Im Jahr 1532 stehen in Geislingen, einer Gemeinde im Landgebiet der Reichsstadt Ulm, Wahlen an. Die Bürger sollen neue Richter und einen Bürgermeister wählen. Doch die Mehrheitsverhältnisse bereiten Schwierigkeiten. Der Ulmer Rat fürchtet, dass erneut nur altgläubige Kandidaten Erfolg haben, die dann weiterhin das evangelische “Wort Gottes” behindern könnten. In der Folge entspinnt sich ein jahrelanger Konflikt um alte Rechte und alten Glauben. Ein Großteil der Geislinger Bürger wehrt sich mit den politischen Mitteln der Gemeindeverfassung und verteidigt diese in einem Atemzug mit den atlgläubigen religiösen Praktiken gegen die Ulmer Obrigkeit. Ulm hat Ende 1530 die Einführung der Reformation befürwortet. Jetzt soll die evangelische Ordnung auch auf dem Land durchgesetzt werden. Manche Gemeinden nehmen die evangelischen Kulturformen und Wissensordnungen schnell an, andere sträuben sich. Mancherorts formiert sich altgläubiger Widerstand – so interpretieren die Protestanten die Präsenz und die durchaus innovative Aktualisierung alter religiöser Praktiken. Zur Durchsetzung der evangelischen Kultur kommt es besonders auf die Haltung der lokalen Regierungen an. Der Ulmer Rat will deshalb in den Gemeinden seines Landterritoriums durchsetzungsfähige, obrigkeitstreue und evangelische Vögte, Pfleger, Pfarrer, Richter und Bürgermeister. Das ist leichter gesagt als getan. In Geislingen werden auf der Grundlage der Gemeindeverfassung von 1396 die Vögte als lokale Exekutivbeamte [...]
Wie wichtig war Religion in der Reformationszeit? Eine Beobachtung in der Grafschaft Lippe
Die Reformation und das nachfolgende konfessionelle Zeitalter gelten als Hochzeit der Religion. Gerade Religionshistoriker (von Kirchenhistorikern ganz zu schweigen) machen dabei ihr Forschungsgebiet gerne etwas unreflektiert zum bestimmenden Paradigma einer ganzen Epoche. Tatsächlich treten im 16. Jahrhundert europaweit durch die Glaubensspaltung Differenzierungen und “zcerteilungen” auf, welche die Gesellschaften gründlich umkrempeln und immer wieder zu Gewalt führen. Auch der Alltag, ja das ganze Leben werden vom Glauben und dessen Ritualen eingerahmt. Die reformatorischen Glaubensspaltugen bedeuten somit Differenz und Unsicherheit im Wichtigsten und Ewigen und müssten die Bedeutung der Religion noch weiter vergrößert haben. Dieser “Betriebsblindheit” der Religionshistoriker, die in der Konfessionalisierungsthese der 1980er und 1990er Jahre ihren Höhepunkt erreicht hat, möchte ich in der Folge eine kurze Beobachtung aus meinen aktuellen Forschungen entgegenhalten. Ich werde auf einer bestimmten, aber für die gesellschaftlichen Konflikte der Reformationszeit repräsentativen Plattform das weitgehende Fehlen religiöser Themen nachweisen. Zumindest mich hat dieser Befund etwas verblüfft und zu ein paar Relativierungen und Überlegungen motiviert, die womöglich nicht neu sind, aber im Forschungsalltag zu selten ins Bewusstsein gelangen. Es geht um die Fragen: War das 16. Jahrhundert wirklich eine Epoche der Omnipräsenz des Religiösen? Wurde die Gesellschaft von Religion oder vielleicht gerade vom Nicht-Religiösen verbunden? Im Rahmen meiner Fallstudie [...]
Fabien Lévy (Chambéry): Vorboten der Italienischen Kriege. Der Platz Genuas in den strategischen Planungen Frankreichs im 15. Jahrhundert
deutschsprachige Zusammenfassung des Vortrages vom 13. Mai 2013: Prodromes aux guerres d’Italie: la place de Gênes dans l’édifice stratégique français au XVe siècle
Mit dem berühmten Zug Karls VIII. 1494 nach Neapel schienen die Italienischen Kriege, in denen sich Franzosen und Spanier auf der italienischen Halbinsel gegenüberstanden, ganz unvermittelt zu beginnen. Ein Unternehmen, dessen Ruhm, Zeugnis der berühmten furia francese, ein katastrophales Abenteuer verschleierte, das mit der schmachvollen Rückkehr nach Frankreich endete. Dabei waren alle typischen „Zutaten“ der Italienischen Kriege bereits vorhanden: das ausgesöhnte Königreich Frankreich, ein ritterlicher König, umgeben von einem turbulenten Adel, den es im Zaume zu halten galt, militärisches Können und Truppen, wie sie nunmehr nur die großen Nationen aufbringen konnten, und schließlich und vor allem die offenkundige Anziehungskraft Italiens. Selbst die Niederlage, rasch in einen epischen Sieg umgewandelt, nahm die vielen weiteren Niederlagen vorweg, welche Frankreich auf der Halbinsel noch erleiden sollte.
