Wissen in der ländlichen Gesellschaft, Essen 14.-16. Juni 2013

Das Thema der diesjährigen Sommertagung – „Wissen in der Landwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft“ – stellt keinen zentralen Bereich meines Projektes dar, und das ist auch der Grund, weshalb ich von vorneherein nur als Zuhörerin und Diskutantin nach Essen fahren wollte.

Zunächst vorneweg: Die Tagung war toll. Der Tagungsort, das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) in Essen, ist ideal für solch eine Veranstaltung, die auch viel auf Gespräche setzt, außerdem ist die Lage natürlich unschlagbar – gute zehn Fußminuten vom Essener Hauptbahnhof entfernt. Außerdem habe ich schon lange keine Tagung mehr erlebt, die so bunt gemischt war, was die methodischen Richtungen, die untersuchten Epochen und auch das Alter der Beteiligten anging. Gleichzeitig war die Gesprächsatmosphäre sehr angenehm. Vielleicht denke ich noch mal genauer darüber nach, warum die Kommunikation in kleinen historischen „Nischen“ häufig so angenehm ist, wenig hierarchisch und durch ehrliches Interesse an den Forschungen anderer geprägt.

Berlin, Landwirtschaftliche Schulung

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-23203-0003 / CC-BY-SA; Berlin, Landwirtschaftliche Schulung

Es ist kaum möglich, einen wirklichen Bericht über diese Tagung zu schreiben, der jedem einzelnen Beitrag gerecht wird – dafür waren die Vorträge einfach zu divers. Sie erstreckten sich von einer Studie über einen landwirtschaftlichen Ratgeber (oder eine Grundlegung der Agrarwissenschaft) im Kastilien des frühen 16. Jahrhunderts (Stefan Schlelein, Berlin) bis hin zur landwirtschaftlichen Erziehung in Südafrika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Julia Tischler, Berlin), von der Hühnerzucht in Ostwestfalen (Ulrike Heitholt, Bielefeld) bis zum Medien- und Akteurswandel am Ende der Epoche der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft (Beat Bächi, Bern). Literaturwissenschaftliche, transfergeschichtliche, ethnologische und epistemologische Ansätze waren vertreten, die Spanne reichte von sehr mikrogeschichtlichen Untersuchungen bis hin zu allgemeineren konzeptionellen Überlegungen zur Konturierung bestimmter historischer Epochen.

Einige der Vorträge möchte ich gerne noch einmal genauer diskutieren.

Das wäre zuerst einmal der Vortrag von Alexander van Wickeren (Köln): „Zirkulation des Wissens über den Tabakanbau im Elsass um 1800“. Ich habe mich sehr gefreut, Alexander wiederzutreffen, den ich letzten Herbst am DHI in Paris kennengelernt habe. Er beschäftigt sich in seiner Dissertation mit dem Wissen über den Tabakanbau in Baden und im Elsass um 1800. Dabei interessiert ihn vor allem die Zirkulation von Wissen in Grenzräumen; wie bilden sich grenzübergreifende Wissensnetzwerke heraus? Interessant war der Vortrag vor allem deshalb, weil Alexander deutlich machen konnte, dass der „Grenzraum“ Elsass-Baden zumindest in Bezug auf den Tabakanbau um 1812 zunächst nicht als eigener Raum in Erscheinung tritt. Vielmehr funktioniert die Vernetzung der Tabakexperten über Organisationen, und deren Kommunikation ist nicht durch regionale Nähe determiniert, sondern es bildet sich eine spezifische Geographie des Tabakwissens heraus – mit Verbindungen etwa in die Niederlande und bis nach Amerika.

Den Auftakt am zweiten Tagungstag machte Dana Brüller aus München, ebenfalls mit einer sehr wissensgeschichtlichen Ausrichtung: „Auf der Suche nach dem Urweizen: Botanisches und agrarwissenschaftliches Wissen zwischen Ideologie und Anwendung in Palästina (1900-1930)“, einem Thema an der Schnittstelle von Wissenschafts- und jüdischer Geschichte. Überzeugend konnte sie deutlich machen, wie eng die Bereiche Botanik, Landwirtschaft und Siedlung in Palästina miteinander verbunden waren und welche überragende Bedeutung der Botanik als „Science of Settlement“ zukommt. Interessant fand ich auch in ihrem Vortrag die „Territorialisierung“ des Wissens – während das Wissen um den Urweizen als zentral für die zionistische Siedlung galt, war es gleichzeitig in ein internationales Netzwerk botanischer und landwirtschaftlicher Experten eingepasst.

Den Schlusspunkt der Tagung setzte Beat Bächi aus Bern, der das Konzept der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft, das am Archiv für Agrargeschichte in Bern entwickelt worden ist, von seinem historischen Ende her betrachtete. Mit einer medien- und akteursanalytischen Perspektive diskutierte er die Faktoren, die dazu beitrugen, dass spätestens in den 1980er Jahren die enge Verkopplung von Landwirtschaft und Wissenschaft aufbrach. Die Kommunikationsgemeinschaft von Praktikern und Wissenschaftlern kam an ihr Ende, die Wissensformen wurden zunehmend inkommensurabel, und auch die Habitus der Beteiligten veränderten sich. Mit diesen Überlegungen zum Ende der agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft machte Bächi deutlich, dass die Wissensgesellschaft nicht teleologisch gedacht werden sollte. Statt von einem stetigen Ausweitungsprozess der Verwissenschaftlichung auszugehen, muss Wissensgeschichte auch die diskontinuierlichen Veränderungen sozialer Welten im Auge behalten.

Schlussendlich scheint mir die Bemerkung von Verena Lehmbrock (Jena) bei der Podiumsdiskussion zu den Chancen der Wissensgeschichte für die Agrargeschichte ein gutes Fazit unter die Veranstaltung zu setzen: Die Frage ist nicht so sehr, was die Wissensgeschichte der Agrargeschichte gibt (viel!), sondern vor allem auch, wie die Wissensgeschichte von der Agrargeschichte profitieren kann. Die Beschäftigung mit Wissen in ländlichen Gesellschaften lenkt den Blick auf viele Schwierigkeiten der Vermittlung und Produktion, auf die Hierarchie verschiedener Wissensformen und das Scheitern von Wissenskommunikation, während eine „allgemeine“ Wissensgeschichte über diese Punkte manchmal zu schnell hinweggeht. Die Geschichte ländlicher Gesellschaften (wie ich ja die „Agrargeschichte“ lieber nennen würde) tut also gut daran, sich stärker als allgemeine Geschichte zu präsentieren und zu kommunizieren.

