerkung
  14. Vgl. Chronicon Bürglense, S. 383
  15. Chronicon Bürglense, S. 365.
  16. Für Hilfe bei der Übersetzung bin ich Dr. Tobie Walther, Mark Wittlinger M. A. und Albert Stoer zu großem Dank verpflichtet
  17. Kastner, Historiae, S. 45
  18. Kastner, Historiae, S. 45

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/425

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Marcus Schinnagel, ein Astrologe in der Zeit Maximilians I., Schöpfer des astronomisch-astrologischen Kompendiums aus Petershausen

Es war ein großes Glück, dass bei dem Verkauf der Sammlungen der Markgrafen und Großherzöge von Baden 1995 das Land Baden-Württemberg sich das 1489 datierte astronomisch-astrologische Kompendium des Marcus Schinnagel (GND) sichern konnte.1 Das eindrucksvolle, nahezu einzigartige Stück war als Säkularisationsgut aus dem Kloster Petershausen bei Konstanz in das Eigentum der ehemaligen Herrscherfamilie gelangt.

Der Astronomie-Historiker Richard L. Kremer vom Dartmouth-College hat das außergewöhnliche Polyptikon 2012 gewürdigt und auch die spärliche Forschung zur Person seines Schöpfers zusammengefasst.2 Ich konnte jetzt zu Schinnagel neue Lebenszeugnisse auffinden: zu seinen Pfarrstellen in Landsberg am Lech (nur diese war bisher bekannt) und in Sulzberg (Allgäu) und einen Brief an Herzog René II. von Lothringen.

Francis B. Brévart beginnt seinen Artikel über Schinnagel im Verfasserlexikon 19923 mit einer Fehlinformation. Denn das Geburtsdatum 1464, errechnet aus der Handschrift 10534 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien4 ist hinfällig, wenn der 1519/20 datierte Codex mit Krakauer Vorlesungen 1483/86 (so Ernst Zinner) gar nichts mit Schinnagel zu tun hat. Kremer führt eine Arbeit von Monika Maruska über Johannes Schöner 2008 an, die keine Spur einer Schinnagel-Provenienz entdeckt habe, ein Ergebnis, das er durch Autopsie der Handschrift bestätigen konnte.5 Die Angabe des Verfasserlexikons, Schinnagel sei bald nach 1520 gestorben, stützt sich auf Zinners Zuweisung von Einträgen von 1519/20 in der Wiener Handschrift an Schinnagel und muss daher ebenfalls wegfallen.

Wahrscheinlich darf man Schinnagel, der aus der oberungarischen Handelsmetropole Kaschau stammte (nicht aus dem böhmischen Koschow, wie das Verfasserlexikon will), mit einem 1466 in Krakau immatrikulierten Marcus Nicolai de Cassowia identifizieren, der 1469 Baccalaureus wurde und 1469/70 mehrfach in Krakauer Universitätsunterlagen belegt ist.6 Er hatte 1470 ein Buch De uita Antichristi et xv signis entliehen, was gut zu dem späteren Astrologen passen würde. Nach dem Immatrikulationsdatum dürfte er um 1450 geboren worden sein.

Heidrun Franz, deren 2012 abgeschlossene Erlanger kunsthistorische Dissertation “Das Polyptychon des Marcus Schinnagel. Ein astronomisch-astrologisches Kompendium aus der Zeit des Renaissance-Humanismus” mir nicht zugänglich war, wird von Kremer mit der Hypothese zitiert, Marcus sei der Sohn des 1430 in Wien immatrikulierten Nicolaus Schynagel de Waidlinga gewesen. Dieser habe sich von Waiblingen bei Stuttgart nach Wien begeben und von da nach Kaschau, wo andere Personen des Namens lebten. Schon die Gleichsetzung von Waidlinga mit Waiblingen ist abwegig. Näher liegt es, Schinnagel mit dem in der Mitte des 15. Jahrhundert belegten Ratsherrn Tadeus Schynnagel in Kaschau und seiner Familie7 in Verbindung zu bringen.

Schinnagel veröffentlichte von etwa 1486 bis etwa 1499 astrologische Druckschriften, sogenannte Almanache und Prognostiken mit Vorhersagen. Das Material ist jetzt bequem in der Datenbank des GW überblickbar. Dort sind auch Digitalisate nachgewiesen.8 Alle drei bekannten Almanache erschienen in Augsburg, die zehn Prognostiken in Ulm (vier Ausgaben), Straßburg und Basel (je zwei) sowie in Leipzig und Wien. Die ältesten erhaltenen Drucke sind ein in Augsburg gedruckter Almanach auf das Jahr 1487 (vermutlich schon 1486 ausgeliefert) und ein in Straßburg gedrucktes Prognostikon auf das gleiche Jahr, in dem er bereits den in Krakau erworbenen Magistertitel trägt: magistri Marci Schinnagel Cracouien.  Beide sind auf Latein verfasst, später schrieb er auch auf Deutsch. Die gereimte Praktik auf 1491, gedruckt von Johann Zainer dem Älteren in Ulm, enthält folgende Autorensignatur:9

Für war den spruch hat gemacht
Gepracticiert vnd auß grund erdacht
Maister marx schinagel ist er genant
Jn schwaben wol erkant
Ain astronomum thu°t er sich nennen
Ain astrologiam gar wol erkennen
Ain arismetricus auch dabey
Mit seinen kunsten ist er frey.

Das in Basel gedruckte Prognostikon auf das Jahr 1491 ist sowohl lateinisch als auch deutsch König Maximilian gewidmet. Die lateinische Vorhersage für 1493 dedizierte Magister Marcus Schinagel de Choschouia Alme Vniuersitatis Cracouiensis astrologus König Albert von Polen. Herzog Albrecht IV. von Bayern erhielt den jüngsten Druck auf das Jahr 1500 gewidmet und zwar sowohl die Basler als auch die Ulmer Ausgabe.

Da die Überlieferungschance für solches Gebrauchsschriftgut eher gering ist, ist davon auszugehen, dass es noch mehr als die jetzt bekannten Drucke gegeben hat.

Noch kaum untersucht wurde die handschriftliche Überlieferung. Kremer nennt in seiner Anmerkung 6 die Handschriften in London, Wolfenbüttel und Krakau, übergeht also die von Zinner nachgewiesene Handschrift W 321 des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Böhm-Katalog Nr. 639). Weder von Kremer noch im Verfasserlexikon wurde bemerkt, dass Gerhard Benecke 1982 die in der Handschrift Bl. 252r-260r enthaltene deutschsprachige Praktik Schinnagels für 1491, gewidmet Erzherzog Sigismund, komplett in englischer Übersetzung veröffentlicht hatte.10 Benecke schreibt auch die folgende Praktik auf 1492 Bl. 266r-269v Schinnagel zu. Angehängt ist eine Bitte an Erzherzog Sigismund, er möge doch dem Absender für seine Primiz (erste Messe) am 2. Februar (wohl 1492) hundert Gulden übermitteln, damit er sie würdig begehen und seine in Rom gemachten Schulden bezahlen könne. Da der Absender wohl Schinnagel ist, was natürlich zu überprüfen wäre, darf man schließen, dass er ab 1492 Priester war und zuvor Rom besucht hatte.

Nicht näher datiert ist der Wolfenbütteler Cod. Guelf. 21.1 Aug. 4° , den der alte Katalog von Heinemann als mögliches Schinnagel-Autograph anspricht. Schinnagel nennt sich in zwei Texten, darunter ein Horoskop für den bereits genannten Herzog Albrecht von Bayern († 1508).

Um 1500 legte Schinnagel ein astrologisches Handbuch an, das über einen Augsburger Besitzer des 16. Jahrhunderts letztendlich in die British Library gelangte (Add. 34603).11 Einmal nennt er sich darin per me magistrum Marcum Schynagel alme vniuersitatis Crakouiensis tunc temporis plebanus ( sic ) in landtsperg anno 1500. Er war damals also Pfarrer in Landsberg am Lech (das Verfasserlexikon hat: Landberg).

