“Proust und die Farben in der Materialität der Literatur” – Prof. Dr. Hendrik Birus zu Gast beim GRK1678

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“Stack of book bottoms” by Kristy / CC BY-NC-SA 2.0

Die Materialität der Literatur wird vielfach gerade dort sichtbar, wo im eigentlichen Sinn nicht von ihr die Rede ist. Diese Eigenheit der Literatur zeigte eindrücklich der Vortrag “Proust und die Farben in der Materialität der Schrift“den Prof. Dr. Hendrik Birus am 21. Oktober 2014 im Rahmen eines von Prof. Dr. Vittoria Borsò organisierten Workshops gehalten hat. Die Veranstaltung war aber nicht nur in thematischer Hinsicht ein Gewinn. Vielmehr profitierten wir auch in einem offenen Gespräch mit Hendrik Birus über das akademische Leben von seiner langjährigen Erfahrung.

 

Prousts sparsamer Farbgebrauch

Anders als die Literatur der décadence, für die eine detailreiche und materialverliebte Farbgebung geradezu charakteristisch ist, koloriert Proust seine Texte – trotz zeitlicher wie ästhetischer Nähe zum Fin de siècle – mit Zurückhaltung. In der Recherche hält sich Proust mehrheitlich an die Farben blau, grün, gelb, orange, rot, rosa und violett. Zuweilen benutzt er spezifische Farbtöne wie golden, silbern oder mauve. Auch die Malerei erhält eine andere Funktion in Prousts Prosa, als sie in Werken von Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde besaß. An der Malerei, der Farbkunst schlechthin, interessieren z.B. den Erzähler der Recherche mehr als die Farb- und Lichtästhetik die physiognomischen und gestischen Analogien zwischen den Romanfiguren und den Porträts. So weit die erste Bestandsaufnahme, die Birus mit stupender Werkkenntnis machte.

Proust verwahrt sich, so Birus weiter, sehr bewusst gegenüber der realistischen, ja materialistischen Ekphrasis der décadence. Der Grund für seine ablehnende Haltung gegenüber einer ›malerischen‹ Prosa sind die Materialien der Künste und ihre Wahrnehmung durch den Rezipienten, die Proust für grundverschieden hält: Es sei irrig zu glauben, “que l’homme serait plus heureux, capable d’une poésie plus haute, si ses yeux étaient susceptibles de voir plus de couleurs […].”[1] Trotz Prousts kritischer Haltung wäre es falsch anzunehmen, dass seine Texte ‘farblos’ seien. Im Gegenteil, die Farben besitzen bei Proust narrativen und dichtungstheoretischen Bedeutung.

Die Differenz der Wiederholung

Ein Bereich, in Proust Farben einsetzt, ist die Personen- und Milieucharakterisierung. So sind Odette und Albertine zwei ‘rosa Damen’, deren Körper, Kleider oder Dekorationen immerzu diese Farbe besitzen. Größere Gesellschaften sind dagegen von einem indifferenten Grau, lediglich kontrastiert durch einige Farbtupfer weiblicher Figuren. Birus verglich diese Technik mit Wagners Leitmotiv und betonte im gleichen Atemzug, dass es sich hier nicht um simple Wiederholungen von attributiven Zuschreibungen handelt. Mit Blick auf die Wahrnehmung des Lesers müssen die Wiederholungen im Sinne von Déleuze als ständige Ausdifferenzierungen gelesen werden. Zu den differenzierenden Eigenschaften der Wiederholung in der literarischen Zeitstruktur hätte ich gerne mehr erfahren, doch dazu zum Ende dieses Berichts mehr.