Das Internet gibt die Möglichkeit zum zeitnahen Publizieren – ja, okay. Leider muss man aber auch die Zeit finden, ganz zeitnah etwas zu schreiben – das klappt offenbar bei mir weniger gut. Deshalb kommt erst jetzt der Bericht zur Tagung der Gesellschaft für Agrargeschichte, die schon vor rund einem Monat stattgefunden hat.

Quelle: http://uegg.hypotheses.org/71

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Wenn Physiker Voynich-Forschung betreiben

Nein, das geht hier gar nicht gegen Physiker im Allgemeinen – das könnte ich mir schon allein deswegen nicht erlauben, weil ich mit zwei von ihnen das Kneipenlog gegründet habe. Der Titel ist nur eine Anlehnung an den Artikel von Ben Zimmer, der Anfang des Jahres im Boston Globe erschien (“When physicists do linguistic”) und in dem recht anschaulich dargestellt wird, dass Fachfremdheit nicht immer ein Vorteil sein muss. Ich las mal die Anekdote, dass die Soziologin, die gewisse Dinge nicht erklären kann, diese an die Biologin weiterreicht. Was die Biologie nicht erfassen kann, wird an die Chemie delegiert. Die Chemikerin schließlich nimmt alles, was nicht in ihr Modell passt und schanzt es der Physikerin zu, die dann leider niemanden mehr hat, an den sie Unklarheiten weitergeben kann.* So ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Voynich Manuskript (VMS, ich schrieb schon mehrfach darüber), mittlerweile schon über 100 Jahre völlig unverstanden, inzwischen auch bei den Physikerinnen gelandet ist, die es nun mit ihren Methoden untersuchen. Das ist auch gar nicht so falsch, das Lustige am Voynich-Manuskript ist ja, dass jede|r daherkommen und irgendwelche Analysen anstellen kann – schließlich sind bisher noch nicht wirklich viele Fortschritte geleistet worden, auf die man sich irgendwie beziehen müsste (man verzeihe mir den Sarkasmus).

So sind kürzlich gleich zwei wissenschaftliche Studien erschienen, die relativ ähnlich geraten sind (schließlich stecken hinter beiden Autoren aus der Physik, man verzeihe mir auch noch, dass ich sie hier beide in einen Topf werfe), von denen die eine aber ein sehr viel höheres Maß an Aufmerksamkeit erhielt – inklusive BBC-Bericht, Spiegel-Online-Artikel, Klaus Schmehs Kryptologieblog usw. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie in der inzwischen (erfreulicherweise) sehr renommierten Open Access Zeitschrift PLOS ONE erschienen ist.1 Sie ist damit Peer Reviewed, was für die andere Studie, die bei ArXiv.org hochgeladen wurde, offenbar noch nicht gilt.2

Beide Studien untersuchen den Text des VMS, indem sie informationstheoretische Maße auf ihn anwenden. Das ist tatsächlich auch eine gute Idee, schließlich entband Claude Shannon den Informationsbegriff von allem semantischen Ballast, so dass man den Informationsgehalt einer Nachricht (hier des VMS-Textes) auch untersuchen kann, wenn man keinen Plan hat, was deren Inhalt ist. Ein Großteil der Experimente meiner Dissertation hatten genau diese Zielrichtung, jetzt machen das also ein paar Physiker.

Voynich Manuscript (178)

Drei der Seiten aus dem “geheimnisvollsten Manuskripts der Welt”

Und, was finden die Herren (ja, dem Namen nach sind das ausschließlich Herren) Physiker so heraus? Dass die untersuchten informationstechnologischen Maße (die Autoren der PLOS-ONE-Studie untersuchen gar nur eins) dafür sprechen, dass der VMS-Text eine Nachricht enthält und keine sinnlose Aneinanderreihung von Phantasiewörtern ist. Woraus schließen sie das? Daraus, dass die Eigenschaften des VMS-Text eher mit denen von Texten natürlicher Sprachen vergleichbar sind, als mit

  • einem Text, verfasst in der Programmiersprache Fortran
  • Pilz-DNA (beides PLOS-ONE-Studie) oder
  • computationell erzeugten Zufallsfolgen (ArXiv-Studie).

Ach. Wer hätte gedacht, dass etwas, das von einem Mittelalter/Frühneuzeitmenschen geschrieben wurde (die Außerirdischentheorie lasse ich mal außer acht), eher einer natürlichen Sprache als verschriftlichen Algorithmen, einer computergenerierten Zufallsfolge oder der Basenabfolge von Pilz-DNA entspricht?

Dass am Ende mit Schlussfolgerungen, die weitestgehend daneben sind, so geklingelt wird, ist wirklich ärgerlich. Die beiden Studien sind teilweise wirklich innovativ, die Ergebnisse wären allerdings sehr viel besser als Grundlage für weitere Forschungen nutzbar, wenn die durchgeführten Experimente vielleicht irgendwo mit Software und Daten zugänglich wären. Tut mir leid, dass ich da so oft drauf hinweise. Aber es wird einfach nicht besser, auch wenn alle Welt von Open Science redet. Die Art, wie im PLOS-ONE-Artikel die betreffenden Formeln für die Berechnung versteckt werden, halte ich persönlich auch für eine Frechheit. Wenn schon die Schlussfolgerungen für die Tonne sind, hätte man hier bei mir einige Punkte holen können.

So aber muss ich den Autoren ihre Werte entweder glauben oder die Formeln zusammensuchen, selbst implementieren und am Ende wahrscheinlich feststellen, dass ich andere Werte herausbekomme. Ich hätte auch keinen Plan, welche Transkription ich denn verwenden soll, beide Studien verweisen darauf, dass sie mit der “EVA-Transkription” arbeiten. Das ist allerdings nur das Transkriptionsalphabet, darin sind mehrere Transkriptionen unterschiedlicher Voynich-Forscher verfasst, die teilweise stark voneinander abweichen. Sie sind in einem Archive-File zusammengefasst, das, wenn man es falsch ausliest, für völlig wirklichkeitsfremde Ergebnisse sorgt. Weshalb ich mich darum sorge? Weil die Autoren teilweise eine beängstigende Unkenntnis an den Tag legen, was Spracheigenschaften angeht. Ein Beispiel aus der ArXiv-Studie: Es gibt die Vermutung, dass der VMS-Text in einer Kunstsprache verfasst ist, deswegen vergleichen wir seine Eigenschaften mal mit Esperanto. Zamenhofs Esperanto ist aber eine synthetische Sprache a posteriori, also nach natürlichsprachlichem Vorbild angelegt. So eine Kunstsprache unterscheidet sich fast gar nicht von natürlichen Sprachen. Beim VMS-Text gibt es die Vermutung, er basiere auf einer Kunstsprache a priori, die abweichend von natürlichsprachlichen Vorbildern entworfen wurde (da schreibe ich auch mal was zu). Die Untersuchung von Esperanto ist also genauso irreführend wie sinnlos. Es gibt noch eine Menge Punkte mehr, die ich ansprechen könnte, aber der Post ist eh schon zu lang. Glaubt nur Statistiken, die ihr selbst gefälscht habt. Oder denen, die ihr reproduzieren könnt.