Ob Schninnagel auch für Biblioteka Jagiellońska Krakau Cod. 8, eine lateinische astronomisch-astrologische Handschrift mit einer Prognostik für 1501 für Kardinal Fryderyk12, verantwortlich ist, wird man vorerst bezweifeln dürfen, denn die Auflösung M[arcus] N[icolai] C[assoviensis] b[accalarius] C[racoviensis] A[strologus] ist doch recht kühn, bedenkt man, dass sich Schinnagel sonst immer Magister (manchmal auch Doctor) nannte und seinen aus der Matrikeleintragung 1466 abgeleiteten Familiennamen Nicolai sonst nie führte. Es wurden auch schon andere Auflösungen der Buchstabenfolge vorgeschlagen.13

Bis auf die nicht völlig sicher auf Schinnagel zu beziehenden Krakauer Belege standen bisher ausschließlich Nennungen in seinen gedruckten Schriften und seinen Handschriften (einschließlich des Petershausener Kompendiums von 1489) zur Rekonstruktion seines Lebenswegs zur Verfügung. Sein seelsorgerisches Wirken in Landsberg am Lech und Sulzberg im Allgäu beleuchten zwei Regesten der Regesta Imperii und Einträge im Generalschematismus der Diözese Augsburg.

Am 19. April 1494 nahm König Maximilian in Kempten “den Marcus Schinagel, Pfarrer in Sulzberg, einen berühmten Astronomen (astronomicae scientiae peritia celebrem) als seinen Kaplan auf” (RI XIV,1 n. 574). Am 16. Januar 1498 forderte Maximilian in Innsbruck Bischof “Friedrich von Augsburg auf, den Marx Schinagel, KMs Kaplan, zu furderlichen rechten gegen Balthasar von Schellenberg zu verhelfen, der den Schinagel wider alle Billigkeit beschwere, indem er einige Leute in Schinagels Pfarrhof zu Sultzberg legte, als dieser einen Teil seiner Habe nach Landsberg führen ließ, dessen Pfarre ihm Hg Albrecht von Bayern, KMs Schwager und Rat, vor einiger Zeit verliehen hat” (RI XIV,2 n. 5737). Die Widmung mindestens eines Drucks und die astrologischen Ausarbeitungen für den Bayernherzog haben Schinnagel also wohl die Landsberger Stadtpfarrei eingebracht. Offenbar war er wenigstens zeitweilig gleichzeitig in Sulzberg (etwa zehn Kilometer südlich von Kempten) und in Landsberg bepfründet.

Aufgrund von im Zweiten Weltkrieg vernichteten Akten wurde der Augsburger Generalschematismus erstellt, aus dem das Archiv des Bistums Augsburg freundlicherweise Auskunft erteilte: Gemäß “Moritz Widenmann, Generalschematismus der Diözese Augsburg, Bd. II, S. 447, war ein Markus Schin(n)agel ab 1504 Pfarrer in der Stadtpfarrei Landsberg, leider finden sich keine weiterführenden Hinweise zu ihm. Ab 1507 wird ein Johann Seubelin von Kaufbeuren als Pfarrer gelistet. In der Pfarrei Sulzberg wird von 1493 bis 1533 ein Markus Schmagl als Pfarrer angegeben, weitere Hinweise gibt es leider auch zu ihm nicht, auch er erscheint vor 1493 bzw. nach 1533 nicht mehr im Schematismus (S. 412)”14.

Bald nach der oben für 1492 angesetzten Priesterweihe hat sich Schinnagel nach Sulzberg begeben, wo er 1493 im Schematismus erscheint. Vor 1498 wurde er auch Stadtpfarrer in Landsberg, wo er noch 1504 bezeugt ist. Wenig später scheint er diese Stelle aufgegeben zu haben. Angesichts des angenommenen Geburtsdatums um 1450 möchte ich bei dem Sulzberger Beleg 1533 vorerst ein dickes Fragezeichen machen (Schmagl ist sicher als Schinagl zu lesen). Schinnagel ist also nicht vor 1504 gestorben, vielleicht sogar nicht vor 1533.

Nur weil ich auch auf die Idee kam, nach Marcus Schünagel zu suchen, wurde ich auf einen entlegenen Pariser Beleg aufmerksam. 1496 korrespondierte der Pfarrer von Sulzberg mit Herzog René von Lothringen über astrologisch-politische Konstellationen. Da die schlechte Qualität des Pariser Digitalisats15 nicht zur Lektüre des eigenhändigen Briefs einlädt, überlasse ich die Auswertung dieser Quelle gern der weiteren Forschung.

 

Foto von Dr. Bernd Gross (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

  1. “Für Baden gerettet” (1995), S. 126f. Nr. 83 mit Abbildungen.
  2. Richard L. Kremer: Marcus Schinnagel’s winged polyptych of 1489 : astronomical computation in a liturgical format. In: Journal for the history of astronomy. Bd. 43 (2012), Nr. 3, S. 321-345.
  3. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2. Auflage 8 (1992), Sp. 680f. Google.
  4. http://manuscripta.at/?ID=6998 mit Link zum Katalog HANNA. Brévart im Verfasserlexikon  folgt ganz Ernst Zinner: Verzeichnis der astronomischen Handschriften des deutschen Kulturgebietes (1925), S. 494 und nennt die falsche Signatur Cod. 10584.
  5. Kremer Anm. 1.
  6. Iulia Capros: Students from Košice at foreign Universities before and during the reformation period in the town. Dissertation Budapest 2010, S. 238-240 Nr. 111 online mit Wiedergabe der Quellenstellen.
  7. Siehe etwa http://donauschwaben-usa.org/kosice.htm.
  8. Weitere Abbildung: erste Seite der Wiener Prognostik auf 1493 bei Seethaler 1982 S. 795 PDF.
  9. Nach der Abbildung bei Frederick R. Goff: Some undescribed ephemera of the 15th century in the Library of Congress. In: Beiträge zur Inkunabelkunde, 3. Reihe, I (1965), S. 100–102, Abb. 20 Commons. Der Anfang (ebd. Abb. 19): Commons.
  10. Gerhard Benecke: Maximilian I. (1982), S. 164-174.
  11. Katalog.
  12. Vgl. auch Natalia Nowakowska: Church, State and Dynasty in Renaissance Poland [...] (2007), S. 92 Google.
  13. Grażyna Rosińska: Scientific writings and astronomical tables in Cracow (1984), S. 241 online.
  14. Anfragen beim Stadtarchiv Landsberg am Lech, bei der Pfarrei Mariä Himmelfahrt in Landsberg und bei dem Sulzberger Heimatforscher Otto Pritschet blieben leider ohne Ergebnis.
  15. Gedreht: Commons.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1615

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Marcus Schinnagel, ein Astrologe in der Zeit Maximilians I., Schöpfer des astronomisch-astrologischen Kompendiums aus Petershausen

Es war ein großes Glück, dass bei dem Verkauf der Sammlungen der Markgrafen und Großherzöge von Baden 1995 das Land Baden-Württemberg sich das 1489 datierte astronomisch-astrologische Kompendium des Marcus Schinnagel (GND) sichern konnte.1 Das eindrucksvolle, nahezu einzigartige Stück war als Säkularisationsgut aus dem Kloster Petershausen bei Konstanz in das Eigentum der ehemaligen Herrscherfamilie gelangt.

Der Astronomie-Historiker Richard L. Kremer vom Dartmouth-College hat das außergewöhnliche Polyptikon 2012 gewürdigt und auch die spärliche Forschung zur Person seines Schöpfers zusammengefasst.2 Ich konnte jetzt zu Schinnagel neue Lebenszeugnisse auffinden: zu seinen Pfarrstellen in Landsberg am Lech (nur diese war bisher bekannt) und in Sulzberg (Allgäu) und einen Brief an Herzog René II. von Lothringen.