Poetik der Namen

Birus schlug zunächst eine andere Richtung ein und wandte sich einem seiner Spezialgebiete zu: die Poetik der Namen. Eigennamen besitzen in Prousts Werk eine doppelte Funktion. Sie bezeichnen zum einen ein tatsächlich Existierendes und eröffnen zum anderen einen imaginären Raum, in dem sich die Triebhaftigkeit der Einbildungskraft mit den Mitteln des Traums verwirklichen kann. Dazu ist es unabdingbar, dass zwischen dem Wahrnehmenden und dem Objekt eine räumliche oder zeitliche Entfernung existiert, weil die Einbildungskraft – und somit die Kunst – nur in der Distanz ihre Wirkung entfalten kann. Eine weitere Voraussetzung für die Poetik der Namen ist, wie Birus allerdings erst später im Zusammenhang mit Prousts Stil ausführte, das berühmte mémoire involontaire. Zugespitzter, als Birus es selber formulierte, ließe sich sagen, dass die Einbildungskraft nach Proust durch das regulierende Bewusstsein gehemmt wird und daher nur die plötzliche und nicht willentlich gesuchte Erinnerung ihre Macht entfesselt.

Farbige Namen im Resonanzraum der Literatur

Was haben aber Namen und Farben miteinander zu tun? Nun, erstens gebraucht Proust anlässlich erinnerter Stadtnamen ein Spektrum an Farben, die in seinem Werk ihresgleichen suchen[2], zweitens formuliert er in einem Brief an Prinz Antoine Bibesco im November 1912 den Zusammenhang zwischen Erinnerung und Bewusstsein mit einem Maler-Gleichnis. Proust stellt fest, dass ‘unser bewußtes Gedächtnis so malt wie die schlechten Maler ihre Bilder: mit unechten Farben’.[3] Das Wirkliche und damit auch die Farben, die Proust sucht, liegen außerhalb der Zeit und entsprechen einer verborgenen ‘essence des choses’[4], die nicht einfach durch bewusstes Sehen erscheint. Diese Essenz der Dinge, die zugleich wirklich wie augenblickslos, ideell wie konkret ist, materialisiert sich – oder genauer : wird erfahrbar – im Kunstwerk, in dem die sinnliche Wirklichkeit und die Einbildungskraft frei nach Schiller ein Spiel miteinander eingehen.

Aber damit diese Essenz der Dinge in der Literatur aufscheinen kann, muss der Schriftsteller nach Proust auch den richtigen Stil besitzen. Die positivistische Detailtreue entspricht diesem Stil nicht, wie Proust wiederum im Vergleich mit dem Malen ausführt: ‘[…] le style pour l’écrivain aussi bien que la couleur pour le peintre est une question non de technique mais de vision. Il est la révélation, qui serait impossible par des moyens directs et conscients, de la différence qualitative qu’il y a dans la façon dont nous apparaît le monde, différence qui, s’il n’y avait pas l’art, resterait le secret éternel de chacun.’[5] Die Wirklichkeit muss also, so könnte man schließen, im individuellen Sehen des Schriftstellers, das sich maßgeblich in und durch die Materialität der Sprache bildet, umgewandelt werden. Erst dann scheint das Wahrnehmen – und nicht die Wahrnehmung, wie Vittoria Borsò in der folgenden Diskussion zu Recht betonte – auf.

Nur die Materialität der Literatur ermöglicht bei Proust diese genuin ästhetische Vermittlung des Wahrnehmens, wofür Birus auch ein schönes Beispiel zitierte. Proust notiert sich zu Gérard de Nervals Silvie folgende Worte: “La couleur de Sylvie, c’est une couleur pourpre, d’une rose pourpre en velours pourpre ou violacée […]. À tout moment ce rappel de rouge revient, tirs, foulards rouges, etc. Et ce nom lui-même pourpré de ses deux i : Sylvie, la vraie Fille du Feu.”[6] Erst im Resonanzraum der Literatur können die i’s von ›Sylvie‹ purpurn werden, lautete das einleuchtende Fazit von Birus.