Ja, da hat der Hermes aber wieder viel zu mosern, werdet ihr jetzt wohl sagen. Weshalb reicht er denn nicht einfach mal selbst was ein? Und ja, da habt ihr Recht. Ich werde nach dem Semester wohl mal einen Versuch wagen, meine P.III-Hypothese in einem englischsprachigen Magazin unterzubringen. Mit Daten und Experimenten. :)

_________________________________

1 [Montemurro MA, Zanette DH (2013): Keywords and Co-Occurrence Patterns in the Voynich Manuscript: An Information-Theoretic Analysis. PLoS ONE 8(6): e66344.]

2 [Diego R. Amancio, Eduardo G. Altmann, Diego Rybski, Osvaldo N. Oliveira Jr., Luciano da F. Costa: Probing the statistical properties of unknown texts: application to the Voynich Manuscript. arXiv:1303.0347]

* Noch eine wichtige nachträgliche Ergänzung eines Twitter-Kollegen, nebst meiner Antwort:

 

 

Quelle: http://texperimentales.hypotheses.org/939

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Semiologische Anmerkungen zur zirkulierenden Referenz

Seit dem ich mit Bruno Latours Schriften in Kontakt gekommen bin, erlebe ich immer zweierlei: die Fruchtbarkeit seiner soziologischen Perspektive und ein latentes Unbehagen gegen seinen oft flapsigen Stil und die Ungenauigkeit seiner Polemik. Daraus ergeben sich immer wieder die Fragen der Kompatibilität und der wechselseitigen Bereicherungsmöglichkeiten mit meiner eigenen Perspektive. Bezeichnenderweise ausgelöst durch den Workshop „Unsicheres Wissen“ der GfM-AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung ausgerichtet in Kooperation mit den DFG-Graduiertenkollegs „Automatismen“, „Das Reale in der Kultur der Moderne“ und „Locating Media“ in Paderborn wurde eine Latour-Lektüre wieder wachgerufen und suchte danach das latente Unbehagen zu konkretisieren. Es handelt sich um einen relativ alten aber in der Medienwissenschaft kulturwissenschaftlicher Provenienz immer noch prominenten Aufsatz oder – wie Latour selbst ihn nennt – „foto-philosophischen Essay“ (Latour 2002, 38), der synoptisch oft als ‚Pedologenfaden‘ angesprochen wird. Als zweiter Teil der Hoffnung der Pandora, die 1999 auf Englisch das erste Mal und 2002 in deutscher Übersetzung erschien, bespricht der Essay Zirkulierende Referenz eine Feldforschung eines Pedologen, einer Botanikerin, einer Geomorphologin und einem Anthropologen (Latour) in Boa Vista (Brasilien), die der Frage nachgeht, ob der Regenwald in die Savanne vordringt oder die Savanne in den Regenwald, und die 1991 in einem Expeditionsbericht ihren ersten vorläufigen Abschluss bekommt. Dass die Lösung wahrscheinlich weder eine genuin botanische noch eine geomorphologische oder pedologische ist, kann gleich vorweggenommen werden. Am Ende des Expeditionsberichts steht die starke Vermutung, dass es die Regenwürmer sind, die den Übergangsbereich prägen, und es steht die Aufgabe, dieser Vermutung durch eine weitere Expedition nachzugehen.

Latour nimmt als Teilnehmer der Expedition diese interdisziplinäre Auseinandersetzung und Zusammenarbeit zum Ausgangspunkt, – wie es der Titel schön verrät – die philosophische Frage nach der Referenz zu klären. Wie er das tut, ist für die praxeologische Medienwissenschaft von starkem Interesse, das Ergebnis einer Kritik an einem alten philosophischen und zeichentheoretischen Modell vielleicht weniger, aber das kann auch eine linguistische Fehleinschätzung sein. Mit einer linguistischen Perspektive jedenfalls neigt man wohl dazu nicht zuvorderst die praxeologische Rekonstruktion zu fokussieren, sondern das Schwergewicht auf die referenztheoretischen Schlussfolgerungen zu legen, gerade weil die Linguistik sich seit ihren philosophischen Anfängen in der Antike mit zeichentheoretischen Modellen rumschlägt, sich an ihnen abarbeitet und sie – auch seit ihrer pragmatischen Wendung – adäquat zu konzeptualisieren. Dieses Schwergewicht zu legen, ist aber nicht angemessen, wenn man einer fruchtbaren Verbindung zwischen praxeologischer Medienforschung und pragmatischer Sprachforschung nachgehen will und wird auch Latours Entwurf einer zirkulierenden Referenz nicht gerecht.

Genau um diesen Entwurf soll es hier gehen und dabei um die Frage, wie angemessen er aus der Sicht einer pragmatischen Semiologie erscheint. Die zentrale Frage, die sich mit dem Begriff der Referenz stellt und die auch Latour neu zu fassen versucht, ist ja die, wie die Beziehung zwischen Welt und Zeichen zu denken ist. Interessant ist dabei, welche Nachbarn er diesen beiden Begriffen im Laufe seiner Ausführungen zur Seite stellt:

    • Welt: Materie, materiell, Ding, Gegenstand, Sachverhalt,
    • Zeichen: immateriell, Form, Aussage, Geist, Idee.