Francis B. Brévart beginnt seinen Artikel über Schinnagel im Verfasserlexikon 19923 mit einer Fehlinformation. Denn das Geburtsdatum 1464, errechnet aus der Handschrift 10534 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien4 ist hinfällig, wenn der 1519/20 datierte Codex mit Krakauer Vorlesungen 1483/86 (so Ernst Zinner) gar nichts mit Schinnagel zu tun hat. Kremer führt eine Arbeit von Monika Maruska über Johannes Schöner 2008 an, die keine Spur einer Schinnagel-Provenienz entdeckt habe, ein Ergebnis, das er durch Autopsie der Handschrift bestätigen konnte.5 Die Angabe des Verfasserlexikons, Schinnagel sei bald nach 1520 gestorben, stützt sich auf Zinners Zuweisung von Einträgen von 1519/20 in der Wiener Handschrift an Schinnagel und muss daher ebenfalls wegfallen.

Wahrscheinlich darf man Schinnagel, der aus der oberungarischen Handelsmetropole Kaschau stammte (nicht aus dem böhmischen Koschow, wie das Verfasserlexikon will), mit einem 1466 in Krakau immatrikulierten Marcus Nicolai de Cassowia identifizieren, der 1469 Baccalaureus wurde und 1469/70 mehrfach in Krakauer Universitätsunterlagen belegt ist.6 Er hatte 1470 ein Buch De uita Antichristi et xv signis entliehen, was gut zu dem späteren Astrologen passen würde. Nach dem Immatrikulationsdatum dürfte er um 1450 geboren worden sein.

Heidrun Franz, deren 2012 abgeschlossene Erlanger kunsthistorische Dissertation “Das Polyptychon des Marcus Schinnagel. Ein astronomisch-astrologisches Kompendium aus der Zeit des Renaissance-Humanismus” mir nicht zugänglich war, wird von Kremer mit der Hypothese zitiert, Marcus sei der Sohn des 1430 in Wien immatrikulierten Nicolaus Schynagel de Waidlinga gewesen. Dieser habe sich von Waiblingen bei Stuttgart nach Wien begeben und von da nach Kaschau, wo andere Personen des Namens lebten. Schon die Gleichsetzung von Waidlinga mit Waiblingen ist abwegig. Näher liegt es, Schinnagel mit dem in der Mitte des 15. Jahrhundert belegten Ratsherrn Tadeus Schynnagel in Kaschau und seiner Familie7 in Verbindung zu bringen.

Schinnagel veröffentlichte von etwa 1486 bis etwa 1499 astrologische Druckschriften, sogenannte Almanache und Prognostiken mit Vorhersagen. Das Material ist jetzt bequem in der Datenbank des GW überblickbar. Dort sind auch Digitalisate nachgewiesen.8 Alle drei bekannten Almanache erschienen in Augsburg, die zehn Prognostiken in Ulm (vier Ausgaben), Straßburg und Basel (je zwei) sowie in Leipzig und Wien. Die ältesten erhaltenen Drucke sind ein in Augsburg gedruckter Almanach auf das Jahr 1487 (vermutlich schon 1486 ausgeliefert) und ein in Straßburg gedrucktes Prognostikon auf das gleiche Jahr, in dem er bereits den in Krakau erworbenen Magistertitel trägt: magistri Marci Schinnagel Cracouien.  Beide sind auf Latein verfasst, später schrieb er auch auf Deutsch. Die gereimte Praktik auf 1491, gedruckt von Johann Zainer dem Älteren in Ulm, enthält folgende Autorensignatur:9

Für war den spruch hat gemacht
Gepracticiert vnd auß grund erdacht
Maister marx schinagel ist er genant
Jn schwaben wol erkant
Ain astronomum thu°t er sich nennen
Ain astrologiam gar wol erkennen
Ain arismetricus auch dabey
Mit seinen kunsten ist er frey.

Das in Basel gedruckte Prognostikon auf das Jahr 1491 ist sowohl lateinisch als auch deutsch König Maximilian gewidmet. Die lateinische Vorhersage für 1493 dedizierte Magister Marcus Schinagel de Choschouia Alme Vniuersitatis Cracouiensis astrologus König Albert von Polen. Herzog Albrecht IV. von Bayern erhielt den jüngsten Druck auf das Jahr 1500 gewidmet und zwar sowohl die Basler als auch die Ulmer Ausgabe.

Da die Überlieferungschance für solches Gebrauchsschriftgut eher gering ist, ist davon auszugehen, dass es noch mehr als die jetzt bekannten Drucke gegeben hat.

Noch kaum untersucht wurde die handschriftliche Überlieferung. Kremer nennt in seiner Anmerkung 6 die Handschriften in London, Wolfenbüttel und Krakau, übergeht also die von Zinner nachgewiesene Handschrift W 321 des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Böhm-Katalog Nr. 639). Weder von Kremer noch im Verfasserlexikon wurde bemerkt, dass Gerhard Benecke 1982 die in der Handschrift Bl. 252r-260r enthaltene deutschsprachige Praktik Schinnagels für 1491, gewidmet Erzherzog Sigismund, komplett in englischer Übersetzung veröffentlicht hatte.10 Benecke schreibt auch die folgende Praktik auf 1492 Bl. 266r-269v Schinnagel zu. Angehängt ist eine Bitte an Erzherzog Sigismund, er möge doch dem Absender für seine Primiz (erste Messe) am 2. Februar (wohl 1492) hundert Gulden übermitteln, damit er sie würdig begehen und seine in Rom gemachten Schulden bezahlen könne. Da der Absender wohl Schinnagel ist, was natürlich zu überprüfen wäre, darf man schließen, dass er ab 1492 Priester war und zuvor Rom besucht hatte.

Nicht näher datiert ist der Wolfenbütteler Cod. Guelf. 21.1 Aug. 4° , den der alte Katalog von Heinemann als mögliches Schinnagel-Autograph anspricht. Schinnagel nennt sich in zwei Texten, darunter ein Horoskop für den bereits genannten Herzog Albrecht von Bayern († 1508).

Um 1500 legte Schinnagel ein astrologisches Handbuch an, das über einen Augsburger Besitzer des 16. Jahrhunderts letztendlich in die British Library gelangte (Add. 34603).11 Einmal nennt er sich darin per me magistrum Marcum Schynagel alme vniuersitatis Crakouiensis tunc temporis plebanus ( sic ) in landtsperg anno 1500. Er war damals also Pfarrer in Landsberg am Lech (das Verfasserlexikon hat: Landberg).

Ob Schninnagel auch für Biblioteka Jagiellońska Krakau Cod. 8, eine lateinische astronomisch-astrologische Handschrift mit einer Prognostik für 1501 für Kardinal Fryderyk12, verantwortlich ist, wird man vorerst bezweifeln dürfen, denn die Auflösung M[arcus] N[icolai] C[assoviensis] b[accalarius] C[racoviensis] A[strologus] ist doch recht kühn, bedenkt man, dass sich Schinnagel sonst immer Magister (manchmal auch Doctor) nannte und seinen aus der Matrikeleintragung 1466 abgeleiteten Familiennamen Nicolai sonst nie führte. Es wurden auch schon andere Auflösungen der Buchstabenfolge vorgeschlagen.13

Bis auf die nicht völlig sicher auf Schinnagel zu beziehenden Krakauer Belege standen bisher ausschließlich Nennungen in seinen gedruckten Schriften und seinen Handschriften (einschließlich des Petershausener Kompendiums von 1489) zur Rekonstruktion seines Lebenswegs zur Verfügung. Sein seelsorgerisches Wirken in Landsberg am Lech und Sulzberg im Allgäu beleuchten zwei Regesten der Regesta Imperii und Einträge im Generalschematismus der Diözese Augsburg.