Trotzdem war der Zug Karls VIII. nicht das Ergebnis einer plötzlichen Eingebung des Königs. Während des gesamten 15. Jahrhunderts, als es sich vorrangig mit England und Burgund auseinandersetzte, hatte Frankreich die italienische Halbinsel nicht vergessen. Jenseits des Getöses des Hundertjährigen Krieges wurde eine aktive Italienpolitik geführt. Der Weg, den die Franzosen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder nach Neapel nahmen, wurde über das gesamte 15. Jahrhundert hinweg vorbereitet und eingeübt. Der bemerkenswerte Platz, den Genua in diesem Abenteuer Karls VIII. einnahm, war kein zufälliger: Die Stadt am ligurischen Golf diente nicht nur als Sammelpunkt für einen Teil der französischen Truppen. Durch einen exorbitanten Kredit des Ufficio di San Giorgio und der Familie Sauli stellte sie auch die Finanzierung der Unternehmung sicher, bevor sie die französische Armee auf ihren Galeeren bis in den Golf von Neapel brachte. Diese strategische Stellung als Durchgangsstelle und maritimes wie finanzielles Zentrum war nicht das Ergebnis einer willkürlichen Entscheidung, sondern einer – wenngleich zögerlichen und diskontinuierlichen – Konstruktion, die über das gesamte 15. Jahrhundert hinweg aus Genua ein entscheidendes Zentrum in den strategischen Planungen Frankreichs machte.
Zwischen 1396 und 1512 stand Genua drei Mal unter französischer Herrschaft: von 1396 bis 1409, von 1458 bis 1461 und schließlich von 1499 bis 1512. Aus diesen Zeiten und den sie verbindenden Zwischenräumen lassen sich klar mehrere Entwicklungen ausmachen.
So fällt zuallererst das zunehmende königliche Interesse an Genua auf. In der Tat lässt sich feststellen, dass das Interesse am Besitz Genuas sich langsam von den Fürsten auf den König verlagerte. Die ersten französischen Herrschaften über Genua waren noch keineswegs der königlichen Macht geschuldet, sondern Konsequenzen der Machenschaften einzelner französischer Fürstenhäuser und ihrer italienischen Interessen. Die komplexe Situation in der Stadt und auf der italienischen Halbinsel ausnutzend, waren es 1396 und 1458 noch die Orléans und Anjous, die Genua in die Hände des Königs trieben. Seit den 1440er Jahren jedoch lässt sich seitens Karls VII. und seiner Nachfolger eine bewusste und zielstrebige Politik ausmachen, Genua in Besitz zu nehmen und zu regieren – wobei sie nicht zögerten, etwaig störende Fürsten hierbei beiseite zu schieben. Seitdem drängte sich Genau als Stadt mit offensichtlicher strategischer Bedeutung, derer sich die Krone bemächtigen wollte und musste, für sich selbst und um in Italien intervenieren zu können, geradezu auf. Genua wurde in gewisser Weise damit Teil der strategischen Planungen der französischen Krone, um dies fortan auch zu bleiben.
Diese Entwicklung erklärt sich einerseits durch die zunehmende Herausbildung Genuas zu einem maritimen und finanziellen Zentrum. Auch hier ist die Entwicklung chaotisch, stellten die Genueser doch schon seit langer Zeit den Franzosen immer wieder Armbrustschützen und Schiffe zur Verfügung. Während der drei französischen Herrschaftsphasen wurde Genua daher rasch den Anforderungen der Fürsten und später der großen Politik der Krone unterworfen, die bei ihren Unternehmungen unermüdlich immer wieder die gleichen Zielen verfolgte: die Landung in Neapel, der Kampf gegen Engländer und Spanier, die späten Kreuzzüge. Genua erschien hierbei unentbehrlich. Zuallererst durch seine finanzielle Macht: Die Kommune, v.a. aber der Ufficio di San Giorgio finanzierten diese Unternehmungen mehr oder weniger freiwillig. Und dann aufgrund seiner maritimen Kapazitäten: Frankreich ließ zahlreiche Schiffe in Genua chartern und auch bauen, um so seine eigenen Unzulänglichkeiten wettzumachen und mit seinen besser ausgestatteten Feinden zumindest gleichzuziehen.