Im ‚klassischen‘, weithin semiotischen (nicht semiologischen!) Modell[1] schlägt die Operation des Referierens eine Brücke zwischen diesen beiden als abschlossen gedachten Sphären, sie überwindet die Kluft oder den Bruch zwischen Welt und Zeichen und ermöglicht einen Abgleich mit der ‚Wirklichkeit‘. Auf Seite 84f. bringt er das kanonische Modell und im Kontrast dazu seinen Entwurf auf den Punkt:

„Die Sprachphilosophie tut so, als gäbe es zwei Ensembles, die nichts miteinander zu tun haben und durch einen einzigen, radikalen Schnitt getrennt sind (Abbildung 2.20). Sie tut so, als müßte man sich darum bemühen, ihn zu reduzieren, indem man nach einer Korrespondenz, einer Referenz zwischen der Welt und den Worten sucht. Wenn wir jedoch unserer Expedition folgen, kommen wir zu einem ganz anderen Schluß (Abbildung 2.21). Wie man sieht, beruht die Erkenntnis nicht auf einer Gegenüberstellung von Geist und Gegenstand, so wenig die Referenz eine Sache durch einen Satz bezeichnet, der sich durch die Sache verifizieren ließe. Im Gegenteil, wir sind bei jedem Schritt auf einen gemeinsamen Operator gestoßen, der die Extreme von Materie und Form verbindet und der sich vom folgenden Schritt durch einen Bruch unterscheidet, durch ein gap, das durch keinerlei Ähnlichkeit überbrückt werden kann. Diese Operatoren verketten sich zu einer Serie, die quer zu der Differenz zwischen den Dingen und den Worten steht. Entlang dieser Serie mischen sich die beiden alten Ensembles der Sprachphilosophie neu: Die Erde wird zu einer Pappschachtel, die Worte werden zu Papier, die Farben werden zu Chiffren und so weiter.“ (ebd., 84f.; Herv. als fett von mir)

Im letzten Satz spielt er dabei auf die umfangreichen und detaillierten Ausführungen an, die dem vorausgehen, und die die „Praxis“ der Wissenschaftler rekonstruiert als „Hybride zwischen einer Form, einer Materie, geschickten Körpern und Gruppen“ (ebd., 70).[2] Die Pappschachtel spielt dabei auf den sog. Pedokomperator an, einem Bodenproben versammelnden und ordnenden Kasten, mit dem es möglich ist, einen Querschnitt des Bodens synoptisch sichtbar und transportierbar zu machen. Das Papier thematisiert diverse Notationen und die chiffrierten Farben ein Lochkartensystem, das es erlaubt, Bodenproben mit dem standardisierten Munsell-Code vergleichbar zu machen.

Latours Entwurf verwandelt also den einen großen Bruch des klassischen Modells in ganz viele kleine Brüche, die bei jeder Übersetzung oder Transformation von ‚Form‘ in ‚Materie‘, nicht aber bei der Übersetzung von ‚Materie‘ in ‚Form‘ überwunden werden:

„Man bemerkt, daß jedes beliebige Glied der Kette von seinem Ursprung her auf die Materie und von seiner Bestimmung her auf die Form bezogen ist; daß es aus einem konkreten Ensemble herausgenommen wird, um dann im nächsten Schritt selbst wieder als zu konkret zu erscheinen. Niemals läßt sich ein scharfer Bruch zwischen den Dingen und den Zeichen feststellen. Und niemals stoßen wir auf eine Situation, in der willkürliche und diskrete Zeichen einer gestaltlosen und kontinuierlichen Materie aufgezwungen würden. Immer sehen wir nur eine kontinuierliche Reihe von ineinandergeschachtelten Elementen, deren jedes die Rolle eines Zeichens für das vorhergehende und die eines Dings für das nachfolgende Element spielt. […] In der Tat, wenn wir alle diese Bilder an uns vorbeiziehen lassen, so bemerken wir, daß jede Etappe, so genau meine Untersuchung auch sein mag, durch einen totalen Bruch mit der jeweils vorangehenden und folgenden gekennzeichnet ist.“ (ebd., 71; Herv. als fett von mir)

Diese Verschachtelung versucht dann auch sein Schaubild sinnfällig zu machen. Dabei wird eine lineare Kette von ineinandergeschobenen Materie-Form-Einheiten als in beide Richtungen unendliche Verkettung (∞) dargestellt.[3]

Kanonisches Referenzmodell und zirkulierende Referenz (aus Latour 2002, 85)

Damit wird – mehr beiläufig als dezidiert – zum Ausdruck gebracht, dass der Akt des Referierens niemals auf eine Welt jenseits von Materie-Form-Einheiten zeigt, sondern immer auf weitere letztlich Zeichen(komplexe) verwiesen bleibt. Das macht auch sinnfällig, warum Latour den Referenz-Begriff nur etymologisch ‚retten‘ kann: „Wir vergessen immer, daß das Wort »Referenz« vom lateinischen Verb referre abgeleitet ist, was so viel wie »herbeischaffen« heißt. Ist der Referent das, worauf ich mit dem Finger zeige und was außerhalb des Diskurses bleibt, oder das, was ich in den Diskurs hereinhole?“ (ebd., 45) Inferenz scheint aus der semiologischen Perspektive der viel passendere Begriff zu sein, da er darauf abhebt, wie Schlüsse auf Basis von Beziehungen zwischen Zeichen gezogen werden und nicht auf Basis eines Abgleichs mit einer Welt jenseits von Zeichen (vgl. Jäger 2008), als wartete „die »wirkliche« Katze […] brav auf ihrer Matte, um den Satz zu bestätigen: »Die Katze sitzt auf der Matte.«“ (Latour 2002, 62) Es handelt sich also um Operationen, die Latour in seiner gesamten Studie auch en détail herausarbeitet (s.u.). Hier soll aber keine Terminologieklauberei vorgenommen werden.