Am 19. April 1494 nahm König Maximilian in Kempten “den Marcus Schinagel, Pfarrer in Sulzberg, einen berühmten Astronomen (astronomicae scientiae peritia celebrem) als seinen Kaplan auf” (RI XIV,1 n. 574). Am 16. Januar 1498 forderte Maximilian in Innsbruck Bischof “Friedrich von Augsburg auf, den Marx Schinagel, KMs Kaplan, zu furderlichen rechten gegen Balthasar von Schellenberg zu verhelfen, der den Schinagel wider alle Billigkeit beschwere, indem er einige Leute in Schinagels Pfarrhof zu Sultzberg legte, als dieser einen Teil seiner Habe nach Landsberg führen ließ, dessen Pfarre ihm Hg Albrecht von Bayern, KMs Schwager und Rat, vor einiger Zeit verliehen hat” (RI XIV,2 n. 5737). Die Widmung mindestens eines Drucks und die astrologischen Ausarbeitungen für den Bayernherzog haben Schinnagel also wohl die Landsberger Stadtpfarrei eingebracht. Offenbar war er wenigstens zeitweilig gleichzeitig in Sulzberg (etwa zehn Kilometer südlich von Kempten) und in Landsberg bepfründet.

Aufgrund von im Zweiten Weltkrieg vernichteten Akten wurde der Augsburger Generalschematismus erstellt, aus dem das Archiv des Bistums Augsburg freundlicherweise Auskunft erteilte: Gemäß “Moritz Widenmann, Generalschematismus der Diözese Augsburg, Bd. II, S. 447, war ein Markus Schin(n)agel ab 1504 Pfarrer in der Stadtpfarrei Landsberg, leider finden sich keine weiterführenden Hinweise zu ihm. Ab 1507 wird ein Johann Seubelin von Kaufbeuren als Pfarrer gelistet. In der Pfarrei Sulzberg wird von 1493 bis 1533 ein Markus Schmagl als Pfarrer angegeben, weitere Hinweise gibt es leider auch zu ihm nicht, auch er erscheint vor 1493 bzw. nach 1533 nicht mehr im Schematismus (S. 412)”14.

Bald nach der oben für 1492 angesetzten Priesterweihe hat sich Schinnagel nach Sulzberg begeben, wo er 1493 im Schematismus erscheint. Vor 1498 wurde er auch Stadtpfarrer in Landsberg, wo er noch 1504 bezeugt ist. Wenig später scheint er diese Stelle aufgegeben zu haben. Angesichts des angenommenen Geburtsdatums um 1450 möchte ich bei dem Sulzberger Beleg 1533 vorerst ein dickes Fragezeichen machen (Schmagl ist sicher als Schinagl zu lesen). Schinnagel ist also nicht vor 1504 gestorben, vielleicht sogar nicht vor 1533.

Nur weil ich auch auf die Idee kam, nach Marcus Schünagel zu suchen, wurde ich auf einen entlegenen Pariser Beleg aufmerksam. 1496 korrespondierte der Pfarrer von Sulzberg mit Herzog René von Lothringen über astrologisch-politische Konstellationen. Da die schlechte Qualität des Pariser Digitalisats15 nicht zur Lektüre des eigenhändigen Briefs einlädt, überlasse ich die Auswertung dieser Quelle gern der weiteren Forschung.

NACHTRAG 29. April 2014

Die UB Heidelberg hat freundlicherweise ihre Inkunabelfragmente von Werken Schinnagels digitalisiert:

http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_a
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_b
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00335000_c
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/is00334900

Das sind die Nummern 1621-1624 im Heidelberger Inkunabelkatalog.

Zu einem Aufenthalt Schinnagels in Konstanz um 1490 fand ich nachträglich drei Quellen. Ausgangspunkt war eine Suche nach Schunagel in Google Books, die auf einen Hinweis in der Arbeit von Johannes Häne (1899) über den St. Galler Auflauf 1491 führte (in: Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 26, S. 344 PDF). Die dort zitierte Chronik Rütiners bezieht sich auf das Zeugnis des Hermann Miles, dessen St. Galler Chronik 1902 ediert wurde (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 28, S. 294). Dort steht zu lesen: “Am fritag darnach [6. Mai 1491, KG] must der Schniagel [sic! KG] mit gewalt von Costanz uß haß des gemainen mans; der wais ein kostlicher ostromey und hat lang von des himels lauf gesagt und ouch von diser kelti; darum si mantend, si habens von im”. Der Prophet wurde also auf Druck der einfachen Leute aus Konstanz verjagt, da er für das Eintreten seiner Prophezeiung verantwortlich gemacht wurde. Das bezieht sich wohl auf den Schadenszauber-Vorwurf der Hexenprozesse. Für diese Nachricht konnte das Stadtarchiv Konstanz in seinen Beständen keine Bestätigung finden. Allerdings erscheint ein D. Schmagel (= Dr. Schinagel) 1490 in den Steuerbüchern im Quartier St. Stefan (diese wurden in Zehnjahresschritten ediert: Die Steuerbücher der Stadt Konstanz Bd 2, 1963, S. 72 Nr. 661). Sein Name wurde gestrichen, er steuerte nur 3 Pfennig aus einem Garten.

Hans Rudolf Lavater war so liebenswürdig, mir einige Seiten aus der Ausgabe Johannes Rütiner: Diarium 1529-1539 zu scannen, der an zwei Stellen auf Schinagel zu sprechen kommt (hrsg. von Ernst Gerhard Rüsch, 1996, Textbd. I.2, S. 460f. Nr. 785, S. 697f. Nr. 977). Beidesmal erwähnt er die Vertreibung des Astrologen aus Konstanz, dem er zuverlässige Vorhersagen attestiert.  Doktor Marcus Schunagel habe Laurentius Teusch in St. Gallen besucht und diesen auf den bevorstehenden Konflikt mit den Schweizern (1490) hingewiesen. Unter Berufung auf Hermann Miles berichtet er, dass die Bauern ihn in Konstanz aus der Stadt verlangt hätten, nachdem alle Reben in einer einzigen Nacht durch Frost zugrunde gegangen waren. Schunagel habe als erstes Prognostiken herausgegeben (“primus fuit qui prognosticationes edidit” bzw. an der zweiten Stelle “prognosticationes annales”). An der zweiten Stelle erzählt Rütiner von dem Besuch einiger St. Galler Bürger bei Dr. Marcus Schunagel in Konstanz, damals im Weissagen sehr berühmt (“celeberrimum praesagiendo”). Er sagte den Krieg mit den Eidgenossen (1489/90), den Aufruhr in St. Gallen 1491 und noch anderes voraus. Alles sei eingetreten, wie er es gesagt hatte.

Diese Nachrichten aus dem Bodenseeraum ergänzen die bisherigen Notizen zu Schinnagel auf das trefflichste. Da Schinnagel ihnen zufolge 1489 in Konstanz lebte und aus diesem Jahr sein seit dem 17. Jahrhundert in Petershausen bezeugtes Kompendium stammt, darf man mit größerer Sicherheit als bisher annehmen, dass es in Konstanz entstanden ist und ursprünglich für das Benediktinerkloster Petershausen bestimmt war.