Genua erweiterte damit die strategischen Möglichkeiten der Franzosen und erlaubte es ihnen, sich auf der italienischen Halbinsel einzubringen. Genua erschien wie ein französischer Brückenkopf in Italien, der über Land und über See einen einfachen Truppentransport ermöglichte. Vor allem lag von Genua aus ganz Italien offen: Mailand, Florenz und, etwas weiter, Rom wurden direkt bedroht, während die Genueser Flotte es gestattete, rasch den Golf von Neapel zu erreichen und Druck auf Venedig auszuüben. So entstand im Verlaufe des 15. Jahrhunderts allmählich ein französischer Weg durch Italien, der von Genua über Mailand, Pisa und die Toskana bis hin nach Neapel führte, und der später auch während der Italienischen Kriege wieder genutzt wurde. Mehr noch: Genua gestattete es der französischen Monarchie, die Halbinsel zu verlassen und seine Kreuzzugsträume zu verwirklichen, indem es ihr mit seiner Flotte und seinen Kontoren die Wege in den Osten öffnete.
Im Endeffekt schlug sich die zunehmende strategische Bedeutung Genuas für Frankreich auch in juristischen und institutionellen Entwicklungen wieder, welche aus Genua eine französische Stadt machen sollten. Im Laufe des 15. Jahrhundert vervielfachte sich die Zahl der juristischen Traktate, welche die Zugehörigkeit Genuas zur französischen Krone bewiesen, und auch im Sprachgebrauch schlug sich nieder, dass aus den Genuesen wahrhafte und gute Untertanen Frankreichs werden sollten.
Der Platz und die Bedeutung Genuas in den strategischen Planungen Frankreichs im 15. Jahrhundert verkörpert damit in perfekter Weise das Vorspiel zu den Italienischen Kriegen. Die Stadt erschien zunehmend als das französische Tor nach Italien, Janua Janua Italiae, deutlich machend, dass die Italienischen Kriege in keiner Weise ein spontaner Prozess, sondern eine von langer Hand vorbereitete und strukturierte strategische Bewegung waren.
Übersetzung: Torsten Hiltmann, Georg Jostkleigrewe
Informationen zu Fabien Lévy: hier
Zum Programm im Sommersemester 2013: hier
Die Gefahr hinter dem Rücken der Priester
- Hauptstaatsarchiv München, Kurbayern Äußeres Archiv, 4246, fol. 5r-6v.
- Ibid, fol. 5r-5v.
- Siehe die aktuellen Forschungen zum konfessionellen Konflikt um Begräbnisstätten im 16. und 17. Jahrhundert: Luria, Keith P.: Les frontières du sacré, in: Chrétiens et Sociétés 15 (2008); Karant-Nunn, Susan C.: The Reformation of Ritual. An Interpretation of Early Modern Germany (Christianity and Society in the Modern World), London/New York 1997, 133-182; Koslofsky, Craig: ‘Pest’ – ‘Gift’ – ‘Ketzerei’. Konkurrierende Konzepte von Gemeinschaft und die Verlegung der Friedhöfe (Leipzig 1536), in: Jussen, Bernhard/Ders. (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch, 1400-1600 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 145), Göttingen 1999, 193-208; Brademann, Jan/Freitag, Werner (Hg.): Leben bei den Toten. Kirchhöfe in den ländlichen Gesellschaften der Vormoderne (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 19), Münster 2007. Aktuell zu Sterbekulturen in der Frühen Neuzeit vgl. Thiessen, Hillard von: Das Sterbebett als normative Schwelle. Der Mensch in der Frühen Neuzeit zwischen irdischer Normenkonkurrenz und göttlichem Gericht, in: HZ 295 (2012), 625-659.
- Burg, Christian von: “Das bildt vnsers Herren ab dem esel geschlagen”. Der Palmesel in den Riten der Zerstörung, in: Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte, hg. v. Peter Blickle (HZ Beihefte 33), München 2002, 117-141, hier 133.