Wie das oberste, eingerückte Zitat zum Ausdruck bringt, könnten nach Latour die beiden Bereiche ‚Welt‘ und ‚Zeichen‘ nicht getrennt voneinander gedacht werden, sondern mischten sich in jeder Materie-Form-Einheit, die von der nächsten Materie-Form-Einheit durch einen Bruch gekennzeichnet sei: „Jeder Schritt ist Materie für den, der folgt, und Form für den, der voraufgeht. Der Bruch zwischen den beiden ist jeweils ebenso deutlich wie der alte Abstand zwischen den alten Worten und den alten Dingen.“ (ebds., 90) Mit ‚Schritt‘ ist hier der Prozess gemeint, der die Verbindung stiftet zwischen Materie und Form und die in einigen Hinsichten als Konvention(alisierung) (z.B. in Hinsicht auf Sprache) und in anderen Hinsichten als Standard(sierung) (z.B. in Hinsicht auf den von Latour erwähnten Farbcode) zu begreifen ist. Ein Prozess, der notwendigerweise auf Materialität angewiesen ist, um eine gesellschaftliche Verfestigung erlangen zu können. So wurde innerhalb der Sprachwissenschaft im Zuge der Spur-Debatte und gegen z.B. Konzeptionen des Cours-Saussure oder des Chomsky-Kognitivismus die unabdingbare und voraussetzende Qualität der Materialität von Sprache zuvorderst natürlich der gesprochenen aber ebenso auch der geschriebenen und gebärdeten Sprache hervorgehoben. So verweist Jäger (2010, 316) in zahlreichen Arbeiten auf das sog. „Spur-Prinzip“ hin:

„Sowohl die begriffliche Ausdifferenzierung der Welt als auch die Herausbildung des Bewusstseins, das sich auf sie bezieht, sind ohne den medialen ‚Umweg‘ semiologischer Selbstlektüre und zeichenvermittelter Interaktion mit anderen, d.h. ohne intra- und intermediale Bezugnahmen, nicht möglich.“

Nur über den (rhetorischen) Umweg der materiellen Vermitteltheit kann sich Bedeutung im gesellschaftlichen Zusammenhang stabilisieren. Oder kurz: Tote Materie kann nur bedeutsam werden, wenn sie von Gesellschaften/Gruppen/Paaren als bedeutsame Materie Verwendung findet, also in und durch Praktiken als bedeutsame Materie herausgebildet wird. So ist Materie, die in eine Praktik eingebunden wird, immer schon Form und jenseits dieser Förmigkeit (also der Zeichenhaftigkeit) nicht ver-handel-bar. Die ‚alte‘ Kluft zwischen unbedeuteter Materie und bedeutender Sprache ist also weiterhin intakt, da unbedeutete, unbeobachtete, ontische Materie oder Materie ‚an sich‘ nie Eingang in eine Praktik finden kann, ohne vorher bedeutsam geworden zu sein.

Gerade dies scheint Latour aber nicht zu teilen, wenn er schreibt: „Entlang dieser Serie [gemeint ist die Verkettung, die im Schema symbolisiert wird] mischen sich die beiden alten Ensembles der Sprachphilosophie neu: Die Erde wird zu einer Pappschachtel, die Worte werden zu Papier, die Farben werden zu Chiffren und so weiter.“ (Latour 2002, 84f.) Vielmehr scheint er das alte Modell nur auf die Seite zu kippen, um dann zweierlei zu tun: Einerseits leugnet er den Bruch, wenn er Materie-Form-Einheiten als Vermischung zweier im kritisierten Modell als getrennt konzeptualisierten Bereiche oder Ensemble beschreibt. Andererseits rehabilitiert er den großen Bruch zwischen diesen beiden Bereichen als vervielfältigte kleine Brüche, die zwischen den Materie-Form-Einheiten durch einen Übersetzungs- oder Transformationsprozess überwunden werden, dabei aber – wie oben schon zitiert – füreinander in die eine Richtung ‚Materie‘, in die andere Richtung ‚Form‘ seien. Warum aber die eine Operation, die oben als Konventionalisierung oder Standardisierung bezeichnet wurde und die andere Operation, die Latour als Übersetzung oder Transformation bezeichnen würde, grundsätzlich unterschiedliche ontologische Status haben sollten, wird aus semiologischer Perspektive nicht plausibel.[4] Denn warum sollte die Verprobung des Bodens eine andere Semiopraxie vollziehen als die Codierung der Probe, als die schriftliche Notation oder als die Vergraphung der codierten Probe usf.?

Was aber plausibel wird und in der semiologischen Perspektive – soweit ich das überblicken kann – weithin ausgeblendet wird, sind die Praktiken, die von einer Materie-Form-Einheit zur nächsten Materie-Form-Einheit, also von einem Zeichen zum nächsten Zeichen die notwendigen materialen Veränderungen herbeiführen und so den Übersetzungsprozess im Latourschen oder den Transkriptionsprozess im Jägerschen Sinne also ermöglichen. Und es ist wenig verwunderlich, dass dies eine philosophische Perspektive, wie sie z.B. Jäger vertritt, nicht im Blick hat, wenn die „Verzeichnung“ der Welt (Fehrmann 2004) auf Sprache und (seltener) Sprachhandeln fokussiert bleibt. Um mit Sprache auf Sprache Bezug zu nehmen, muss nicht ein Gelände ausgemacht, der Boden vermessen und gerastert und geöffnet, müssen nicht Proben entnommen und geformt und vielfältig codiert werden. Die linguistische bzw. die sprachphilosophische Perspektive setzt meist erst da an, wo der Artikel schon geschrieben ist. Die medienwissenschaftliche Perspektive fokussiert dabei zu Recht die Praktiken, die der linguistischen Perspektive entgehen. Zusammen sind Diskurs und Praktik in wechselseitiger Voraussetzung zu verstehen.

Der Pedokomperator ist dafür das ideale Beispiel: Ein schon für den beobachteten Übergang als repräsentativ eingestufter Boden wird an mit dem Pedologenfaden vermessenen Stellen mit dem Spaten geöffnet, um mit einem Bohrer eine Probe zu entnehmen, die dann in eine kubische Form gebracht werden muss, um im Pedokomperator ihren Platz finden zu können und synoptisch die Veränderungen im pedologischen Horizont sichtbar werden zu lassen. Die Praktiken der Wissenschaftler bringen mittels unterschiedlicher (Körper-)Techniken Zeichen unterschiedlicher materialer Qualität hervor und verketten sie über die fortwährende, lokale Einfädelung in die globalen Diskurse.

 

Fehrmann, Gisela (2004): Verzeichnung des Wissens. Überlegungen zu einer neurosemiologischen Theorie der sprachgeleiteten Konzeptgenese. München: Fink.
Gießmann, Sebastian (2009): Debatte: Kulturwissenschaft und Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. S. 111–112.
Jäger, Ludwig (1994): Die Linguistik des Innern. Historische Anmerkungen zu den zeichen- und erkenntnistheoretischen Grundlagen der kognitivistischen Sprachwissenschaft. In: Jäger, Ludwig/Switalla, Bernd (Hg.): Germanistik in der Mediengesellschaft. München: Fink. S. 291–326.
Jäger, Ludwig (2008): Indexikalität und Evidenz. Skizze zum Verhältnis von referentieller und inferentieller Bezugnahme. In: Wenzel, Horst/Jäger, Ludwig (Hg.): Deixis und Evidenz. Freiburg i.Br.: Rombach. S. 289–315.
Jäger, Ludwig (2010): Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität. Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis. In: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin, New York: de Gruyter. S. 301–323.
Latour, Bruno (2002): Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas. In: ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 36–95.
Schüttpelz, Erhard (2006): Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken. In: Archiv für Mediengeschichte No. 6: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?). S. 87–110.