 

 

 

Foto von Dr. Bernd Gross (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

  1. “Für Baden gerettet” (1995), S. 126f. Nr. 83 mit Abbildungen.
  2. Richard L. Kremer: Marcus Schinnagel’s winged polyptych of 1489 : astronomical computation in a liturgical format. In: Journal for the history of astronomy. Bd. 43 (2012), Nr. 3, S. 321-345.
  3. Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 2. Auflage 8 (1992), Sp. 680f. Google.
  4. http://manuscripta.at/?ID=6998 mit Link zum Katalog HANNA. Brévart im Verfasserlexikon  folgt ganz Ernst Zinner: Verzeichnis der astronomischen Handschriften des deutschen Kulturgebietes (1925), S. 494 und nennt die falsche Signatur Cod. 10584.
  5. Kremer Anm. 1.
  6. Iulia Capros: Students from Košice at foreign Universities before and during the reformation period in the town. Dissertation Budapest 2010, S. 238-240 Nr. 111 online mit Wiedergabe der Quellenstellen.
  7. Siehe etwa http://donauschwaben-usa.org/kosice.htm.
  8. Weitere Abbildung: erste Seite der Wiener Prognostik auf 1493 bei Seethaler 1982 S. 795 PDF.
  9. Nach der Abbildung bei Frederick R. Goff: Some undescribed ephemera of the 15th century in the Library of Congress. In: Beiträge zur Inkunabelkunde, 3. Reihe, I (1965), S. 100–102, Abb. 20 Commons. Der Anfang (ebd. Abb. 19): Commons.
  10. Gerhard Benecke: Maximilian I. (1982), S. 164-174.
  11. Katalog.
  12. Vgl. auch Natalia Nowakowska: Church, State and Dynasty in Renaissance Poland [...] (2007), S. 92 Google.
  13. Grażyna Rosińska: Scientific writings and astronomical tables in Cracow (1984), S. 241 online.
  14. Anfragen beim Stadtarchiv Landsberg am Lech, bei der Pfarrei Mariä Himmelfahrt in Landsberg und bei dem Sulzberger Heimatforscher Otto Pritschet blieben leider ohne Ergebnis.
  15. Gedreht: Commons.

Quelle: http://frueheneuzeit.hypotheses.org/1615

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Das Blog und der Malterer-Teppich

Warum wird als Header für ein Blog, das sich mit der mittelalterlichen Geschichte des Oberrheingebiets beschäftigt, ein Teppich ausgewählt, der neben Szenen aus der Bibel und der mittelalterlichen Epik auch Aristoteles und Vergil abbildet? Es ist nicht nur das günstige Format, das den sogenannten “Malterer-Teppich” als geeignete Illustration für dieses Blog erscheinen lässt, sondern seine Verbindungen zur spätmittelalterlichen klösterlichen, bürgerlichen und adligen Welt am Oberrhein.

© Augustinermuseum - Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

© Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg, Malterer-Teppich, um 1320, Leihgabe der Adelhausenstiftung Freiburg, Foto: Hans-Peter Vieser

Der Teppich ist Teil einer Reihe von erhaltenen mittelalterlichen Textilien, einem “nach Vielfalt und kunsthistorischer Bedeutung […] einzigartigen Besitz”1  aus dem Freiburger Dominikanerinnenkloster Adelhausen beziehungsweise diesem später eingegliederter weiblicher Gemeinschaften. Aus einer dieser Gemeinschaften, dem zwischen 1290 und 1297 gegründeten Dominikanerinnenkloster St. Katharina, stammt der nach der Stifterfamilie benannte Teppich.2 In den Bildern ganz links und ganz rechts ist jeweils das Wappen der Stifterfamilie abgebildet, dazu die Namen “Anna” im ersten und “Johannes” im elften Bild.

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© Augustinermuseum – Städtische Museen Freiburg

Anna Malterer wird sowohl vom Anniversar von St. Katharina von 1354 als auch vom Nekrolog desselben Konvents als Schwester von St. Katharina bezeichnet.3 Johannes Malterer, wohl Annas Bruder, ist nicht nur als Stifter einer Jahrzeit für die gesamte Familie im Kloster St. Katharina bekannt, sondern vor allem wegen seines großen Reichtums. Vielleicht aus einer Freiburger Metzger-Familie stammend, erwarb er so großen Reichtum, dass Heinrich Maurer ihn einen “Freiburger Millionär des 14. Jahrhunderts” nannte.4

Die Malterer zählten also zu den neuen städtischen Oberschichten, die – so ein Ergebnis der Untersuchung von Ulrike Denne zu den Freiburger Frauenkonventen – im besonderen Maße den neu entstandenen Konvent von St. Katharina förderten. Der Aufstieg der Malterer war jedoch noch nicht beendet. Ihr Aufstiegswillen zeigte sich in den hochrangigen Eheverbindungen, die Johannes Kinder eingingen. Johannes Tochter Elisabeth heiratete den Markgrafen Otto I. von Hachberg, seine Tochter Gisela Hesso von Üsenberg und seine Tochter Margarete den auf der Baar ansässigen Ritter Johann von Blumeneck. Alle drei Töchter Johann Malterers heirateten also in den regionalen Adel des Breisgaus und der umliegenden Gegenden ein. Wie Boris Bigott zeigen konnte, verknüpfte Johannes Malterer diese Eheverbindungen mit dem pfandweisen Erwerb von Burgen der jeweiligen Adelsgeschlechter, die dann die Malterertöchter als Mitgift in die Ehe einbringen konnten.5 Letztlich hatte Johann Malterer die prestigeträchtigigen Eheverbindungen für seine Töchter also erkauft.

Am deutlichsten wird der Aufstieg der Malterer aber am Beispiel von Martin Malterer, dem einzigen Sohn von Johannes Malterer. Bereits 1354 wurde für diesen, wohl erst wenige Jahre alt, im Auftrag seines bald darauf verstorbenen Vaters durch drei Pfleger die Herrschaft Kastelburg (mit der Stadt Waldkirch) für 2140 Mark Silber gekauft.6 1367 ist er das erste Mal als Ritter belegt.7 Wie sehr Martin Malterer bereits seiner städtischen Herkunft entwachsen war, zeigt sich an seiner Parteinahme für den Grafen Egino von Freiburg in dessen Auseineinandersetzung mit der Stadt Freiburg.

Stattdessen suchte sich Martin Malterer in die regionale Adelswelt zu integrieren, wohl um 1373 heiratete er die Gräfin Anna von Thierstein (seine verwitwete Mutter Gisela heiratete deren Vater Graf Walram III. von Thierstein) und ist zwischen 1379 und 1384 als habsburgischer Landvogt im Elsaß und Breisgau belegt.8 Auch von der für seinen Vater noch belegbaren Tätigkeit als Geschäftsmann nahm Martin Malterer Abstand und führte stattdessen ein betont adliges Leben, zu dem wohl auch der ihm zugeschriebene Ausbau der Kastelburg gehörte.9.  Vor allem war Martin Malterer führendes Mitglied der Rittergesellschaft zum Löwen, weswegen er in der Schlacht Herzog Leopolds III. von Österreich gegen die Eidgenossen bei Sempach den Tod fand.10 Nach zwei Generationen und einem schnellen Aufstieg von der städtischen Sphäre in den Adel waren die Malterer damit im Mannesstamme zwar bereits ausgestorben, doch in der Erinnerung der Nachfahren lebten sie weiter: Im 16. Jahrhundert berichtete Aegidius Tschudi, dass Martin Malterers Körper über dem Körper des bereits verstorbenen Leopold III. gefunden worden wäre.11 Noch Jahrhunderte später erinnerte man sich im längst nicht mehr habsburgischen Freiburg an Martin Malterer und setzte ihm auf der Schwabentorbrücke ein Denkmal.

