Im Jahr 1528 brechen Diebe in die Kirche des Augustinerstifts St. Victor vor den Toren von Paris ein. Sie rauben heilige Wertgegenstände – aber entfernen zuvor andächtig die Hostien und legen sie mit großen rituellen Vorkehrungen auf den Altar. Das versetzt auch zeitgenössische Beobachter in Erstaunen. Was sagen diese Handlungen über die Glaubenswelt der Räuber zu einer Zeit, als sich in Paris bereits evangelische Ideen ausbreiten? Und wie reagieren die Augustinerchorherren auf den ungeheuerlichen Vorgang? Der Vorfall ereignet sich in der Nacht vom 28. Mai. Es gibt keine Zeugen, nur die Spuren der Verwüstung werden den Chorherren am Morgen danach ersichtlich. Einer der Augustiner, der 46-jährige Kämmerer Pierre Driart, berichtet in seinen tagebuchartigen Aufzeichungen über den Raub: “In der Nacht von Donnerstag, dem 28. Tag des genannten Monats, eine Woche nach Christi Himmelfahrt, drangen mehrere diebische Übeltäter, nachdem die Matutin des Festes von Saint-Germain, Bischof von Paris, gebetet worden war, mit einer bewaffneten Gruppe über die Mauern des Kirchhofs in die Kirche ein und zwar über eine der Kapellen auf der Seite des Kirchturms, in der noch keine Fenster eingebaut waren. Sie nahmen den Tabernakel und den Kelch dort, wo der kostbare Leib unseres Herrn auf dem Altar war, hinter […]
Alte Religion, alte Rechte. Die “katholische Gemeindereformation” in den 1530er Jahren – eine Hypothese
Im Jahr 1532 stehen in Geislingen, einer Gemeinde im Landgebiet der Reichsstadt Ulm, Wahlen an. Die Bürger sollen neue Richter und einen Bürgermeister wählen. Doch die Mehrheitsverhältnisse bereiten Schwierigkeiten. Der Ulmer Rat fürchtet, dass erneut nur altgläubige Kandidaten Erfolg haben, die dann weiterhin das evangelische “Wort Gottes” behindern könnten. In der Folge entspinnt sich ein jahrelanger Konflikt um alte Rechte und alten Glauben. Ein Großteil der Geislinger Bürger wehrt sich mit den politischen Mitteln der Gemeindeverfassung und verteidigt diese in einem Atemzug mit den atlgläubigen religiösen Praktiken gegen die Ulmer Obrigkeit. Ulm hat Ende 1530 die Einführung der Reformation befürwortet. Jetzt soll die evangelische Ordnung auch auf dem Land durchgesetzt werden. Manche Gemeinden nehmen die evangelischen Kulturformen und Wissensordnungen schnell an, andere sträuben sich. Mancherorts formiert sich altgläubiger Widerstand – so interpretieren die Protestanten die Präsenz und die durchaus innovative Aktualisierung alter religiöser Praktiken. Zur Durchsetzung der evangelischen Kultur kommt es besonders auf die Haltung der lokalen Regierungen an. Der Ulmer Rat will deshalb in den Gemeinden seines Landterritoriums durchsetzungsfähige, obrigkeitstreue und evangelische Vögte, Pfleger, Pfarrer, Richter und Bürgermeister. Das ist leichter gesagt als getan. In Geislingen werden auf der Grundlage der Gemeindeverfassung von 1396 die Vögte als lokale Exekutivbeamte [...]
CFP: “Sacrés liens!” – “Heilige Verbindungen”, Doktorandenseminar an der EHESS Paris
Im kommenden Semester geht das interdisziplinäre und alle Epochen einschließende Doktorandenseminar “Sacrés liens! Étudier les liens en sciences sociales des religions” an der École des hautes études en sciences sociales Paris in eine neue, seine zweite Runde. Die Bewerbungsfrist für das Seminar endet am 20. September, Vorschläge können auf Französisch und sicher auch auf Englisch eingereicht werden. Eine schöne Gelegenheit für alle, die sich mit dem Verbindenden und dem Trennenden in religiösen Kulturen beschäftigen. Weitere Informationen gibt es auch auf dem Blog zum Seminar unter http://sacresliens.hypotheses.org/. Der CFP für das kommende Semester mit den Kontaktdaten der Organisator/innen findet sich hier. Die (französische) Beschreibung des Seminars lautet: “Le lien est, au sens propre, ce qui entrave, ce qui contraint, mais c’est aussi ce qui unit, affectivement, moralement, socialement, les individus entre eux. Selon une étymologie controversée, le lien serait à l’origine de la religion (re-ligare). Que ce soit dans le lien à la divinité, à la transcendance, au groupe ou à l’autre, la construction d’une relation constitue un élément essentiel du fait religieux. La diversité des liens développés par les individus appelle donc à s’interroger, dans une perspective pluridisciplinaire et diachronique, sur la façon dont l’individu et le groupe construisent leur [...]
Die Gefahr hinter dem Rücken der Priester
- Hauptstaatsarchiv München, Kurbayern Äußeres Archiv, 4246, fol. 5r-6v.
- Ibid, fol. 5r-5v.
- Siehe die aktuellen Forschungen zum konfessionellen Konflikt um Begräbnisstätten im 16. und 17. Jahrhundert: Luria, Keith P.: Les frontières du sacré, in: Chrétiens et Sociétés 15 (2008); Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany (Christianity and Society in the Modern World), London/New York 1997, 133-182; Koslofsky, Craig: ‘Pest’ – ‘Gift’ – ‘Ketzerei’. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: Jussen, Bernhard/Ders. (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400-1600 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), Göttingen 1999, 193-208; Brademann, Jan/Freitag, Werner (Hg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in den ländlichen Gesellschaften der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19), Münster 2007. Aktuell zu Sterbekulturen in der Frühen Neuzeit vgl. Thiessen, Hillard von: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht, in: HZ 295 (2012), 625-659.
- Burg, Christian von: “Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen”. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung, in: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, hg. v. Peter Blickle (HZ Beihefte 33), München 2002, 117-141, hier 133.
“Faire société / Ligaturen des Sozialen” – Deutsch‐Französische Sommerschule für Nachwuchswissenschaftler/innen (10.-14.09.13; Bewerbung bis 17.02.13)
Wie kommt es, dass menschliches Zusammenleben in der Regel – erstaunlicherweise! – einigermaßen reibungslos funktioniert, dass es nicht in Chaos und Anomie versinkt? Die zunächst ebenso einfache Antwort lautet: Soziale Ordnung – mit anderen Worten: Gesellschaft – wird durch Institutionen … Weiterlesen