[1] Vgl. Jägers (1994) Herausarbeitung einer semiotischen und einer semiologischen zeichentheoretischen Traditionslinie.

[2] Medientheoretisch reformuliert findet sich diese Heuristik in Schüttpelz’ (2006) Entwurf einer Medienpraxeologie.

[3] „Die Kette hat weder auf der einen noch auf der anderen Seite ein Ende. Während im alten Modell […] sowohl die Welt als auch die Sprache geschlossene Ensembles bleiben, die beide in sich selbst zurückliefen, kann man im neuen Modell im Gegenteil die Kette endlos verlängern, indem man ihr an beiden Ende neue Glieder hinzufügt.“ (Latour 2002, 86)

[4] „Zeichnet sich deren Denkstil [der der ANT] nicht durch eine unterkomplexe, aber pragmatisch durchführbare Semiologie aus, die deutlich hinter den zeichentheoretischen Wissensstand der Kulturwissenschaften zurückfällt?“ (Gießmann 2009, 111)

Quelle: http://metablock.hypotheses.org/46

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Pofallas Briefkopf – Aktenkunde und zeitgenössische Dokumentenfälschungen

Die Diplomatik, hier verstanden als klassische Urkundenlehre, war zuerst eine praktische Wissenschaft, bevor sie eine Hilfswissenschaft der Geschichtsforschung wurde. Discrimen veri ac falsi, die Entlarvung von Urkundenfälschungen, war in der Frühen Neuzeit eine Kunst von eminentem politischem und staatsrechtlichem Wert.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass die Aktenkunde als jüngere Schwester der Diplomatik diese Entwicklungsstufe übersprungen habe. In der Tat sorgt bereits die Überlieferung im Registraturzusammenhang dafür, dass der Echtheitsbeweis für das einzelne Aktenschriftstück bei der historischen Auswertung kaum je angetreten werden muss. Ganz verloren hat sich diese Aufgabe freilich nicht, und das Instrumentarium ist dafür vorhanden.

Im Februar 2013 berichtete die „Zeit“ über ein angeblich vom Chef des Bundeskanzleramtes, Ronald Pofalla, stammendes Schreiben an die Vorsitzende des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Folgt man dem Wortlaut, so hätte Pofalla massiven Druck auf den Ausschuss ausgeübt. Das Bundeskanzleramt wie die Ausschussvorsitzende bezweifelten umgehend die Echtheit des Stücks, und auch die “Zeit” blieb skeptisch. Es wurde Strafanzeige wegen Urkundenfälschung erstattet.

Die Argumentation gründet zum einen im Registraturzusammenhang (Pofalla sei nach Aktenlage nie mit dem Thema befasst gewesen), zum anderen auf formalen Merkmalen, mit denen wir in den Bereich der Aktenkunde kommen. Auch ohne das Stück zu kennen, lässt sich das discrimen veri ac falsi an diesem Beispiel zeitgeschichtlicher Aktenkunde ansatzweise durchspielen.

Wie also hat muss man sich das Schriftstück anhand des „Zeit“-Berichts vorstellen? Das Layout von Schreiben Oberster Bundesbehörden ist allgemein bekannt: Links oben im Kopf müsste das Signet der Bundesregierung stehen: Ganz links der Bundesadler in der 1997 eingeführten „dynamischen“ Gestaltungsvariante (Laitenberger/Bassier 2000: 13), rechts daneben ein schmaler, schwarz-rot-goldener Balken und wiederum rechts daneben die Behördenfirma, hier also „Bundeskanzleramt“, sofern nicht die personalisierte Variante mit der Amtsbezeichnung „Der Chef des Bundeskanzleramtes“ gewählt wird. Folgt man der „Zeit“, so stand „Bundeskanzleramt“ im Kopf. Während bei normalen Schreiben der obersten Bundesbehörden nur der Name des zeichnenden Bearbeiters genannt wird, gibt es für Schreiben hoher Amtsträger eine Personalisierungsmöglichkeit durch ein Namensfeld am rechten Rand im oberen Seitendrittel. Hier wäre zu erwarten „Ronald Pofalla MdB, Bundesminister“, oder ähnliches.

In jedem Fall firmiert der „ChefBK“ auf dem Kopfbogen seines Amtes selbstverständlich mit dessen Adresse (Willy-Brandt-Str. 1). Das der „Zeit“ zugespielte Schreiben führte, der Berichterstattung zufolge, als Absenderangabe aber das Mitglied des Deutschen Bundestages Pofalla mit seinem Abgeordnetenbüro an (im Jakob-Kaiser-Haus des Bundestages, Platz der Republik 1). Den Praktikern im Bundeskanzleramt ist dieser Fehler natürlich sofort aufgefallen. Um einen zentralen Forschungsbegriff zu verwenden: Das Stück ist offensichtlich nicht kanzleigemäß. Unter der Kanzleimäßigkeit eines Schriftstücks verstehen wir die „Übereinstimmung mit den jeweils aktuellen Normen der ausstellenden Kanzlei“ (Vogtherr 2008: 63).

Wäre Pofalla in seinem Amt als MdB Urheber des Schreibens, so würde dies einen weiteren, augenfälligen Verstoß gegen die Kanzleiregeln implizieren: einen falschen Adler.

Heraldisch gibt es nur „den“ Bundesadler. Die moderne Staatssymbolik weicht insofern von der klassischen Heraldik ab, als dass sie für einzelne Anwendungsbereiche unterschiedliche gestalterische Ausführungen des Wappens bzw. des Wappenbildes vorsieht. Das „Grundmodell“ des Bundesadlers wurde durch eine Bekanntmachung des Bundespräsidenten festgelegt und ist identisch mit dem Weimarer Reichsadler. Für die Ausführung zu amtlichen Zwecken sind „die im Bundesministerium des Innern verwahrten Muster … maßgebend“ (Bundesgesetzblatt 1950 S. 26. Vgl. Hattenhauer 1990: 121 f.). Diese Muster zeigen den 1927 von Tobias Schwab gestalteten Weimarer Reichsadler (Laitenberger/Bassier 2000: Tafel I. Vgl. Hartmann 2008: 501). Die leicht abgewandelte Variante für das heutige Signet unterscheidet sich auf den ersten Blick nur durch das ausgestellte Gefieder, das schon in Heuss’ Bekanntmachung für die Darstellung des Adlers außerhalb des Wappenschilds vorgeschrieben wird (auf der Website des BMI lässt sich der Signet-Adler oben links gut mit dem Adler des Bundeswappens vergleichen).