Maltererteppich: Phyllis reitet auf Aristoteles. © Augustinermuseum

Innerhalb von nur zwei Generationen gelang den Malterer ein beeindruckender Aufstieg aus dem städtischen Bürgertum in den regionalen Adel. Ein Zeugnis für deren Repräsentationsbemühungen ist die Schenkung des Malterer-Teppichs an das Kloster St. Katharina, insbesondere deshalb weil er als einziger der erhaltenen Freiburger Teppiche, Wappen und Namen der Stifter zeigt. Aber nicht nur deshalb ist der Malterer-Teppich ein “ganz seltenes Dokument der Kunstgeschichte”, sondern auch aufgrund der einzelnen Abbildungen.12 Die ausgewählten Motive rezipieren “traditionelle literarische Stoffe” der Zeit, als übergeordnetes Bezugsthema aller Darstellung wurde die Gottesminne, also die reine geistliche Minne ausgemacht.13 In seinen Formen und Bildern ist er dagegen im allgemeinen von der oberrheinischen Buchmalerei des beginnenden 14. Jahrhundert (vgl. bsw. die Große Heidelberger Liederhandschrift, der sogenannte Codex Manesse) und im speziellen von den Glasfenstern des Freiburger Münsters beeinflusst, aus denen der unbekannte Schöpfer des Teppichs konkrete Figuren, aber auch ornamentale Elemente übernahm.14

Aufgrund der vielfältigen Bezüge ist der Malterer-Teppich ein nahezu ideales Symbolbild für unser Blog. Er zeigt symbolisch die enge Verknüpfung von bürgerlicher und adliger Welt zu den Klöstern, womit drei wichtige Beschäftigungsfelder der Landesgeschichte angesprochen sind. Zugleich ist er ein kulturhistorisches Dokument mit Anschlussfähigkeit zu den Nachbardisziplinen, in diesem Fall vor allem der Kunst- und Architekturgeschichte, der historische Literaturwissenschaft und der Kodikologie. Zwar ist der Maltererteppich in besonderer Weise mit Freiburg verbunden, aber er ist durch seine Stifter und seine kunsthistorischen Bezüge auch mit dem ganzen Oberrheingebiet verknüpft. Vielleicht ist er auch in dieser Hinsicht ein gelungenes Symbolbild für die Arbeit der Abteilung Landesgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität.

  1. Jutta Eißengarthen: Mittelalterliche Textilien aus Kloster Adelhausen im Augustinermuseum Freiburg, Freiburg 1985, S. 9.
  2. Eisengarthen, Mittelalterliche Textilien, S. 10
  3. Vgl. dazu Ulrike Denne: Die Frauenklöster im spätmittelalterlichen Freiburg im Breisgau. Ihre Einbindung in den Orden und in die städtische Kommunität (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 39), Freiburg/München 1997, S. 191f.
  4. Die Herkunft aus einer Metzger-Familie hält Mathias Kälble: Zwischen Herrschaft und bürgerlicher Freiheit: Stadtgemeinschaft und städtische Führungsgruppen in Freiburg im Breisgau im 12. und 13. Jahrhundert (Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau 33), Freiburg 2001, S. 248 gegen Heinrich Maurer: Ein Freiburger Millionär des 14. Jahrhunderts und seine Nachkommen, in: Schau-ins-Land. Jahresheft des Breisgau-Geschichtsvereins Schauinsland 34 (1907), S. 3-20.
  5. Boris Bigott: Die Damen Malterer. Zur Einheirat Freiburger Patriziertöchter in den Breisgauer Adel im 14. und 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins “Schau-ins-Land” 126 (2007), S. 19-37, hier S. 23-30.
  6. Mit dieser Deutung Bigott, Damen Malterer S. 31f.
  7. Dazu und zum folgenden: Boris Bigott: Städtisches Patriziat als Machtfaktor auf dem Burgenmarkt am Beispiel des Breisgaus, in: Burgen im Breisgau. Aspekte von Burg und Herrschaft im überregionalen Vergleich, hg. von Erik Beck, Eva-Maria Butz, Martin Strotz, Alfons Zettler und Thomas Zotz (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 18), S. 241-254, hier S. 252f.
  8. Vgl. Ulrich Ecker: Martin Malterer “König” der Gesellschaft zum Löwen und die Schlacht von Sempach, in: Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum “Neuen Stadtrecht” von 1520, hg. von Heiko Haumann und Hans Schadek, Stuttgart 1996, S. 279-284, hier S. 282f.
  9. Vgl. Bigott, Städtisches Patriziat, S. 252
  10. Ecker, Malterer, S. 279f.
  11. Bigott, Damen Malterer, S. 22
  12. Eißengarthen, Mittelalterliche Textilien, S. 30
  13. Eißengarthen, Mittelalterliche Textilien, S. 24
  14. Eißengarthen, Mittelalterliche Textilien, S. 24-30

Quelle: http://oberrhein.hypotheses.org/125

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Zur Überlieferung der Zwiefalter Chroniken Ortliebs und Bertholds

In zweierlei Hinsicht waltete über den Editionen der lateinischen Chronik des Zwiefalter Benediktiners Berthold ein Unstern. Zum einen ist eine Textherstellung aufgrund von Handschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts nach dem Verlust einer noch von Martin Crusius 1590 benutzten hochmittalterlichen Pergamenthandschrift ausgesprochen schwierig, da die Reihenfolge vieler Kapitel erschlossen werden muss. Zum anderen hat der Stuttgarter Archivar Karl Otto Müller (1884–1960), der die Edition der Chroniken Ortliebs und Berthold von dem 1940 verstorbenen Tübinger Professor Erich König  übernommen hatte, die entscheidenden Vorarbeiten des von […]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/6323

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“Ordonnance du Roi, concernant les Gardes Nationales du Royaume” (16.7.1814): die Reform der französischen Nationalgarde durch Ludwig XVIII.

Archives nationales, F9 359 (affaires militaires, garde nationale : Première Restauration), 16.7.1814:

« Ordonnance du Roi, concernant les Gardes Nationales du Royaume:

Louis, par la grâce de Dieu, Roi de France et de Navarre, à tous ceux qui ces présente verront, Salut:
Sur le rapport de Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur;
De l’avis de Notre bien-aimé Frère MONSIEUR, Comte d’Artois, Colonel-Général des Gardes nationales du Royaume;
Vu l’arrêté du gouvernement provisoire du 4 avril, et notre Ordonnance du 31 mai, qui licencient les levées en masse, les bataillons de nouvelles levées et les compagnies de réserve départementale;
Vu les dispositions des lois et décrets en vigueur sur les Gardes nationales;

Nous avons ordonné et ordonnons ce qui suit:

Art. 1er. Les Gardes nationales du Royaume sont toutes sédentaires et divisées en Gardes urbaines et rurales, composées, les premières, des cohortes formées dans les villes ; les secondes, des cohortes formées dans les campagnes. Aucune Garde urbaine ne pourra être déplacée de la ville, et aucune Garde rurale ne pourra être déplacée du canton, que pour les cas et dans les formes qui seront déterminés par une loi.

Art. 2. Les Gardes nationales, en ce qui concerne la simple exécution des lois et réglemens [sic] sur le personnel, le service ordinaire, l’instruction et la discipline dans le service, ressortiront à notre bien-aimé Frère, MONSIEUR, Comte d’Artois, Colonel-Général, qui statuera sur les objets autres que ceux qui exigent notre décision, et qui continueront de nous être soumis par lui, ou, d’après ses ordres, par le Ministre d’Etat Major, Général.

Art. 3. Les Gardes nationales, en ce qui concerne la simple exécution des lois sur la formation des listes, la comptabilité, et sur les réquisitions de service extraordinaire, en cas de trouble ou à défaut de garnisons, continueront de ressortir aux Maires, Sous-Préfets et Préfets, et à Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur, sauf communication au Ministre d’Etat Major-Général.

Art. 4. Les projets de lois, d’ordonnances et de réglemens [sic] généraux seront préparés par le Ministre d’Etat Major-Général, soumis à l’acceptation du Prince Colonel-Général, et remis à Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur, pour être, s’il y a lieu et suivant leur nature, approuvés par Nous en notre Conseil, ou présentés au Corps Législatif.
Les projets sur lesquels Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur aurait cru devoir prendre l’initiative, seront, par lui, communiqués au Ministre d’Etat Major-Général, qui les soumettra au Prince Colonel-Général, et les remettra à Notre dit Ministre avec ses observations.

Art. 5. Notre Ministre Secrétaire d’Etat au Département de l’Intérieur est chargé de l’exécution des présentes.