Weitere Perspektiven

Der material- und kenntnisreiche Vortrag des leidenschaftlichen Lesers Hendrik Birus beleuchtete Prousts Verhältnis zu den Farben, ein Thema, das bisher in der Forschung eher wenig beachtet wurde. Dennoch zeigte die Diskussion, dass Prousts Farben noch nicht erschöpfend behandelnd wurden. Vielmehr kann Birus’ Proust-Lektüre zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen genommen werden. Zu kurz gerieten nach meinem Geschmack die Ausführungen zur Materialität der Literatur. Prousts Umgang mit Farben weist auf eine Souveränität der Schrift gegenüber anderen Künsten wie der Malerei oder der Musik, wie Prof. Dr. Roger Lüdeke u.a. bemerkte. Ergänzend könnte hier noch hinzugefügt werden, dass die Souveränität und die Materialität der Schrift nach Birus’ Darstellung in Prousts Werk nur negativ ausformuliert werden. Die genuine Materialität der Schrift scheint bei Proust durch ihre Differenzierungsfunktion bestimmt zu sein – z.B. als Differenz zur Malerei, als Differenz in der Zeit oder als Differenz im Material. Die Differenz im Material lässt sich besonders gut an Birus’ letztem Beispiel ausführen. Das Medium der Literatur, die Schrift, ist nämlich in seiner materiellen Eigenschaft selber hybrid: Die Schrift ist zugleich visuell und akustisch, weswegen Proust bei ‘Sylvie’ erstens zwei ‘i’ lesen kann, die er zweitens auch noch in purpurner Farbe ‘sieht’.

Weitere Anschlussmöglichkeiten bieten der zeitliche Kontext sowie andere methodische Zugänge zum Werk. An einem sehr schönen Textbeispiel aus der Recherche, das die wechselnden Ansichten eines Sonnenaufgang während eine kurvigen Zugfahrt erzählt[7], führte Birus Prousts Polyperspektivismus vor, der an den Kubismus in den 1910er Jahre erinnert. Da die Zugfahrt um 1900 auch ein erkenntnistheoretisches Dispositiv darstellte, das zudem durch den medialen Umbruch zum bewegten Kinobild geprägt war, könnte hier weiter gehend gefragt werden, ob die Sprache nicht ‘technisch’ wird bzw. die Technik der literarischen Sprache eingeschrieben ist. Martin Bartelmus schlug des Weiteren vor, Prousts Farben in Anlehnung an Latour nicht als Zwischenglieder zu lesen, die schlicht eine kausale oder referenzielle Funktion haben, sondern als Mittler, die im Text zum agens werden und ganz bestimmten Handlungsformationen generiert. Thomas Krämer dagegen verband Prousts Poetik mit Derridas supplément. Der konstitutive Bedeutungsüberschuss des Zeichens würde in dieser Lesart die verlorene Zeit einholen können.

 

Promotion als Hürdenlauf

Trotz dieser Ergänzungen und Anschlussmöglichkeiten führte die Diskussion des Vortrags nochmals vor Augen, wie gehaltvoll und inspirierend die Ausführungen von Hendrik Birus waren. Die Diskussion war auch ein gutes Beispiel für seine Offenheit, die eigenen Thesen unvoreingenommen zu diskutieren. Zuletzt entwickelte sich ein Gespräch über die nicht immer einfache Promotionszeit. Es tat sicherlich einigen TeilnehmerInnen gut, von einer solch verdienten akademischen Persönlichkeit zu hören, dass die Widerstände und Krisen einfach dazugehören, ja sogar die Voraussetzung für eine gute Arbeit sind. In seinen Worten entspricht die Promotion in einem Graduiertenkolleg einem “Hürdenlauf” – aber wohl eher einer über 400 als über 110 Meter, möchte man anfügen.

 

 

[1] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu III, Paris 1988, S. 912.

[2] Gemeint ist hier die erinnerte Kindheitssehnsucht der Fahrt mit dem ›Einuhrzweiundzwanzig-Zug‹ nach Balbec. Vgl. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu I, Paris 1987, S. 381f.

[3] Proust an Prinz Antoine Bibesco, [November 1912], in: Marcel Proust, Briefe zum Werk, Frankfurt a.M. 1964, S. 210.

[4] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu IV, Paris 1989, S. 450

[5] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu IV, Paris 1989, S. 474.

[6] [Gérard de Nerval], in: Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, Paris 1971, S. 232-242.

[7] Marcel Proust, À la recherche du temps perdu II, Paris 1988, S. 15f.

Quelle: http://grk1678.hypotheses.org/155

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