Während die Bundesbehörden also Schwabs Ausführung verwenden, nutzen der Bundestag und seine Mitglieder als Signet aber eine grafische Umsetzung der 1953 von Ludwig Gies für die Stirnwand des Plenarsaals geschaffenen Adlerplastik – der sogenannten „Fetten Henne“ (Hartmann 2008: 503–505). In einem Schreiben des MdB Pofalla wäre also dieser Parlamentsadler zu erwarten, dessen Kombination mit der Behördenfirma „Bundeskanzleramt“ im selben Kopfbogen nun völlig kanzleiwidrig wäre.

Wenn wir die heraldischen Elemente pragmatisch unter den „weichen“ Regeln der Staatssymbolik der Gegenwart betrachten, so gilt auch für heutige Behördenschreiben mutatis mutandis die Feststellung: „Insgesamt bildet die Heraldik des Schreibens und die Art ihrer Plazierung einen wichtigen Teil jenes ggf. territorial differenzierten Comments, der als ‚Kanzleistil‘ firmiert“ (Kloosterhuis 1999: 499, Preprint: 29).

Natürlich ist dies alles eine Trockenübung. Der Beweis der Fälschung wird über ordnungsgemäß geführte Akten in der Registratur des Bundeskanzleramtes geführt. Aber stellen wir uns vor, im Abstand von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten wäre die amtliche Überlieferung ganz oder teilweise verloren gegangen, durch Katastrophen oder auch nur archivische Bewertung, und unsere ganze Quellengrundlage zu dem Vorfall sei das der „Zeit“ zugespielte Stück, das im Nachlass eines Journalisten überdauert habe. Spätestens müsste jetzt mit aktenkundlicher Methodik die inneren Merkmale des Schriftstücks untersucht werden.

Discrimen veri ac falsi – eine Aufgabe auch der zeitgeschichtlichen Aktenkunde.

 

Literatur

 

Hartmann, Jürgen 2008: Der Bundesadler. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56: 495–509 (Abstract).

Hattenhauer, Hans 1990: Geschichte der deutschen Nationalsymbole. 2. Aufl. München.

Kloosterhuis, Jürgen 1999: Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium. In: Archiv für Diplomatik 45: 465–563 (Preprint).

Laitenberger, Birgit/Bassier, Maria 2000: Wappen und Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. 5. Aufl. Köln u. a.

Vogtherr, Thomas 2008: Urkundenlehre: Basiswissen. Hannover.

Quelle: http://aktenkunde.hypotheses.org/38

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Soziologischer Wochenrückblick für den Zeitraum 16. – 30. Juni 2013

Unser neuer Call4Papers zum Thema “Krisen und Umbrüche. Wie wandeln sich Gesellschaften?” hat begonnen und ihr seid herzlich dazu aufgerufen, eure Texte einzusenden. Zudem findet ihr neue Buchrezensionen, eine Tagungsankündigung, sowie Konferenzberichte und neue Artikel. Zum Beispiel zum Thema Intersexualität und … Weiterlesen

Quelle: http://soziologieblog.hypotheses.org/5183

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Fotoausstellung zur Geschichte der Freiburger Kartause

Vom 5. bis 20. Juli 2013 wird im Freiburger Zentrum Oberwiehre die Fotoausstellung “Die Kartaus gestern heute morgen” gezeigt. An der Ausstellung mitgearbeitet haben die Abteilung Landesgeschichte des Historischen Seminars der Universität, das Corpus Vitrearum, der Fachbereich Archäologie im Referat Denkmalpflege des Regierungspräsidiums und die Hansjakob-Gesellschaft. Kurz vor der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde die Freiburger Kartause von dem Patrizier Johannes Schnewlin gegründet. 1782 wurde sie aufgehoben. In dem ehemaligen Altenpflegeheim, das der Freiburger Stiftungsverwaltung gehörte, will die Bosch-Stiftung das erste deutsche “United World College” (UWC) [...]

Quelle: http://ordensgeschichte.hypotheses.org/4842

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Young Researchers in Digital Humanities: A Manifesto

YesWeDigitalDeutsche Fassung: Wissenschaftlicher Nachwuchs in den Digital Humanities: Ein Manifest

Version française : Jeunes chercheurs et humanités numérique : un manifeste

Versión española: Jóvenes Investigadores en Humanidades Digitales: un Manifiesto

The Humanities and Social Sciences are a vital component of human culture and offer an essential insight into the world in which we live. The Digital Humanities reflect the transition of the Humanities to the digital age. However, they do not only bring with them new technical means, but also new forms of knowledge creation and dissemination within, across and outside academic disciplines.

In the field of Digital Humanities, experimental practices, reflexivity and the collaborative elaboration of standards are deeply interconnected. They are, therefore, an occasion to rethink and extend the Humanities through new materials, methods and hermeneutics. Furthermore, they represent an opportunity to redefine our relationship to society through open access to cultural heritage and the development of collaborative projects which also engage non-academic audiences. Thus, we see them as pivotal in the future of the Humanities.

Three years ago, over 100 members of this emergent community took part in THATCamp Paris 2010. Together, they wrote the first European Manifesto of the Digital Humanities to express their commitment to this new field of studies. Subsequently, the number of individuals and projects involved has increased significantly, giving them much greater visibility.

The academic world, however, with its institutions, actors and practices has not evolved at the same pace. On the one hand, new modes of research – connected, collaborative, horizontal, multimodal, multidisciplinary and multilingual – are being developed. Digital practitioners are engaged in new activities and work with new tools, building databases, developing software, analysing big datasets, defining conceptual models, collaborating through wikis and pads, communicating through websites, blogs and other social media. On the other hand, research institutions often resist or hinder these changes: training for scholars, funding schemes, evaluation criteria, recruitment and promotion procedures have only marginally evolved and do not seem able to make the most out of the digital environment.

The widening gap between flourishing digital practices and their institutional acknowledgment represent a threat for the academic community as a whole and for young scholars in particular, since it casts uncertainty on their future as research professionals.