Paris, le 16 juillet 1814,

Signé Louis. »

 

Zur Quelle:

Die Quelle stellt eine königliche Verordnung Ludwigs XVIII. vom 16.7.1814 zur Organisation der französischen Nationalgarde dar. Sie ist Teil eines umfangreichen Bestimmungswerkes, mit der der König die französische Nationalgarde zu reformieren gedachte. Eine frühere Verordnung vom 5.4.1814 ordnete die Aufstellung der Nationalgarde an. Am 15.5.1814 wurde der Bruder des Königs, der Comte d’Artois (in der Quelle als „Monsieur“ geführt) zum Generaloberst der Nationalgarden im gesamten Königreich ernannt. Am 20.8.1814 und 1.10.1814 folgten weitere Verordnungen des Generalstabs der Nationalgarde, welche die Organisation noch verfeinerten.

Die vorliegende Verordnung hielt das Gesetz zur Nationalgarde von 1791 und zentrale Bestimmungen des Kaiserreichs mit dem Verweis auf die neue Charte Constitutionnelle und der darin verankerten Garantie bestehender Gesetze aufrecht. Somit war der Rahmen vorgegeben, in dem Ludwig 1814 die Reorganisation der Nationalgarde unternahm. So legte Artikel 1 der vorliegenden Verordnung fest, dass jede Nationalgarde im Königreich ortsgebunden sein sollte. Das bedeutete, dass ein Einsatz der Garde außerhalb der jeweiligen Stadt oder des jeweiligen Kantons nur in Ausnahmefällen möglich war. Diese Bestimmung stellte eine Ergänzung zur Auflösung der sogenannten „garde nationale mobile“ dar, die Napoleon während der Vorbereitungen zum Russlandfeldzug als gigantisches Reservoir zur Aushebung neuer Rekruten gedient hatte.

Die Verwaltung der „Garde nationale sédentaire“ beruhte derweil auf vier Instanzen. So legte Artikel 2 der vorliegenden Verordnung fest, dass die Bestimmungen zur Ausbildung, zur Disziplin sowie zum regulären Dienst in das Aufgabengebiet des Generalobersts in der Person des Comte d’Artois fielen. Den Präfekten, Vize-Präfekten und Bürgermeistern sollte gemäß Artikel 3 die Aufstellung der Rekrutierungslisten, die Buchhaltung und das Recht zur Mobilisierung der Nationalgarde in Ausnahmefällen zukommen. Der Generalstab von Artois war derweil nach Artikel 4 für die Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen und Verordnungen zuständig, für deren Ausführung wiederum der Innenminister verantwortlich war. Damit rief die Verordnung ein eigenständiges Ministerium für die Nationalgarde ins Leben, das gegenüber dem Innenministerium zu einer Doppelstruktur führte. War die Aufrechterhaltung und Garantie der öffentlichen Ordnung vor allem ein Hoheitsgebiet des Innenministers (und Kriegsministers), wurde ihm mit dem Stab Artois‘ ein Exekutivorgan zur Seite gestellt.

Damit war dem Comte d’Artois das gelungen, was Lafayette als Kommandant der Pariser Nationalgarde zwischen 1789 und 1792 nicht gelungen war: den Oberbefehl über sämtliche Nationalgarden im Königreich in einem Ministerium und in einer Hand zu vereinen. Dieser Vorgang ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zunächst stellte die vorliegende Verordnung ein klares Bekenntnis Ludwigs XVIII. zur Nationalgarde dar. Diese war während der Revolution in Paris spontan entstanden, ihre Mitglieder waren Angehörige der mittleren und gehobenen Bourgeoisie, die ein Ausufern der Revolution befürchteten. Ihre Sorge galt aber nicht nur der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und dem Schutz ihres Eigentums, ihrer Geschäfte und Läden. Das Auftreten der Nationalgarde wurde auch als Teil der politischen Emanzipation des dritten Standes wahrgenommen, der sich hier das Recht auf Teilhabe am Gewaltmonopol aneignete. Die Verfassunggebende Versammlung sorgte mit dem Gesetz zur Nationalgarde von 1791 für die soziale Einhegung der Institution, indem allein sogenannte „citoyens actifs“ in die Nationalgarde aufgenommen wurden. Diese Regelung fand in Lafayette einen prominenten Fürsprecher, wurde aber von Seiten der Jakobiner und insbesondere von Robespierre vehement kritisiert.

Deutlich wird, dass die Nationalgarde bei der Rückkehr der Bourbonen nach Frankreich eine progressive, revolutionäre Institution darstellte, die mit der vorliegenden Verordnung sanktioniert und in das institutionelle Gefüge der neuen Monarchie integriert wurde. Dies entsprach dem Geist der von Ludwig oktroyierten Charte und dem Charakter der französischen Restauration. Die Charte garantierte den Fortbestand bestehender Gesetze (das bedeutet auch jener Gesetze und Institutionen, die aus der Revolution und dem Kaiserreich stammten). Zugleich wurde deutlich, dass die Restauration trotz des dynastischen Anspruchs Ludwigs nicht hinter die Revolution würde zurückgreifen können. Mochte sich Ludwig auch als Nachfahre Ludwigs XVI. und als von Gottes Gnaden bestellter Thronfolger betrachten, konnte er die politische Legitimität doch nur durch die Anerkennung zentraler Prinzipien der Revolution erlangen.

Sicherlich war die Beibehaltung der Nationalgarde auch dem Umstand geschuldet, dass Ludwig nach der Auflösung der Armee Napoleons, deren Reformierung erst langsam anlief und durch die Hundert Tage verzögert wurde, auf die Nationalgarde als bewaffneter Ordnungstruppe angewiesen war. Doch bleibt es bemerkenswert, dass mit dem comte d‘Artois ausgerechnet ein Protagonist des Regimewechsels vom reaktionären Ende des politischen Spektrums Generaloberst der Nationalgarde wurde. Der spätere Karl X. verstand es in den ersten Jahren des Regimes Ludwigs XVIII. ausgezeichnet, die Angehörigen der Nationalgarde von sich zu überzeugen. Schon während seines Einzuges in Paris am 12.4.1814 hatte er die Uniform der Nationalgarde angelegt, was viele Zeitgenossen als einen Grund für den Sturm der Begeisterung nannten, den Artois bei seiner Ankunft in der Stadt unter den Parisern auslöste. Das künftige Regime fand so innerhalb eines besonders einflussreichen Milieus der französischen Gesellschaft einen starken Rückhalt. Anhand der Nomenklatura der Befehlshaber der 13 Legionen der Pariser Nationalgarde lässt sich das Gewicht ihrer Akteure ablesen. Zu ihnen gehörten die wichtigsten Notabeln in Paris, wie etwa der Großindustrielle Terneaux, der spätere Innenminister Lainé oder der Abgeordnete Sosthène de la Rochefoucauld.