Religiöse Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert
Selten wird in der westeuropäischen Religionsgeschichte die Frage nach der Zeitlichkeit so brisant wie in der Reformationszeit. Es ist eine eschatologische, ja apokalyptische Zeit. Für die einen ist der Antichrist schon auf Erden, nämlich als römischer Papst. Für die Anderen bringen die lutherischen “Vorläufer des Antichristen” den Zorn Gottes und das Ende der Welt näher. So oder so, die Welt dreht sich schneller.
Drachen und Tiere aus der “Cloister Apokalypse” (1405-08). Metropolitan Museum of Art, New York.
Und überhaupt: die Veränderungsfrage. Selten zuvor und danach war sie so stark zeitlich aufgeladen. Veränderungen finden in der Religion des 16. Jahrhunderts statt, das ist allen Beteiligten klar. Nur der Ort und die Bewegungen der Zeitlichkeiten sind umstritten. Die Altgläubigen sehen sich als die, die beim alten Glauben – das heißt dessen Praktiken und materiellen Artefakten – bleiben. Sie bleiben in dieser Sicht in einer linearen und weder veränder- noch entwickelbaren zeitlichen Kontinuität der Religionskultur. Die halten sie für legitimiert durch die Praktik seit “uralten” Zeiten. Dabei ist ihnen nicht klar, wie sehr sich die Sinnzuschreibungen, (nun zusätzlich z.B. Konfessionen distinguierende) Bedeutungen und sicher auch Inszenierungen der tatsächlichen Praktiken verändern und nuancieren. So wird selbst-wahrgenommene Konservierung beim Blick auf das gesamte soziale Feld ebenso zur Aktualisierung.
Und natürlich kollidiert diese Zeitkultur der Altgläubigen mit jener der evangelischen “Neuerer”. Doch die verwehren sich gegen den Vorwurf der Neuheit. Im Gegenteil, sie sehen die Papisten als die wahren Neuerer, denn die hätten die urchristliche Religion mit neuen “Aufsetzungen” und “Zusetzungen” immer mehr auf die schiefe Bahn gebracht. Die Reformatoren wollen durch Veränderung bzw. “Reform” zurück zum reinen, alten, wahren Christentum, basierend auf dem “puren, lauteren Wort Gottes”. Sie sehen in den Praktiken der Christen um 1500 keine zeitliche statische Kontinuität des wahren Christentums, sondern gehen von einer stattgefundenen, qualitativen “Verschlechterung” der Religion im Fortschreiten der Zeit aus. Das macht die zeitliche Rückkehr zur wahren, alten Religion nötig. Oder vielmehr: das Wahre, Alte soll in das Jetzt geholt werden.
Nicht nur aus historischer Sicht, sondern auch in der Selbstsicht der Akteure finden im 16. Jahrhundert also “Gleichzeitigkeiten” (Achim Landwehr) bei den Zeitauffassungen statt. Altgläubige und Protestanten, ganz zu schweigen von den “radikalen” evangelischen Gruppen, leben gleichzeitig in verschiedenen, sich mitunter auch gezielt wiedersprechenden religiösen Zeiten. Und da sich Zeitlichkeiten als kulturelle Konstrukte immer dann besonders schnell wandeln, wenn sich die Kulturen, die sie hervorbringen, schnell wandeln, sind auch die Aktualisierungen der religiösen Zeitlichkeiten im 16. Jahrhundert besonders schnell – und unterschiedlich, ja gezielt antagonistisch.
Es findet eine beschleunigte Aktualisierung und Diversifizierung der Zeitkulturen statt. Diese sind dabei so plural und wiedersprüchlich wie auch der Ort von Zeit und Kultur: der Mensch.
WikiDrucke für das 16. Jahrhundert
Hinter diesem Link verbirgt sich ein neues und, wie mir scheint, durchaus interessantes Projekt. Es handelt sich um ein Wiki, das heißt eine kollaborative Plattform mit wissenschaftlichem Anspruch. Darauf entsteht eine Art Repertorium für die Drucke des 16. Jahrhunderts, das erstmalig Beschreibung der Quelle, Informationen zu den Autoren und den Standorten der Quelle, Inhaltsübersicht, historische Einordnung und weiterführende Links – etwa zu Digitalisaten – verbindet. Initiiert wurde die Plattform von Walter Behrendt (Universität Mailand-Bicocca).
Ist diese Plattform eine Möglichkeit, ein neues, umfassenderes Repertorium von (Flug-)Schriften des 16. Jahrhunderts – auf kollaborative Art – zu erstellen?