On 10-11 June 2013 scholars and other members of the academic community met at the German Historical Institute in Paris to participate in the international conference “Research Conditions and Digital Humanities: What are the Prospects for the Next Generation?”. The conference was preceded by an open “call to join the blogparade”, that is to publish online contributions, in order to collectively and publicly prepare the event.

This manifesto is the result of this process. It emphasises the most important aspects of the challenges and the most pressing institutional needs.

I. General

Young researchers in all disciplines face a high level of job insecurity, the consequences of short-term contracts and the risk of never obtaining permanent positions. Digital humanists feel this pressure even more, due to relatively shorter funding periods, few suitable positions and a lack of clear career perspectives.

  • Long-term career perspectives should be available to early career researchers, engineers, and librarians who engage in Digital Humanities work.
  • Senior researchers should encourage, counsel and support them. This aspect is also stressed in the recommendations of the Young Researchers Forum convened by the European Science Foundation in 2011 (Changing Publication Cultures in the Humanities).
  • Fair principles and clearly-defined guidelines should be established to assess the scholarly relevance of digital collaborative contributions and attribute relevant merit to all participants.
  • The diversity of digital media and publication genres need to be accepted as genuine means of scientific communication.

Significant work by digital humanists remains below the radar of internal and external evaluations: it should not be ignored by their peers.

  • Open Access and Open Data publications need to be encouraged and sustained – by opening up participation, supplying adequate funding and increasing academic recognition.
  • The right to re-publish texts needs to be implemented in European and national law, in order to ensure legal security when engaging in the “green road” in Open Access.

Research and teaching with digital tools require specific skills and infrastructures. To create conditions in which those can deploy, we need:

  • Suitable and sustainable academic infrastructures such as repositories, publication platforms, catalogues, social media networks and blogging portals.
  • A public project database providing national and European information on submitted projects in DH, whether successful or rejected, for better orientation and coordination through greater transparency.
  • Ambitious digital training programs in the Humanities, which should address all generations and all levels of skills and needs. Advanced students, junior and senior researchers need appropriate training.

As humanists we value intercultural dialogue and multilingualism. Publications in English should not be exclusive, but encouraged as a complement to publications in other native languages.

II. Research and higher education institutions

Coherent digital strategies should be developed and sustained in every institution. Academic societies and universities should support early-careers in Digital Humanities through adequate funding periods, promotion of tenure and long-term sustainability both for researchers and technology. They should foster early experience in collaborative work, as well as team-based technical expertise.

We advocate for the establishment of specialised working groups to encourage digital undertakings and to allow cross-disciplinary research. Institutions need to support this by creating a scientific ecosystem for Digital Humanities practitioners, including:

  • trusted Open Access platforms
  • long-term archives and technologies and infrastructures for the long-term archiving of research publications and research data in combination with an Open Access and Open Data policy
  • database and software infrastructures (e.g. Big Data and Linked Data applications)
  • efficient tools for the digitisation of analog sources
  • search engines and metadata tools which facilitate the findability, contextualisation and evaluation of digital media
  • promotion of open educational resources and Creative Commons licenses

Scholarly blogging, activities in social media and reviewing in non-traditional formats must be officially recognised and encouraged. Research institutions should provide expertise and training to ensure that the following skills are available: use of social media in research and public communication, encoding, website management, database construction and multimedia editing. All professionals involved must also have sufficient knowledge of legal questions, with particular regard to traditional copyright and open licenses.

III. Funding agencies

It is important that funding agencies take into consideration the needs of scientific communities, since they decide which digital projects, institutions and infrastructures are supported and how their results are evaluated. Funding agencies need to be aware that digital projects, especially when they include a website, never really end: continuous support beyond the initial funding period is essential (e.g. for server costs and technical maintenance).

We need funding agencies to build specific programs to support collaborative research across national borders, sustainable research infrastructures and practical training in the use of digital research tools.

We need funding agencies to develop new evaluation procedures, which take into account both digital formats and digital qualifications.

  • Peer-reviewed texts in print journals can no longer be the only publications to be considered in application and proposal procedures. Various practices of digital scholarly communication, reviewing and publication must be recognised and encouraged.
  • The evaluation of Digital Humanities projects should take new criteria into account: scientific quality, technical quality and usage.
  • The traditional circle of reviewers needs to be broadened: experts on digital media, computer scientists and engineers have to be included in order to allow reliable evaluation.
  • Funding agencies should integrate open peer review and open commentary in their assessment procedures.

 What’s next?

Practitioners and observers often regret the slow pace at which infrastructures evolve. While a new research culture is being established, in which the value of digital means and methods will be fully acknowledged, positive action must be taken to adapt academic structures to new research practices. This is a fundamental and very concrete task for everyone, in each academic field and discipline. We can all contribute to this common reinvention.

The first signers were the participants (on-site and online) of the conference “Research Conditions and Digital Humanities: What are the Prospects for the Next Generation?”. To support the manifesto, please leave a comment below.

Pascal Arnaud
Anne Baillot
Aurélien Berra
Dominique Boullier
Thomas Cauvin
Georgios Chatzoudis
Arianna Ciula
Camille Desenclos
André Donk
Marten Düring
Natalia Filatkina
Sascha Foerster
Sebastian Gießmann
Martin Grandjean
Franziska Heimburger
Christian Jacob
Mareike König
Marion Lamé
Lilian Landes
Matthias Lemke
Anika Meier
Benoît Majerus
Claudine Moulin
Pierre Mounier
Marc Mudrak
Cynthia Pedroja
Jean-Michel Salaün
Markus Schnöpf
Julian Schulz
Bertram Triebel
Milena Žic-Fuchs

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Photo: Yes we digital! by Martin Grandjean, CC-BY-SA.

Quelle: http://dhdhi.hypotheses.org/1855

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„Gutes Wetter – Schlechtes Wetter“ – Ein Überblick über die fertige Ausstellung (Teil 3)

In ihrem dritten Beitrag zu den Entstehungshintergründen der Sonderausstellung „Gutes Wetter – Schlechtes Wetter“ im Schwäbischen Bauernhofmuseum Illerbeuren gibt Gastautorin Jennifer Hofmann einen Überblick über die fertige Ausstellung. Der Besucher ahnt nichts von den aufwändigen und zeitintensiven Vorarbeiten, die hinter … Weiterlesen

Quelle: http://musermeku.hypotheses.org/313

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