 

Zur weiteren Lektüre:

Georges Carrot: La Garde nationale (1789 – 1871). Une force publique ambiguë, Paris 2001

Roger Dupuy: La Garde nationale, 1789-1872, Paris 2010

Louis Girard: La Garde Nationale 1814-1871, Paris 1964

Wolfgang Kruse: Die Erfindung des modernen Militarismus. Krieg, Militär und bürgerliche Gesellschaft im politischen Diskurs der Französischen Revolution 1789 – 1799, München 2003

Volker Sellin: Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001

 

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/1375

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Zu den Inschriften der Klöster Hirsau und Herrenalb und weiterer Standorte im Landkreis Calw

Die Inschriften des Landkreises Calw. Gesammelt und bearbeitet von Renate Neumüllers-Klauser (= Die Deutschen Inschriften 30). Wiesbaden: Reichert 1992. XXXII, 252 S. Mit 109 SW-Abbildungen und einer Karte. ISBN 9783882265125 1993 erhielt Renate Neumüllers-Klauser für diesen Band und den Band zum Enzkreis den Schillerpreis der Stadt Marbach. Ob die herausragende wissenschaftliche Qualität des Buchs tatsächlich gegeben ist, mag der Leser nach Lektüre der folgenden Zeilen selbst entscheiden. Die kritische Sichtung und Aufarbeitung der Inschriften des Klosters Hirsau ist von unschätzbarem Wert. Wer die fragmentarische [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/5502

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Von Paris nach Berlin – der Publikumserfolg der „rue du Caire“

Von Jan Maier

Fast 32 Millionen Menschen besuchten vom 6. Mai bis zum 31. Oktober 1889 die Weltausstellung in Paris. Auf der 96 Hektar großen Ausstellungsfläche befanden sich unter anderem ein sogenanntes „village nègre“ und die „rue du Caire“. Sieben Jahre später waren auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung gleichzeitig eine „Kolonialausstellung“ sowie die „Sonderausstellung Kairo“ zu sehen. 7,4 Millionen Besucher strömten auf die mit 1,1 Millionen Quadratmetern bis dato größte Ausstellungsfläche Europas im Treptower Park, davon allein zwei Millionen auf die 60 000 Quadratmeter der Kolonialausstellung. Diese Sonderattraktionen in beiden Städten sind Zeugnisse Zurschaustellung kolonisierter Bevölkerungen, die einem bestimmten Muster folgten, das bei allen europäischen Kolonialausstellungen zu finden ist. Alice von Plato spricht bei der „rue du Caire“ von einem internationalen „Prototyp“, der die Grundlage für viele  weitere Ausstellungen wurde1.

Die Pariser „rue du Caire“ von 1889

Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine Faszination für Ägypten bei den Weltausstellungen. Zeigte man 1867 noch eigene Exponate mit dem Wunsch sich als „unabhängige Nation mit eigenen, unverwechselbaren Traditionen“2 darzustellen, überwog in der „rue du Caire“ in Paris von 1889 der koloniale Gedanke. Neben den fast 400 „Einheimischen“, einer bunten Mischung aus Händlern, Gauklern und verschleierten Frauen, waren auch Kamele und Affen zu sehen. In den vermeintlichen exotischen Cafés der engen Straße sollten die Besucher „orientalische Luft schnuppern“ und Souvenirs kaufen. Man sollte sich wie auf einem Basar fühlen. Die Berliner „Sonderausstellung Kairo“ war fast identisch mit ihrem von Baumeister Gabriel Wohlgemuth und Schausteller Willy Möller aufgegriffenen Pariser Vorbild. Nur mit dem Nachbau der Cheops-Pyramide ging man noch einen Schritt weiter und übertraf das französische Original. Dabei hatten die beiden Bauherren die Idee, nicht aber die Nachbauten aus Paris übernommen3.

Die hier gezeigten Beispiele sind nach dem selben Schema aufgebaut: Zunächst sollte eine exotische Atmosphäre geschaffen werden, in der sich die Besucher zugleich fremd- und wohlfühlten. Gleichzeitig sollte man menschlichen „Exponaten“ zusehen, wie sie ihren anscheinend normalen Tagesabläufen folgten, lebten sie doch in ihrer „natürlichen“ Umgebung. Durch diese stark reduzierte Darstellung der vermeintlich typischen Lebensweise wurde das Entstehen von Stereotypen gegenüber den kolonialisierten Kulturen gefördert. In beiden Fällen handelte es sich um eine bewusste Inszenierung zur Rechtfertigung des imperialen Ausgreifens auf die Welt.

Ähnlich war es auch im Pariser „village nègre“. Dort „lebten“ zirka 400 Menschen in Nachbauten von Hütten, die der Architektur der jeweiligen Stämme aus den französischen Kolonien nachempfunden waren. Umgekehrt zeigten die 1896 errichteten „Eingeborenendörfer“ in Berlin 103 Menschen aus den Kolonien des Deutschen Reichs (z.B. aus Kamerun und Togo). Daneben waren in beiden Ausstellungen kulturtypische Gegenstände und Häuser zu sehen. Das gemeinsame Prinzip bestand in der Nachahmung der Struktur eines afrikanischen Dorfes. In Paris spielte ferner die Idee des théâtre colonial eine Rolle, d.h. man wollte bei den Franzosen der Metropole einen Zuspruch zu den Kolonien auslösen, „zu einem Konsens über das empire gelangen“4. Ziel war also, „die Öffentlichkeit des Mutterlandes [Frankreich, J. Maier] zu verführen, indem man sie mit ‚ihren‘ weit entfernten Besitztümern vertraut machte“5. Neben der Kolonialpropaganda erfüllten die Sonderattraktionen in Berlin auch den Wunsch, der Gewerbe-Ausstellung einen internationalen Charakter zu verleihen.

Unterstützt wurde dies durch die mediale Präsenz der beiden Ausstellungen in der zeitgenössischen Presse. Trotz des Publikumserfolgs finden sich auch zeitgenössische kritische Stimmen zur Berliner Ausstellung. So zweifelte der Politiker Friedrich Naumann am Erfolg der Inszenierung von „Kairo“ und der „Kolonialausstellung“ und wirft ihr eine zu große Nähe zum Theater vor. Alfred Kerr, Theaterkritiker, äußerte ähnliche Bedenken zu „Kairo“, lobte diese in einem Brief vom 3. Mai 1896 jedoch als „sehr geistvolle[n] und […] anregende[n] Mumpitz.“6 Für die Kolonialausstellung dagegen konnte er sich überhaupt nicht begeistern.

Mit dem Ende der Gewerbe-Ausstellung  am 15. Oktober 1896 verschwanden die dort gezeigten Beispiele aber nicht aus Berlin. 1899 ging aus der Kolonialausstellung das Deutsche Kolonialmuseum hervor (bis 1915) und eine Replik der „Straße von Kairo“ befand sich 1904-1934 im Luna-Park, wo ebenfalls Senegalesen (1904) und Somali (1910) ausgestellt wurden.

Literatur

Volker Barth, Menschen versus Welt, Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt 12007.

Pascal Blanchard, Sandrine Lemaire (Hg.), Culture coloniale 1871-1931, La France conquise par son Empire, Paris, 12003.

Alice von Plato, Präsentierte Geschichte, Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 12001.

Ines Roman, Exotische Welten – Die Inszenierung Ägyptens in der Sonderausstellung „Kairo“ der Berliner Gewerbe-Ausstellung von 1896: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/propylaeumdok/1114/1/Magisterarbeit_Ines_Roman.pdf (26.07.2013).

Günther Rühle (Hg.), Alfred Kerr, Wo liegt Berlin?, Briefe aus der Reichshauptstadt, Berlin 51998.

Abbildung

La rue du Caire. Avenue de Suffren: Champs-de-Mars von Brown University, Public Domain

  1. Alice von Plato, Präsentierte Geschichte, Ausstellungskultur und Massenpublikum im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 12001, S. 219, 224.
  2. Volker Barth, Menschen versus Welt, Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt 12007, S. 246.
  3. Ines Roman, Exotische Welten – Die Inszenierung Ägyptens in der Sonderausstellung „Kairo“ der Berliner Gewerbe-Ausstellung von 1896, S. 47, 52.
  4. „[…] à établir un consensus sur l’empire“ (Pascal Blanchard, Sandrine Lemaire (Hg.), Culture coloniale 1871-1931, La France conquise par son Empire, Paris, 12003, S. 47.), übersetztes Zitat [J. Maier]
  5. „séduire le public métropolitain en le familiarisant avec ‚ses‘ possessions lointaines“ (Blanchard/Lemaire, 46), übersetztes Zitat [J. Maier]
  6. Günther Rühle (Hg.), Alfred Kerr, Wo liegt Berlin?, Briefe aus der Reichshauptstadt, Berlin 51998, S. 152.

Quelle: http://19jhdhip.hypotheses.org/1275

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